Hilde Sturm

Zerbrechliche Ichbrücken


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modifizieren und bewegen. Reparatur einer Ich-Struktur. Argumentativ bedingte Änderung der Einstellungen des Über-Ichs, der inneren Zensur? Für die Kräftigung eines schwachen Ichs ist die Modifikation des sadistischen Über-Ichs die wichtigste Grundlage. Am Anfang steht das Deuten im Hier und Jetzt. Deuten des aktuellen Verhaltens von Simone und ihrer Beziehung zu mir ist also stets sofort notwendig. Aber Deuten genetischer Art, der krankmachenden Ursachen, soll nicht zu früh erfolgen. Immer auf das Jetzt beziehen. Was hat sie jetzt gedacht oder getan? Was bedeutet das für die Beziehung? Alles, was in der Stunde von der Patientin vorgebracht wird, muss entschlüsselt werden. Was ist der emotionale Hintergrund? Was ist dem Patienten wirklich wichtig? Ein langer Lernprozess für die Therapeuten. Da stehe ich noch ganz am Anfang mit eigener Erfahrung, eigenem Urteil, eigenem Erfühlen. Hat die Beziehung zu Simone nicht meist was mit Gefühl zu tun? Zumindest, dass ich sie und ihr Erleben annehme wie meine Kinder. Containing, das Aufbewahren des Leidens des anderen, um es mit ihm fühlend und denkend in ihm zu verändern.

       Die Projektion muss ich ihr noch einmal im Hier und Jetzt klar machen. Das wird sie vielleicht von ihrer Unaufmerksamkeit wegbringen. Ist es Unaufmerksamkeit oder viel mehr Abwehr? Und wie weit ist ihr beobachtender Ich-Anteil entwickelt? Wie weit kann sie sich beurteilend steuern? Wie hat sie in der Stunde Gehörtes und Erlebtes verarbeitet? Wie nutzt sie das Verarbeitete? Also Probleme wieder und wieder aufwerfen, Fragen stellen.

      4. Ich-Dissoziationen als archaische Abwehr

      Mo 15.3.93 Gespräch mit Hanna Leider

       Heute geht Simone zielsicher die Treppe hinauf. Klopft kurz an und öffnet die Tür. Grüßt höflich und nimmt sogleich in der Nähe von Hanna Leider Platz.

       „Was soll ich sagen?“

       „Was Sie wollen und was Ihnen wichtig ist.“

       „Fühle mich doof“, schief grinsend, wobei sie der Therapeutin aufmüpfig ins Gesicht blickt.

       „Sie sehen mich an, als ob es Ihnen heute besser geht.“

       Simone zögert, sinkt etwas ein und sagt ohne Betonung: „Ich könnte mich immer noch prügeln lassen, ohne mich zu wehren.“

       „Das klingt ja ganz anders als alles, was Sie bisher gesagt haben. Was empfinden Sie dabei?“

       „Mmh.... nach dem Tod meiner Großmutter hab’ ich mich genauso gefühlt.“

       „Können Sie dieses Befinden etwas genauer beschreiben?“

       „Ich war weniger traurig, es war alles ganz weit weg.“

       „....?“

       „Ich war anders, .... irgendwie verändert ....“

       „Fremd?“

       „....?“

       „Kommt Ihnen alles fremd vor?“

       „Ja, so ähnlich .... Zu meiner Tochter habe ich dann keinen Draht mehr.... Wir reden dann nicht so viel miteinander.... dann schnattert nur sie ... “

       „Was machen Sie in so einem Zustand?“

       „Das weiß ich nicht so genau.... verschieden. Wenn ich gerade was mache, mache ich irgendwie weiter ...., aber nicht richtig. Ich rede dann nicht.... “

       „Reagieren Sie dann noch auf Ihre Umgebung?“

       „Weiß nicht.“

       „Entfremdung ist eine Depersonalisation, alles weit weg, aber man nimmt wahr und reagiert verlangsamt. Man erinnert sich daran. Wenn Sie so weit weg sind, dass Sie nichts mehr wahrnehmen, nicht reagieren, nicht erinnern, dann ist das etwas anderes.“

       „So was ist mir das erste Mal passiert, als ich in einem Zeltlager an einem See war .... 18 könnte ich gewesen sein. Damals bin ich mitten in der Nacht, es war völlig dunkel, mit meinen Sachen im See schwimmend aufgewacht.“

       „Sie konnten an Land schwimmen und erinnern sich daran?“

       „Ja.“

       „Aber Sie erinnern nicht, wie Sie hineingekommen sind?“

       „Nein.“

       „Es kommen nur zwei Möglichkeiten in Frage: entweder ein Anfallsleiden, das halte ich bei Ihnen aber für unwahrscheinlich. Oder Spaltungsvorgänge. Das sind Dissoziationen.“

       „Was ist denn das?“

       „Unter Dissoziation versteht man das Abspalten von zusammengehörenden Ich-Funktionen. Ein Auseinanderfallen von Denkabläufen oder von Handlungen. Die Dissoziationen erklärt man sich als eine Ich-Spaltung zur Abwehr. Gemeint ist die psychische Abwehr von unerträglichen Erlebnissen durch Abspaltung aus dem bewussten Selbst.“

       „....?“

       „Das ist ein bisschen schwierig. Wenn wir geboren werden, sind unsere seelischen Funktionen noch nicht miteinander verbunden. Kinder brauchen Jahre bis zu einer sicheren Verknüpfung der vielfältigen Ich-Funktionen. Bei Vernachlässigung eines Kindes, erst recht bei Missbrauch und Gewalt, stoppt die psychische Reifung. Ein geschädigtes oder missbrauchtes Kind kann nur überleben, wenn es die ihm unerträglichen Erlebnisse weiterhin abspaltet. Also dissoziiert. Die negativ empfundenen Erlebnisse werden innerlich abgesondert aufbewahrt. Dadurch aber bleibt das Ich unfähig, seine Funktionen zu integrieren. Es bleibt schwach und verletzbar wie als Kind.“

       Simone verzieht ihr Gesicht. Spottlächeln, blitzkurz. Hanna sieht es.

       „Da habe ich nicht viel verstanden.... Aber .... heißt das, ich bin schwach? .... Das hat meine Mutter auch oft gesagt.... “

       „Tja, sie hat wohl instinktiv etwas nicht gemocht, was sie als Schwäche bezeichnet hat. Aber in meinen Ohren klingt das eher wie ein Vorurteil. Sie hat Ihnen Schwäche vorgeworfen, ohne die Zusammenhänge zu kennen. Leichtere Formen von solcher Ich-Schwäche sind weit verbreitet. Ich-Schwäche bedeutet keineswegs Dummheit oder Unfähigkeit. Die Diagnose einer Ich-Schwäche benötigt einigen Aufwand. Wichtiger ist aber die Frage, was man dagegen tun kann. Ihr Ich kann man nicht mit Tabletten stärken. Sie müssen sich selbst anstrengen und die Psychotherapie akzeptieren. Sind Sie während einer Dissoziation schon einmal gestürzt oder in ein Auto gelaufen?“

       „Nein .... wenn Sie so fragen, ist es eigentlich komisch .... so ...., dass mir nichts passiert ist.“

       „Ja, Sie erinnern zwar nichts, aber Sie haben dabei ein ausreichendes Restbewusstsein. Damit weichen Sie Hindernissen oder Gefahren aus. In einem unserer letzten Gespräche waren Sie kurz weggedriftet. Erinnern Sie sich?“

       „Nein.“

       „Das war eine Dissoziation. War Ihnen das Gespräch unangenehm?“

       „Ich weiß nicht.... “

       „Wann war Ihre letzte Dissoziation?“

       „Gestern. Ich war allein in der Wohnung. Als ich nach dem Nachmittagsschlaf aufgestanden bin, sehe ich ein volles Durcheinander: die Bücher sind aus dem Regal gerissen, das Aquarium kaputt auf dem Fußboden, die Fische tot.“

       „Dann hatten Sie ja viel zu tun. Sind Sie wütend geworden?“

       „Nein, auf wen? .... Na ja, war ein ganzes Stück Arbeit, neun Uhr abends war ich fertig.... Hat mich abgelenkt.“

       Hanna Leider notiert ins Krankenblatt:

       Schon seit Jahren erlebt Patientin Derealisation und Depersonalisation, zeitweise chronisch. Seit dem 18. Lebensjahr Neigung zu Dissoziationen beobachtet. Diese bestehen wahrscheinlich schon seit der Kindheit (Missbrauch). Nach ihrer Arbeitsaufnahme im ersten Kindergarten hätten mehrere Personen ihr gestörtes Verhalten mitgetragen. Nach der Umsetzung in einen neuen Kindergarten hätten die Dissoziationen dermaßen überhandgenommen, dass es mehrfach zu heftigem Streit kam. Sie habe sich während solcher Zustände nicht wehren können.

       Gespräch über ihre Kindheit. Die Eltern haben viel gestritten, der Vater habe getrunken und die Mutter geschlagen.

       Die 16.3.93 Gespräch mit Hanna Leider

       Simone ist ganz selbstverständlich und ohne Zeichen von