Wulf Mämpel

Mein Name ist DRAKE. Francis Drake


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neue Zeit anbricht, in der Englands künftige Größe zum Greifen nahe liegt - wie die Königin selbst. Die Zeit ist aus den Fugen: Wie immer man das interpretieren will, von einem lähmenden Stillstand, wie er viele Jahrzehnte die Diskussion und das Leben im Vereinigten Königreich bestimmte, weil die Herrschaft sich nur mit sich selbst und fremden Röcken und um das Wohlwollen Roms beschäftigte, ist nicht mehr die Rede. Die Frommen im Reich sehen den Weltuntergang voraus, sie verteufeln die Kirchenspaltung durch Martinus Luther und die calvinistische Bewegung in einigen Ländern Europas, sie beklagen die sündhaften, ketzerischen Lebensformen, die sexuellen Ausschweifungen, besonders in den größer werdenden Städten, sie beklagen den fehlenden Humanismus in der Gesellschaft, „der uns ja vom Tier unterscheidet“, die sinkende Moral und den Werteverlust schon unter den Jugendlichen, sie prangern Neid und Gier, Intrige und Egoismus an, die das christliche Abendland angeblich gefährden. Sie vermehren ihr politisches Kapital aus diesen populistischen Ansichten und gefühlten Wahrheiten.

      Der Weltuntergang sei nahe, klagen sie: Der jüdische Arzt und bewunderte Mystiker Michael Nostradamus aus Saint-Remy de Provence in Südfrankreich, der vor 25 Jahren (1566) verstorben war, werde wohl bald Recht behalten! So sagen sie. Die Ankunft des Antichristen sei in Kürze zu erwarten, zitieren sie den umstrittenen Magier mit dem Zweiten Gesicht! Ein langer Krieg der Religionen – Katholiken gegen Protestanten - werde Europa bald überziehen! Ich selbst glaube nicht an diesen hellseherischen Spuk, der mich an die Warnungen der Kassandra in Troja erinnert, obwohl ja doch einiges eingetreten sein soll, was der umstrittene Doktor vorausgesehen hat. Wahr ist aber auch: Wir leben in wundersamen Zeiten, in denen moderne Rattenfänger Erfolg haben, fanatische Wanderprediger ihren Unsinn auf den Märkten verbreiten und clevere Scharlatane den Menschen das Himmelreich versprechen und wundersame Elixiere gegen alle nur erdenklichen Wehwehchen verkaufen. Da bedarf es klarer Richtlinien und Visionen, um in diesem Wirrwarr Erfolg zu haben. Der Aberglaube ist immer der Begleiter der Unwissenheit! Königin Elisabeth hat dieses Problem erkannt: Mit klugem Verstand, Überzeugungstalent, geschickter Diplomatie und – wenn es nötig ist – mit harter Hand setzt sie ihre Pläne zum Wohle Englands durch. Sie wird, da bin ich ganz sicher, als eine große Königin in die Geschichte Albions eingehen. Ihr Erfolg basiert auf einem angeborenen Pragmatismus, nicht aber auf einer Ideologie, denn der, der ihr verfallen ist, verdrängt die Realität. Ein berühmter Engländer, dessen Name ich vergessen habe, hat einmal gesagt: Das ist ja der ganze Jammer: Die Dummen sind immer so sicher und die Gescheiten so voller Zweifel! Und der Narr hält sich für weise, meint Shakespeare, aber der Weise weiß, dass er ein Narr ist . . .

       Ich selbst fühle mich in Elisabeths Inselreich sehr wohl. Ich bin ein Mensch, der Erfolg haben will und blicke deshalb immer nach vorne, ich erfreue mich mit nun bald 50 Jahren meiner Gesundheit und meines Lebens auf meinem herrlichen Landsitz nördlich von Plymouth. Ich genieße das bunte Leben am Hof zu London, meinen Ruhm und die Ehe mit meiner zweiten Frau Elisabeth. Bin ich ein Glückspilz, weil ich das zugebe? Manche sagen, ich hätte das Königreich gerettet und den Grundstein für das britische Empire gelegt. Ich kann das nicht so richtig ermessen, ich weiß nur, dass ich auch meinem Cousin Sir John Hawkins sehr viel zu verdanken habe: Er hat mich gelehrt, als Kapitän zu Ansehen und Reichtum zu gelangen. Das habe ich aber ebenso der Königin zu verdanken, mit der ich heute freundschaftlich verbunden bin. Wir kennen uns sehr genau, wir lieben uns wohl noch immer. . .

      Die Königin - ihre Regierungszeit wird bald als das „Goldene Zeitalter“ in der englischen Geschichte in Bezug auf die politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen bezeichnet werden. Und im Vergleich zum europäischen Kontinent so beschrieben (heute schon!): Als eine Renaissance, die den Nationalstolz durch die klassischen Ideale und die internationale Expansion mit Hilfe der Marine wieder entdeckt - ist spontan aufgestanden, nachdem sie ihre letzten Worte damit unterstreicht, indem sie mit beiden Händen auf die Tischplatte schlägt. Sie gibt jedem Gast die Hand und sagt zum Abschied noch einmal in einem ermutigenden Ton: „Wir müssen Unseren Plan, meine Herren, nun nach und nach publik machen, ihn in Scheiben schneiden und auf diese Weise die Protagonisten auf unsere Seite ziehen. Wir müssen so schnell wie nur möglich engagierte, leidenschaftliche Investoren gewinnen, Kaufleute, Handels-Compagnien, den Klerus, die Hanse, Abenteurer und Helden. Wir wissen, dass dies nicht einfach werden wird, aber Wir müssen immer wieder diese Pläne kundtun, Wir müssen sie in kleinen Häppchen diskutieren, sie allen Bedenkenträgern schmackhaft machen. Jeder in seinem Bereich, an seinem Platz, in seiner eigenen Welt. Voraussetzung aber ist eine starke englische Flotte. Wer eine imposante Flotte hat, dem gehören die Ozeane. An diesem Ziel werden wir gemeinsam arbeiten, engagiert, mutig, erfolgreich. Das sind Unsere bisher geheimen Gedanken, denn wer stehen bleibt, wird eines Tages von der Entwicklung bestraft. Das wollen Wir nicht! Wir benötigen dazu fähige Kapitäne und Admiräle, Generäle und Soldaten. Männer, die wissen, worum es geht: Es geht um die Beherrschung aller uns bekannten Seewege. Wir benötigen Männer wie Ihr es seid! Denn jeder von Ihnen muss den Mut der Überzeugung in sich tragen!“

      Elisabeth winkt in die Runde, die sich langsam erhebt, und verlässt lächelnd den kleinen Konferenzraum. Zu mir sagt sie leise im Vorbeigehen: „Sir Francis, wir sehen uns ja bald, an Eurem Geburtstag!“

      Niemand der Anwesenden sagt ein Wort. Ich harre noch ein paar Minuten aus und entferne mich dann ebenfalls. Ich spüre, dass das eben Gehörte in meiner Anwesenheit nicht diskutiert werden soll: Mein gutes Verhältnis zur Königin in diesen Fragen ist den Herren bekannt. Sie wollen den kühnen Plan unter sich allein erörtern. Ich sage zum Abschied: „Wir haben das Glück, den Aufbruch in eine neue Zeit zu erleben, meine Herren. Nichts ist daher überzeugender als der Erfolg. Das sollte uns glücklich und dankbar machen. Bedenken wir daher, dass wir am Beginn eines neuen Zeitalters stehen.“

      Admiral Brewster fragt mit seiner rauen Stimme: „Es wird viele Tote geben, Ungerechtigkeiten, Blut wird fließen. Ist dies der Preis für die Landeroberung, denn nichts anders bedeutet Kolonisierung fremder Völker. Die Kirche nennt es sogar Missionierung. Wie werden wir mit den Ureinwohnern umgehen? Metzeln wir sie einfach ab, weil sie ja nur Heiden sind? Beuten wir diese Länder brutal aus, ohne Rücksicht auf die Menschen, denen die Länder gehören? Wer sorgt in den neuen Ländern für Recht und Ordnung? Ich glaube, wir haben alle noch viele Aufgaben zu erledigen, meine Herren, bevor wir zu neuen, zu fremden Ufern aufbrechen sollten.“

      „Sehr gut gesprochen, lieber Freund“, antworte ich dem Admiral, „daher hat die Königin uns jetzt reinen Wein eingeschenkt, damit wir nun mit unseren Schularbeiten und der Beantwortung all dieser Fragen beginnen. Die Probleme in der Neuen Welt haben viele Aspekte: Die Eingeborenen halten uns für merkwürdige bleiche Wesen, sie selbst sind halbnackt, wir hingegen tragen blinkende eiserne Brustpanzer, haben Werkzeug aus Eisen, Pistolen, Gewehre, Kanonen und messerscharfe Schwerter. Sie tauschen wir gegen wertvolle Pelze. Die Spanier und Portugiesen glauben, Gott habe uns die Neue Welt geschenkt, um sie auszubeuten und zu unterwerfen. Wir müssen wissen, dass Nordamerika seit Tausenden von Jahren diesen Völkern gehört, von den Eisfeldern Alaskas bis zu den Wüsten Mexicos. Sie legen ihre weiten Entfernungen zu Fuß zurück, denn sie kennen keine Pferde, die lernen sie erst durch uns Europäer kennen. Sie nennen unsere Vierbeiner Sunka Wakan – „unbegreiflicher Hund“ – der Besitz eines Pferdes ist heute auch ein Statussymbol für die Krieger der Völker und deren Häuptlinge. Die Indianer leben in Stämmen auf ihren riesigen Weiden. Wir kommen mit unserem heutigen Wissen in eine Welt, die wir als rückständig bezeichnen. Das macht uns arrogant. Doch mit solch einer Haltung werden wir auf Dauer keinen Erfolg haben.“

      „Was sollen wir dann dort . . . bei diesen Wilden?“

      Auf dem Weg in meine Londoner Stadtwohnung, auf dem mich mein treuer Mestize Fernando Pareira begleitet, ist mir die Bedeutung dieses Treffens noch einmal deutlich geworden. England ist mit einem Mal in der Neuzeit angekommen, es wird künftig nicht weiter zum Gespött des Festlandes gemacht werden können: Nebelinsel, Inzuchtvolk, Insel der miesen Küche, der Schwulen und der Ketzer. Es geht nun eben auch ohne Europa – das ist die neue Botschaft unserer Königin! Das Königreich hat zu dieser Zeit vielleicht vier Millionen Einwohner, es besitzt ein geringes Staatseinkommen, eine kleine, noch junge Flotte und ein höchst mangelhaft gerüstetes Heer – kurz, wir sind drittklassig! Doch das Blatt hat sich gewendet: Immer mehr protestantische Flüchtlinge aus dem katholischen Europa, darunter erfahrene Handwerker, suchen