Hilde Sturm

Zerbrechliche Ichbrücken


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die mich ruft.... Ich möchte beschützt werden, Ruhe haben.... Da wäre Frieden für mich.“

       „Meinen Sie, wenn Sie das ‚Dunkle’ sagen, den Tod?“

       „Ja.“

       „Was verbinden Sie denn mit dem Tod?“

       „Ruhe und Frieden.“

       „Das klingt positiv. Aber bedenken Sie auch, dass der Tod irreversibel ist, dass mit dem Tod die Existenz ausgelöscht ist und Sie Ihre Jana dann nie wieder sehen, fühlen und trösten können.“

       „Ich weiß nicht. Meine Großmutter lebt irgendwie. Ich höre sie oft rufen.“

       „Wenn Ihre Großmutter gestorben ist, dann existiert sie nicht mehr.“

       „Sie liegt im Grab und wartet auf mich.“

       „Sie ist begraben worden, sie lebt nicht mehr. Sie haben früher recht gut verstanden, dass Ihr Wellensittich tot war. Warum können Sie das bei Ihrer Großmutter nicht anerkennen?“

       „Sie gehörte zu den Zeugen Jehovas .... sie hat mir viel erzählt. Irgendwie denke ich, dass es sie noch gibt.“

       „Hängt das mit dem Glauben Ihrer Großmutter zusammen?“

       „Ja.“

       „Hat sie Sie von ihrem Glauben überzeugt und heimlich taufen lassen?“

       „Nein, ich gehöre nicht dazu. Aber ich denke immer, sie kann mich doch nicht angelogen haben.“

       „Wie meinen Sie das?“

       „Sie sprach von einer ‚neuen Welt‘. Ich weiß nicht so genau, was das ist.“

       „Wegen einer Patientin, die durch ihren Glauben in eine schwere Krise geraten war, musste ich mich mit den religiösen Vorstellungen und der Organisation der Zeugen Jehovas befassen. Nachdem ich einiges gelesen hatte, konnte ich die Patientin besser verstehen. Die Zeugen Jehovas gehören zu den problematischen Sekten mit extremer Beeinflussung des Privatlebens ihrer Mitglieder. War das Leben Ihrer Großmutter gänzlich vom Glauben bestimmt?“

       „Ja, vorwiegend.“

       „Sie wissen, dass die Sekte in der DDR verboten war?“

       „Natürlich, ja.“

       „Das hat das Leben Ihrer Großmutter sicher nicht leichter gemacht. Die Zeugen haben hier in der Illegalität gelebt und Angst vor Entdeckung gehabt; denn sie wurden hart bestraft. Andrerseits - überall in der Welt müssen die Mitglieder für die Sekte große Opfer bringen, sonst werden sie vom Vorstand, der Wachtturmgesellschaft, ‚mangelnder Wertschätzung‘ bezichtigt. Opfer an Zeit, Arbeitskraft und Geld: ständiges Lernen der neusten Bibelauslegungen, ständiges Predigen an den Türen zum Werben neuer Mitglieder, ständige Versammlungen, viel Lesen von zahlreichen und immer neuen Traktaten, die sie auch noch kaufen und wieder verkaufen müssen. Gleicht einer Ganztagsbeschäftigung mit Überstunden.“

       „Das stimmt, meine Großmutter hatte nicht viel Zeit, als ich ein kleines Kind war.“

       „Hat Ihre Mutter Ihnen erzählt, ob sie als Kind immer mit in die Versammlungen musste oder viel allein war?“

       „Ich glaube, sie war sehr viel allein.“

       „Hat Ihre Großmutter versucht, Ihre Mutter taufen zu lassen und als aktives Mitglied zu

       erziehen?“

       „Meine Mutter hasste das alles und hat nicht mitgemacht. Sie war streng zu mir, aber sie hat viel Zeit mit mir verbracht.“

       „Es wäre also möglich, dass Ihre Mutter Ihnen eine bessere Kindheit geben wollte als sie selbst eine hatte. Können Sie sich das vorstellen?“

       „Eigentlich nicht.“

       „Ist es ihr wenigstens gelungen, Ihnen das Alleinsein zu ersparen?“

       „Das ja. Aber sie verstand mich nicht. Meine Mutter war immer hart und streng zu mir.“

       „Ihre Mutter hat wohl nicht viel Zuneigung von ihrer Mutter erfahren, hat nicht gelernt, Gefühle aus sich herauszuholen und zuzulassen und schon gar nicht, sie auch zu zeigen.“

       „Das könnte wahr sein.... Komisch .... da bin ich nicht drauf gekommen, dass das zusammenhängen könnte.“

       „Die Sektenorganisation ist unmenschlich konsequent. Damit die ausgebeuteten Mitglieder bei der Stange bleiben, werden sie von den anderen Mitgliedern und den Vorgesetzten scharf kontrolliert. Bei Versäumnissen gibt es Mahnungen. Kritik am Vorstand ist verboten, kommt Gotteslästerung gleich und wird mit Ausschluss geahndet. Ausschluss ist die härteste Strafe, denn dann darf man am Tag des Weltuntergangs nicht in die ‚neue Welt‘ auferstehen, sondern muss sterben wie die Ungläubigen. Der Druck auf die Mitglieder ist so groß, dass alle ihre Familien, vor allem die Kinder vernachlässigen, weil sie die vielen Aufgaben nicht bewältigen können.“

       „Das habe ich nicht gewusst.“

       „Ich auch nicht. Aber dieses Wissen stammt von ehemaligen Mitgliedern, die es geschafft haben, die Organisation zu verlassen und darüber Bücher geschrieben haben. Ich weiß nicht, ob Sie erfahren haben, dass die Zeugen Jehovas Angst vor dem Tod hatten und auf die Endzeit mit Auferstehung warteten. Ich vermute, Sie haben den Eindruck bekommen, Ihre Großmutter sei in einem Paradies und winkt, kann das sein?“

       „Irgendwie so ähnlich.“

       „Das ist ein Missverständnis. Die Endzeit, der Weltuntergang, wurde immer wieder neu berechnet, zuletzt für 1914. Seitdem das nicht eintraf, ist der Vorstand vorsichtiger geworden und gibt kein Datum mehr an. Die Idee der Auferstehung sollte die Mitglieder fest an die Gesellschaft ketten.“

       „Ach, irgendwie verrückt.“

       „Mit dieser Verrücktheit macht die Sekte Geschäfte.“

       „.... “

       „Nun aber wieder zu Ihnen. Wenn Sie Ihre Probleme miteinander vergleichen, welches drückt Sie am häufigsten?“

       „So schnell kann ich das nicht sagen.“

       „Können Sie das Leben so akzeptieren wie es ist?“

       „....?“

       „Werden Sie auch mal enttäuscht?“

       „Eigentlich immer.“

       „Wie gehen Sie mit einer Enttäuschung um?“

       „Verstehe ich nicht.“

       „Was machen Sie, wenn Sie enttäuscht sind?“

       „Ich bin wütend. Verkrieche mich.“

       „Leider ist die Stunde heute um. Aber beim nächsten Termin wollen wir uns darüber unterhalten, wie man mit einer Enttäuschung fertig werden kann. Versuchen Sie, bis dahin darüber nachzudenken!“

       Arbeitsnotizen in Hannas Kladde

       Nachdem Simone Maurer aus der Tür ist, nimmt Hanna Leider ein abgenutztes Notizbuch aus der Kitteltasche. Muss mich beeilen, gleich Ärztekonferenz:

       Mo 1.3.93 Bisher nur zwei Borderliner selbst behandelt. Das machten sonst Kollegen der Psychotherapie-Station, die wegen Stasi-Tätigkeit eines Therapeuten plötzlich aufgelöst wurde. Welche Intrige diente wessen Interessen?

       Ohne Vorwissen wäre Simones Störung nicht zu verstehen. Vorwissen auch nur so hell wie eine Taschenlampe in einer riesigen Seelenhalle voller Psycho-Bruchstücke. Schwieriger Kontakt. Kein Mitschwingen. Sie ist einem nicht nahe, nicht fassbar. Da ist mir gegenüber etwas Wesenloses. Vermisse Festigkeit in der Meinung. Immer Ungewissheiten. Identität vermutlich nicht oder schattenhaft angelegt. Dazu Simone M. einiges fragen. Bei Otto F. Kernberg nachlesen. „Als-Ob“- Persönlichkeit (Helene Deutsch 1942). Borderline eben. Irrlichterei zwischen allen Diagnosen der Psychiatrie. Symptome flüchtig. Selbstzerstörerische Ich-Passion. Für Therapeuten immer schwierig. Simone hat uns durch ihre unverhüllte Suizidalität gezwungen, sie stationär aufzunehmen. Und auch noch zu ihren Bedingungen!

       Muss es wagen, die Behandlung ohne Supervision zu machen. Verlasse mich auf die Schwestern unserer Tagesstation,