Hilde Sturm

Zerbrechliche Ichbrücken


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mich her, weil ich so nicht arbeiten kann. Nehme Zettel und Kuli und schreibe. Sie wartet bis ich fertig bin. So, das stimmt:

       ‚Ich möchte keine Angst mehr haben!

       Mit anderen reden können!’

       Ich versuche zu sprechen. Ihr Interesse zwingt mich irgendwie, ich will reden: „I..I..Ich möchte sprechen“. Stottere und krächze. Sie will alles von mir wissen, sonst kann sie mir nicht helfen. Bin 35, jetziger Beruf Kindergärtnerin. Soll Lebenslauf schreiben. Habe sie gleich geärgert, in die Gruppe gehe ich nicht, habe den Kopf geschüttelt. Dann will sie mich mit einem Psychologen üben lassen, nee mach ich nicht. …. Wenn da was passiert .... so was, womit ich nicht klar komme.... Trotzdem .... sie blieb sachte, hat mich dazu gekriegt, dass ich doch versprochen habe, in die Gruppe zu gehen. Brauche auch nichts zu sagen. Ich habe mich glatt untersuchen lassen! Unheimlich blöd, so, fremde Hände auf der Haut.... Warme Hände hat sie, weiche Hände, tun nicht weh. Komme mir wieder so albern vor. Und dann das Allerblödeste. Sie fragt nach Medikamenten. Ohne Tabletten kann ich nicht leben, die Angst bringt mich um. Sie fragt, was ich nehme und wie viel. Schreibe: ’Immer unterschiedlich, mal mehr, mal weniger Oxzapzetan, Protazin, Insidon’

       Fragt, ob ich alle verringern könnte. Schreibe ‚nicht’ neben Oxza, ‚ja’ neben Prota und Insidon. Wo ich die vielen Tabletten her habe? Zeige ihr drei Rezepte über 100 Tabletten von jeder Sorte. Sie hat gar nicht darauf reagiert, dass ich sie verschiedenen Ärzten abgeluchst habe. Aber dann sagte sie, jetzt dürfte ich nur die Medikamente von der Tagesstation einnehmen. Ich habe ihr die Rezepte gegeben. Bin ich blöd!

       Mi 24.2.1993

       Schon wieder ein Gespräch. Gebe den Lebenslauf ab, habe schnell geschrieben, was mir einfiel, nur Schlechtes. Sie hat alles gleich durchgelesen. Sich Notizen gemacht. Sie nimmt mich ernst! Wirklich. Zu meinen Eltern quetsche ich heraus, dass ich sie hasse. Dann kann ich nicht mehr sprechen, wieder Zettel. Sie wollte wissen, wie der erste Tag auf Station verlaufen ist. Es war schwer, mit den anderen in einem Raum zusammen zu sein. In der Gruppe war ich 15 Minuten, dann musste ich raus. Sie erklärt mir den Sinn von Stationsausflügen. Klingt mir ein bisschen zu schön. Diese Woche gehen alle zum Kegeln. Find ich blöd. Ich traue mich nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Habe Angst vor Kellern, das Kegeln soll aber oben sein, im Hellen.

       Fr 26.2.1993

       Zettel an Schwester Oda: ‚Ich kann nicht zu der Ärztin, ich habe Angst!’

       Habe ein schlechtes Gewissen, das schreibe ich nicht. Schon bin ich im Arztzimmer. Gebe ihr gleich einen Zettel von heute früh, musste das schreiben.... Bin so durcheinander ....

       ‚Ich war gestern bei meiner Psychologin in der Friesenstraße. Ich glaube ich habe mich total übernommen hierher zu kommen. Eine Ewigkeit brauche ich, ehe ich durch den langen Gang komme. Die Angst ist einfach zu groß, kann nicht dagegen ankämpfen. Zu lange lebe ich schon isoliert, ich habe vor allem Neuen Angst. Ständig habe ich Selbstmordgedanken, weil ich mein Leben nicht packe. Für mich ist es schon ein Fortschritt, ganz allein hierher zu kommen, ohne dass mich jemand zwingt Dinge zu tun, die ich nicht möchte. Seit 3 Monaten kann ich kaum was essen, vor jedem Essen bin ich schon satt, mit Müh und Not zwinge ich mir was rein. Mir geht es zwar weitaus schlechter, aber wie Sie sehen, habe ich die Woche doch ganz gut über die Runden bekommen. Vor dem Wochenende habe ich Angst. Meine Tochter ist ab heute Abend nicht da, ich habe Angst, dass ich wieder was anstelle’.

       „Dann bleiben Sie am Wochenende am besten hier mit Übernachten in einem Urlauberbett!“

       „Muss ich dann auf eine andere Station?“

       „Das ist leider nicht zu vermeiden. Die Tagesstation ist am Wochenende nicht offen.“

       „Nein, auf eine andere Station gehe ich nicht.“

       „Sie müssen ja nicht, das war nur ein Angebot. Haben Sie auch zu Hause Angst, wenn Sie allein sind?“

       „Mmh, ja.“

       „Aber Sie wollen lieber die Angst zu Hause ertragen als auf eine neue Station?“

       „Ja“.

       „Wie lange sind Sie jetzt schon krankgeschrieben?“

       „Seit 8 oder 9 Monaten“.

       „Sie arbeiten als Kindergärtnerin?“

       „Ja.... im ‚Pittiplatsch‘, so hieß er früher .... jetzt ‚Sesamstraße‘.

       „Wie ging es denn so mit der Arbeit?“

       „Ich musste in einen anderen Kindergarten wechseln. Meine Chefin krittelte dauernd an mir rum, was ich alles anders zu machen habe nach der Wende. Irgendwann wurde ich wütend und habe ihr an den Kopf geknallt, dass sie für die SED und die Stasi gearbeitet hat. An die neuen Kollegen kann ich mich nicht gewöhnen. Die können mich nicht leiden. Die lassen mich nicht so arbeiten wie ich kann.“

       „Wie meinen Sie das?“

       „Mit den Kindern kann ich gut umgehen. Da kann ich reden und Spaß machen. Die haben mich auch lieb. Aber mit den Eltern kann ich nicht reden. Da haben mir früher die Kollegen geholfen. Die neuen interessiert das nicht. Wenn ich das nicht packe, dann wollen die mich weg haben.“ „Wenn Ihnen die Arbeit mit den Kindern solchen Spaß macht und die Kinder Sie brauchen, meinen Sie nicht, dass Sie es dann mit den Eltern wenigstens versuchen sollten?“

       „Wenn ich wieder zu dieser Arbeit muss, nehme ich mir den Strick!“

       „Sie wissen vermutlich selbst, dass Sie jetzt überzogen reagieren.“

       „…. “

       „Sie haben Probleme bei der Arbeit und mit Ihren Eltern.“

       „Ja.“

       Langsam spricht die Therapeutin weiter.

       „Ich muss Sie und die Entwicklung Ihrer Störung gründlicher kennen lernen. Erst nach und nach werden wir beide Ihre Symptome ausreichend erfasst haben. Wenn die Diagnose einigermaßen sicher ist, kommt eine analytisch orientierte Psychotherapie in Frage.“

       „Was ist das?“

       „Eine auf dem Wissen über unsere innerseelische Struktur basierende Gesprächstherapie. Über die einzelnen Hypothesen, also wissenschaftliche Annahmen, gebe ich Ihnen in den jeweiligen Gesprächen Auskunft. Wären Sie unter dieser Bedingung einverstanden?“

       „Ja.“

       „Wenn in einigen Wochen das Wichtigste geklärt ist, werden wir über die Fortführung oder eine zusätzliche Behandlung sprechen.“

       „Ich hab nicht gedacht, dass das so kompliziert ist.“

       „Was wissen Sie über Ihre Diagnose?“

       „Hm .... eigentlich nichts.“

       „Zunächst kann ich nur die Vermutung Ihrer Ärztin für ziemlich wahrscheinlich halten, nämlich, dass Sie an einer Persönlichkeitsstörung mit der Bezeichnung Borderline leiden. Deutsch heißt das einfach Grenzfall, im Grenzbereich.“

       „Grenze?“

       „Gemeint ist, im Grenzbereich zwischen mehreren Krankheiten.“

       „....?“ Simone seufzt beeindruckt.

       „Am besten, wir klären die Zusammenhänge dann, wenn Störungen, Probleme oder Symptome auftauchen.“

       „....“ Zweifelnder Blick.

       „Nun muss ich Sie noch über die Folgen aufklären. Erst der zu erwartende Nutzen: die Beseitigung oder Minderung von Angst, von Unsicherheit, aber auch von eigenen Fehlhaltungen.“

       „Wie soll das gehen....?“

       „Indem Sie mit ganzer Kraft mitarbeiten. Es gibt aber auch ein Risiko: Ihr Zustand kann sich verschlechtern: wenn Sie etwas falsch verstehen und nicht darüber sprechen oder etwas Wesentliches verbergen. Wichtig ist also, alle Angaben wahrheitsgemäß zu machen und nichts Wesentliches zu verschweigen.“

       „.... “

       „Ich denke, wir sollten drei, höchstens vier Mal in der Woche jeweils eine Stunde miteinander sprechen.“