Hilde Sturm

Zerbrechliche Ichbrücken


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dass die Menschen friedlich sind.“

       „Trauen Sie keinem freundlichen Gesicht, keinem freundlichen Wort?“

       „Ich denke, das ist gespielt. Die sind falsch.“

       „Meinen Sie, ich sei Ihnen gegenüber voller Hass und Aggressionen?“

       „Im Moment nicht. Aber zu Anfang denke ich immer, Sie sind mir böse.“

       „Nein, bin ich nicht. Ich versuche Sie zu verstehen. Und ich mag Sie recht gerne, merken Sie das nicht?“ Simone richtet statt einer Antwort unsichere große Augen auf die Therapeutin. Hanna will Simone Vertrauen einflößen und spricht jetzt langsam weiter.

       „Ich bin Ihnen doch nicht böse, warum? Für das Durcheinander in Ihrer persönlichen Entwicklung können Sie nichts. Auch wenn Sie mich wie alle anderen Menschen verzerrt sehen sollten und finden, ich wäre böse. Das nehme ich nicht persönlich.“ Will Simones Selbstbewusstsein stärken.

       „Ich bin Ihnen gegenüber neutral. Ich kann Ihre Wut aushalten. Ich wäre selbst dann nicht sauer, wenn Sie Fehler oder Unsinn machten. Am besten wäre es, wenn Sie einfach über Ihre Wut reden.“

       „Kann ich nicht.“

       „Worüber sind Sie wütend, jetzt?“

       „Bin jetzt nicht wütend.“

       „Könnte es sein, dass Sie Ihren Hass den anderen selbst erst aufprägen?“

       „Wie meinen Sie das?“

       „Nun, Sie kennen nur sich. Ihre Eltern haben Sie nicht als liebevoll erlebt. Freunde haben Sie nicht. So scheint Ihnen jeder andere Mensch ebenfalls voller Hass, damit also böse und gefährlich zu sein. Sie kennen ihn nicht und haben keinen Vergleich aus dem Zusammensein mit Freunden. Stattdessen projizieren Sie Ihren Hass von Ihrem Ich auf Ihre Vorstellung vom Ich eines anderen, zum Beispiel auf der Straße. Hoppla, war das zu kompliziert? Vielleicht habe ich mich nicht genau genug ausgedrückt.“ Simone sitzt ein wenig abwesend da. Es ist fraglich, ob sie verstanden oder überhaupt zugehört hat.

       „Frau Maurer, hallo! Haben Sie zugehört?“

       „Och .... ich weiß nicht.“

       „Ich habe eben versucht etwas zu erklären. Projizieren ist übertragen. Man projiziert ein Bild, auch ein Foto, auf eine Leinwand.“ Simone gähnt verhalten. Hanna lässt sich nichts anmerken.

       „Nun sind wir wieder abgekommen von der Angst. Wie geht es Ihnen, wenn Ihre Tochter da ist?“

       „Tageweise fällt es mir schwer, sie zu drücken. Habe Angst, dass sie mir zu nahe kommt“.

       „Ist Ihnen ihre Nähe manchmal unbehaglich?“

       „Mmh .... ich glaube, ja.“

       „Geht es Ihnen mit anderen Verwandten ähnlich?“

       „Ja, na sicher.“

       „Gegen diese Näheangst kommen Sie wohl nicht an. Aber was fühlen Sie, wenn sich Ihre Tochter an Sie kuschelt?“

       „Nicht so viel .... Habe wenig Gefühl .... Auch aus Angst, enttäuscht zu werden .... Meine Tochter kam eigentlich ungewünscht.... Als sie dann da war, habe ich sie geliebt. Aber dieses Gefühl halte ich nicht lange durch.“

       „Empfinden Sie Ihre Tochter als einen Teil von sich?“

       „Ja, zeitweise. Aber meist fällt mir dieses.... Fühlen sehr schwer.“

       „Als Sie so klein waren wie Ihre Tochter, haben Sie da versucht, Ihre Mutter zu umarmen, zu drücken? Haben Sie gelernt, so ein Nähegefühl als Wohlsein und Behagen zu erleben?“

       „Nicht so richtig, glaube ich.“

       „Haben Sie gemerkt, dass Ihnen etwas fehlt?“

       „Ich habe mich immer ausgeschlossen gefühlt. Habe die anderen beneidet.“

       „Um was beneidet?“

       „Die konnten sich freuen, die hingen zusammen, lebten einfach. Da hatte ich keinen Zugang.“

       „Haben Sie eine Freundin oder einen Freund?“

       „Nein.“

       „Sie haben keine seelische oder gefühlsmäßige Bindung an andere Menschen?“

       Trauriges Kopfschütteln.

       „Wenn ich mit jemandem, den ich schätze oder gerne habe, viel zusammen bin, dann ist er in meinem Ich als nahe Person gespeichert, aufbewahrt. Bei Problemen kann ich mit ihm reden, mich beraten. Auch wenn er körperlich nicht anwesend ist. Ich bin nicht einsam, auch wenn ich allein bin. Die Psychologen nennen das Verinnerlichung. Wen haben Sie auf diese Weise verinnerlicht?“

       „Ich glaube, meine Tochter, aber sonst niemand. Höchstens hier in der Klinik. Bin ich mit Schwester Oda und Ihnen viel zusammen, rede ich abends zu Hause mit Ihnen. Wenn ich was falsch mache, denke ich an Sie.... und stelle mir vor, was Sie sagen würden. Meinen Sie so was?“

       „Ja, gut, genau das meinte ich. Und Ihre Eltern, haben Sie sie verinnerlicht?“

       „Doch, meine Mutter .... obwohl ich sie hasse. Egal, was ich mache, ich habe sofort das Gefühl, sie macht mich runter, sagt, ich könnte das nicht, würde nur alles falsch machen.“

       „So eine Art negative Verinnerlichung. Das ist sehr traurig.“

       „Ich bin daran gewöhnt.“

       „Haben Sie schon mal daran gedacht, sich mehr von Ihren Eltern zu distanzieren, vielleicht sogar abzulösen?“

       „Nein, kann ich nicht.... Ich brauche sie doch, besonders wegen Jana.“

       „Zurück zur Angst. Versuchen Sie doch mal, aufzuzählen, wovor Sie außerdem noch alles Angst haben.“

       „Vor Menschen auf der Straße. Angst vor dem Einkaufen, weil dort zu viele Menschen sind.

       Früher hatte ich Angst vor Messern .... schon lange Angst vor Verkehrsmitteln, Bus, Straßenbahn und am meisten vor der U-Bahn .... Oder im vorigen Jahr, da war ich in der Sächsischen Schweiz, wollte einfach nach oben klettern. Aber es kamen immer wieder Menschen. Da musste ich immer weiter vor ihnen ausweichen.“

       „Das heißt wohl weg von den bequemeren, hin zu den schwierigeren Touren?“

       „Klar, “ sagt sie triumphierend.

       „Sieht so aus als würde Ihre Angst vor Menschen jede andere Angst übertreffen, so dass Sie aus Angst vor Menschen große Risiken, z. B. sogar Absturz, in Kauf nehmen.“

       „Ja, muss ich doch.“

       Das wäre dann wieder den Tod versuchen ….

       Hannas Kladde

       Sa 6.3.93 20Uhr30 Simone bringt es fertig, einen Gedanken mit sich selbst in Widerspruch zu bringen ohne es zu merken. Mündlich weniger, da ihre Sätze meist kurz bleiben. Aber schriftlich äußert sie manchmal in einem Halbsatz das Gegenteil vom nächsten. Satzbrüche. Schlingern der logischen Schaltungen oder Minimalbrüche. Daher gab es in früheren Jahrzehnten die Diagnose Praeschizophrenie, z. B. bei Rosenberg. Die Patienten, die Rosenberg als Praeschizophrenie psychotherapeutisch gebessert hat, waren vermutlich Menschen mit frühen Störungen.

       Für die Ich-Entwicklung werden die genetische Veranlagung, aber auch die sozialen Beziehungen verantwortlich gemacht. Also die ausreichend gute Mutter, der Vater, Verwandte, Spielkameraden, Lehrer und Bücher. Bei Simone scheint es fast keine positiven sozialen Bindungen zu geben. Im normalen Umgang verschleiert ihr Charme die Mängel ihrer Persönlichkeit.

       Was tun mit einem Menschen, dessen zentrale Struktur gestört ist? Vorurteilsfreie Zuwendung, Aufmerksamkeit, Respekt, menschliche Wärme sind selbstverständlich. Aber wie lernt Simone, ihre Gestörtheit zu verstehen, selbst zu erfassen und zu überwinden? Nach psychoanalytischem Verständnis vor allem in der intensiven, direkten Beziehung zu uns Therapeuten. Kernberg erwähnt die Modifikation des Über-Ichs nach Strachey als eine Transformation der Substanz des Über-Ichs. Transsubstantiation. Durch Deuten. Eine tiefere Verinnerlichung des Therapeuten als je eines anderen Menschen? Im Laufe einer Therapie hat