Hilde Sturm

Zerbrechliche Ichbrücken


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„....?“

       Eine Weile Schweigen. Ganz plötzlich redet sie los:

       „Ich war gestern sauer auf Sie .... wegen der Fragen. Die haben mir nicht gefallen.“

       „Was für Fragen?“

       „ .... “

       „Worum geht es?“

       „Gemein .... mir so was vorzuwerfen!“

       „Habe ich Ihnen etwas vorgeworfen?“

       „ .... Ich soll schwach sein.... Gemein ist das!“

       „Jetzt verstehe ich! Gut, dass Sie das so offen sagen konnten. Aber .... wenn ich Ihnen helfen soll, mit dem Leben fertig zu werden, muss ich das ansprechen, was nicht in Ordnung ist. Das tut manchmal auch weh. Aber das müssen Sie ertragen. Sie wollen doch, dass Ihre Angst abnimmt.“

       Simone fühlt sich besänftigt und sagt fast entschuldigend:

       „Früher habe ich noch nicht so viel Hass gehabt.“

       „Auch den Hass können Sie nur überwinden, wenn Sie ihn verstehen.“

       „Den werde ich nicht los, wenn ich weiß, dass ich meine Mutter hasse.“

       „Das stimmt, so einfach ist das nicht. Dafür müssen Sie Ihre verschiedenen Ich-Anteile aufeinander zu bewegen.“

       Simone runzelt zweifelnd die Stirn.

       „Arbeiten heißt bei Ihrem Problem, die eigenen inneren Vorstellungen verstehen zu lernen. Sie können das, und ich helfe Ihnen dabei. Wir wollen beide unsere Aufmerksamkeit auf die Vorgänge in Ihrem Inneren richten. Bei Ihren Träumen verstehen Sie auch schon einiges. Sie sehen unglücklich aus. Wovor fürchten Sie sich?“

       „Dass das alles zu hoch für mich ist.“

       „Das ist nicht hoch, sondern neu für Sie. Unser momentanes Thema heißt Dissoziation. Das ist ein abgespaltener Denkvorgang. Zuerst wollen wir uns darauf konzentrieren, unter welchen Umständen die Dissoziationen am häufigsten auftreten. Also, unter welchen Bedingungen kann man eine Dissoziation erwarten?“

       „Davor bin ich nie sicher.“

       „Sie haben erlebt, eine Dissoziation kann Sie jederzeit überfallen. Andererseits ist uns beiden klar, dass Sie sie manchmal herbeiwünschen und schon einige Schliche kennen, wodurch Sie leichter in diesen Zustand kommen.“

       „Ich? Ach wo ....!“

       „Erinnern Sie sich nicht an die dicken grünen Glasflaschen, die Sie so lange aneinander knallen, bis Sie weit weg sind? Oder die Bälle an die Wand schmettern – mit dem gleichen Effekt?“

       „Ach so .... Ja. Das stimmt.“

       „Dann müssen wir jetzt beide feststellen, dass Sie die Dissoziationen fördern können, also bewusst einsetzen können. Und was löst noch eine Dissoziation aus?“

       „Ich weiß nicht.“

       „Dazu stelle ich ein paar Fragen. Kommt diese Störung eher bei Langeweile, wenn Sie am liebsten schlafen würden oder eher, wenn Sie angespannt eine Lieblingsarbeit verrichten?“

       „Wenn ich angespannt arbeite, tritt das nie auf.“

       „Kommen die Zustände eher, wenn Sie sich freuen oder wenn Sie sich ärgern oder vor etwas Unangenehmen fürchten?“

       „Nie, wenn ich mich freue. Sehr oft bei Ärger oder schlimmen Erlebnissen.“

       „Wollen Sie die Dissoziationen los sein oder lieber weiter benutzen?“

       „Hm .... Weiß nicht ....“

       „Wenn Sie Ihre Ich-Schwäche überwinden wollen, dann müssen Sie die Dissoziationen aber loswerden.“

       „Das verstehe ich nicht.“

       „Ein Mensch hat gute und schlechte Seiten, auch jede menschliche Beziehung. Erst wenn Sie fertig bringen, zum Beispiel meine guten und meine schlechten Seiten zu verinnerlichen, miteinander zu verbinden und zu akzeptieren, dann brauchen Sie keine Aggressionen mehr gegen mich zu fürchten. Dann müssen Sie sich von meiner strengen Seite nicht mehr bedroht fühlen, weil Sie dann gleichzeitig wissen, ich bin gar nicht so böse. Jetzt nämlich haben Sie mich innerlich getrennt archiviert, einmal als die Gute und einmal als die Böse. Beide kommen Ihnen abwechselnd zu Bewusstsein. Ich bin ein ganzer Mensch mit guten und schlechten Seiten. So wie Sie auch. Stark wird Ihr Ich erst, wenn Sie mich und andere Menschen oder Tatsachen als Ganzes sehen. Können Sie mir folgen?“

       „Ein bisschen schon.“

       „Wir wollen uns in den nächsten Wochen auch auf die Integration entgegengesetzter Vorstellungen konzentrieren. Fast jede Realität hat zwei Seiten. Ich hoffe, ich kann Sie überzeugen.“

       „Das kann ich mir nicht so richtig vorstellen.“

       „Schade, dass wir gerade jetzt die Gespräche unterbrechen müssen. Vorige Woche habe ich Ihnen gesagt, dass ich zwei Wochen Urlaub habe. Frau Frühauf, die Psychologin der Station C, übernimmt meine Urlaubsvertretung bei Ihnen. Ich denke, Sie schaffen es, mit ihr weiterzuarbeiten.“

       „Ich weiß nicht.... Dann schönen Urlaub.“ .... Will keine Vertretung.... Will nur mit ihr sprechen. Sie versteht mich.... Sonst niemand. Immer allein, immer verlassen .... Scheiße!

       „Danke. Es tut mir leid. Sie sehen enttäuscht aus. Ich würde mich freuen, wenn Sie wenigstens die Tabletten und den Alkohol reduzieren könnten. Sie wissen, Auto fahren ist verboten.“ Pause. Hanna holt tief Luft. Ein Auftrag wird sie ablenken.

       „Und in zwei Wochen möchte ich gerne wissen, was Sie so erlebt und gedacht haben. Würden Sie dazu etwas für mich aufschreiben?“ Hanna sieht Simone fest an.

       „Ja.“

       „Das war ja positiv!“ Langsam, zögernd:

       „Ich habe Sie sehr gerne, ich werde sicher oft an Sie denken. Dann auf Wiedersehen.“

       „Auf Wiedersehen.“

       Mo 5.4.93

       Hanna Leider hat sich beim Chefarzt aus dem Urlaub zurückgemeldet und geht beschwingt und erholt in ihr Zimmer. Roma aeterna. Machtruinen. Egal jetzt. Berge von Post. Sortieren. Ein Haufen Reklame, natürlich Pharmafirmen - weg. Ein Brief von der Krankenhausleitung. Nichts Eiliges. Gleich auf Station. Wie hat Simone, unsere Alpträumerin, meinen Urlaub verkraftet? Die Bindung war schon recht gut. Sie wird hart reagiert haben. Habe sie nicht rechtzeitig auf ihre möglichen Reaktionen vorbereitet. Als Therapeutin war ich keine hinreichend gute Mutter. Habe ein schlechtes Gewissen. Habe viel zu viel an sie denken müssen. Mein Über-Ich hat mich bestraft.

       Nach der Begrüßung der Schwestern und dem vertretenden dicken Doktor Podaski berichtet Schwester Oda von Frau Maurer. Sie sei sehr ängstlich gewesen, aber täglich und einigermaßen pünktlich auf Station gekommen. Mehrmals am Tag lasse sie den Ball so lange an die Wand prallen, bis sie „weit weg“ sei. Vor ein paar Tagen sei Simone mit ihr in die Stadt gegangen. Sie seien etwa ein und eine halbe Stunde durch die Straßen gelaufen. Anschließend sei Simone nicht mehr ansprechbar gewesen.

       „Wir machen jetzt erst einmal Visite. Anschließend kann Simone dann in mein Zimmer kommen.“

       Gespräch mit Hanna Leider

       5.4.93 11Uhr30 Schüchtern, vorsichtig und sehr langsam betritt Simone Maurer das Zimmer der Therapeutin. Begrüßung, aufkeimendes Lächeln. Spiegelbrücke. Auftauchen von Erleichterung und Vertrauen.

       „Frau Maurer, ich freue mich, Sie zu sehen. Wie geht es Ihnen?“ Pralles Muttergefühl, seltsam.

       „Nicht so gut. Ich hatte viel Angst. Und hab’ den Ball immer solange an die Wand geworfen, bis ich nichts mehr gespürt habe. Wenn ich in die Kaufhalle gehe, an Menschen und dunklen Häusern vorbei, passiert es auch ohne Ball, dass alles weit entfernt ist.... Ich hab’ immer Angst und bin ganz doll aggressiv!“

       „Ihre Angst und die aggressiven Impulse sind wohl wieder intensiver geworden?“

       „Ja.“

       „Weshalb?“