Hilde Sturm

Zerbrechliche Ichbrücken


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Ungewohnt für sie.

       „Ein gewisses Maß an Angst und Aggression gehört zu jedem lebendigen Dasein. Damit werden wir alle geboren. Aber gesunde erwachsene Menschen bewältigen das normalerweise. Sie können Angst ertragen und Unmut einigermaßen bezwingen. Schwerarbeit für das Ich. Der Unterschied zwischen Ihnen und mir ist also nur graduell.“

       „Oft träume ich von Menschen ohne Kopf .... Als Kind habe ich ein anderes Kind von der Schulmauer geschubst. Das Mädchen ist auf der anderen Seite sehr tief hinuntergefallen und von einem Hund ins Bein gebissen worden. Ich habe wie gebannt zugesehen. Dann hatte ich furchtbare Schuldgefühle.... bis jetzt.“

       „Zuerst die Aggression und dann die Schuldgefühle zeigen an, dass Ihrem Ich die innere Balance fehlt. Mit Ihren Schuldgefühlen wollen wir uns in der nächsten Stunde auseinandersetzen.“

       Do 4.3.93 Gespräch

       Simone Maurer kommt heute ziemlich aufgeregt an. Sie sei gestern in ihrem Betrieb gewesen, hätte die Kündigung erhalten. Sofort telefonische Beratung mit unserer Sozialarbeiterin, Frau Laux. Wir besprechen unsere Einflussmöglichkeiten. Frau Laux will sich darum kümmern, meint, im Öffentlichen Dienst gäbe es ganz gute Chancen für Erfolg, mehr als in der Wirtschaft.

       Simone ist wieder einmal verletzt und enttäuscht. Ihr alter Hass sei hochgekommen. Sie habe spätabends dort Scheiben eingeschlagen und in der Nacht geträumt, sie habe sich ihre eigene Hand abgehauen. Sofortige Deutung als Entlastung: dieser Traum sei ein Symbol für Selbstbestrafung. Es wäre verfrüht, ihr die Annahme eines extrem strengen, sadistischen Über- Ichs verständlich machen zu wollen.

       „Wir haben noch ein Problem von gestern offen.“

       „Ich weiß nicht mehr.“

       „Am Ende der letzten Stunde erwähnten Sie, Sie hätten ein Mädchen die Schulmauer hinuntergeschubst. Sie sei auf das benachbarte Grundstück gefallen und von einem Hund gebissen worden.“

       „Ach das .... ja.“

       „Wie kam es zu dem Impuls von Ihnen, warum waren Sie auf das Mädchen wütend?“

       „Ich weiß nicht mehr genau.“

       „Was erinnern Sie? Wie hieß das Mädchen? Gehörte es zu Ihren Freundinnen?“

       „Ich hatte überhaupt keine Freundinnen. Das Mädchen hieß Beate. Sie war die Beste in der Klasse.... Sie war immer mit den anderen zusammen.... Die ließen mich nie mitspielen.... “

       „Es herrschte also eine Dauerspannung. Sie auf der einen, die anderen auf der anderen Seite?“

       „Ja ...., so ungefähr ....“

       „Was passierte dann?“

       „Die Lehrerin hat meiner Mutter Bescheid gegeben. Die hat mich bestraft.“

       „Bestraft?“

       „Sie hat tagelang nicht mit mir gesprochen.“

       „Wie haben Sie reagiert?“

       „Ich hatte Schuldgefühle, auch jetzt noch.“

       „....?“

       „Ich verstehe mich später selbst nicht mehr. Weiß dann nicht, wie ich so gemein sein konnte.“

       „Daraus entnehme ich, dass Sie eigentlich alles gut und richtig machen wollen.“

       „Ja .... schon ....“

       „Warum?“

       „Ist doch normal.“

       „Ja, wir wollen alle so brav sein, weil wir geliebt sein wollen. Von wem wollten Sie als Kind geliebt werden?“

       „Von meiner Mutter. So genau habe ich nie darüber nachgedacht.... Sie fragen Sachen.... aus mir raus .... “

       Um Simone nicht zu ängstigen, lacht Hanna leise bei ihrem nächsten Satz: „Aber dann kommt so ein innerer Rabauke, und aus ist es mit dem Musterkind? Könnte es so sein?“

       „Sie sind ja lustig!“ Über Simones Gesicht huscht ihr Spottlächeln. „Das .... gefällt mir.... da könnte was dran sein.“

       „Die Rabauken, das sind im Fachjargon die aggressiven seelischen Impulse. Solange sie ungehindert durchkommen, beherrschen wir uns selbst noch nicht genügend.“

       „Dann wäre ich.... nicht so viel schlechter als die Anderen? .... Kann ich nicht glauben.... nein ....“

       Fr 5.3.93 Gesprächsnotizen von Hanna Leider

       Simone Maurer schildert folgenden Traum: Sei auf einen Baum geklettert, um vor Menschen sicher zu sein. Der Ast, auf dem sie saß, sei abgebrochen. Sie sei in kalte Asche gefallen und erstickt.

       Deutung im Hier und Jetzt. Der Baum bin ich, die Therapeutin. Ich könnte Rettung und Hilfe bedeuten, aber Simone kann mir nicht vertrauen. Beim Gespräch über ihre Beziehung zu mir war Simone recht einsilbig.

       Hannas Kladde:

       6.3.93 22 Uhr Von Kindheit an gefährliche pathologische Verhaltensmuster. Ungleichgewicht zwischen Ich, Es und Über-Ich. Chaos mit Dominanz des sadistischen Über-Ichs. Das Ich ist schwach geblieben und kann die aggressiven Impulse des Es nicht scharf genug bremsen. Automatisch folgt antisoziales Verhalten (Katzenmord, Mauerstoß, zerschlagene Fensterscheiben). Dann Gewissensnot mit Strafträumen.

       Menschliche Beziehungen und die gesamte soziale Wirklichkeit erlebt sie chaotisch verdreht. Diffuse Ängste betäuben jede Vernunft. Ihre Sozialfilter funktionieren primitiv nach dem Schwarz-weiß- und Gut-Böse-Prinzip.

       Simone M. sucht Schutz bei uns. Sie leidet hellbewusst an Angst in allen Graden und an unkontrollierten Aggressionen. Ist sie auch in der Lage, die Hilfe, über die wir verfügen, aktiv anzunehmen und zu verarbeiten? Bis jetzt macht sie eher passiv mit. Über ihren Umgang mit Enttäuschungen hat sie gar nicht erst versucht nachzudenken. Ich fürchte weniger ihren Widerstand als um ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion, zur Innenschau. Das wäre der beobachtende Ich-Anteil in Funktion. Erst wenn sie das Wissen, das ich ihr gebe, aktiv aufnimmt und es mit ihren eigenen Erfahrungen verarbeitet, kann sie vorankommen, Lösungen selbst erkennen. Das Nachreifen solcher Fähigkeiten vollzieht sich langsam, mühselig, könnte Jahre brauchen. Aus Simones zeitweise wachem Interesse in den Stunden hoffe ich, dass sie dennoch profitiert. Will ihrem Ich Hoffnung geben, Kraft zuführen. Es bestätigen, wo es geht. Kernberg dazu aber skeptisch.

       Mo 8.3.93 Gespräch mit Hanna Leider

       „Nach allem, was Sie gesagt haben und nach Ihrem Verhalten scheint Angst Ihnen am meisten zu schaffen zu machen. Wann und wo haben Sie Angst?“

       „Immer .... überall.“

       „Ist die Angst in ihrer Intensität immer gleich oder doch wechselnd?“

       „Wechselnd.“

       „Und wann ist sie am intensivsten?“

       „Wenn ich allein bin.“

       „Allein im Wald haben viele Menschen Angst oder Unbehagen. Haben Sie auch Angst allein in der eigenen Wohnung?“

       „In der Wohnung, auf der Straße, überall.“

       „Was machen Sie dann?“

       „Ich setze mich ins Auto und fahre los. Nachts sind die Straßen frei. Wenn ich dann schnell fahre, so 160 Sachen, dann bin ich abgelenkt.“

       „Ist das nicht ein bisschen gefährlich? Wird Ihnen da nicht auf andere Weise mulmig?“

       „Anfangs vielleicht, aber irgendwann bin ich richtig high, dann geht es mir gut.“

       „Also ein Kick gegen die Angst. Und wie ist es, wenn Sie auf der Straße gehen am Tage, dann sind Sie ja meist nicht allein?“

       „Den Menschen auf der Straße weiche ich aus. Die Menschen sind schlecht, vor denen habe ich Angst.“

       „Sind Sie schon mal auf die Idee gekommen, dass diese Menschen so ähnlich sein könnten wie Sie und ich?“

       „Nein. Die grinsen mich höhnisch an. Die sind gefährlich und voller Hass.“