Frank Riedinger

Mongolei – Gesichter eines Landes


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Schon Chinggis Khaan hat Zeremonien und Feierlichkeiten mit einem Vortrag der Morin Khuur-Spieler eröffnet. Bei offiziellen Anlässen wie Staatsempfängen ist es auch heute nicht anders.

      Genug der Theorie, sagt auf einmal Odmaa. Baigaljavs Frau stimmt ihr zu. Ich schließe meinen Notizblock und nehme die Kamera zur Hand. Wir gehen in den Flur. Vor der Tür wartet ein schlanker Mann, dem Baigaljav kräftig die Hand schüttelt. Es ist der sehr bekannte Burjate Battuvshin, seines Zeichens Musiker aus Ulan-Ude, der heute sein neues Instrument abholt. Von ihm hören wir, dass hier in dieser Manufaktur die besten Pferdekopfgeigen der Welt gebaut werden.

      Die Morin Khuur besteht aus einem Klangkörper, dem Griff oder Hals und dem Streichbogen. Sie ist aus Birkenholz gemacht. Für den Deckel des Klangkörpers wird Kiefern-, Tannen- oder Fichtenholz verwendet. Das obere Ende des Halses besteht aus dem Pferdekopf und den Stellgriffen. Zwischen den beiden Saiten und dem Klangkörper befinden sich zwei Stege. Die Saiten sind aus 365 Haaren gespannt, die Summe der Tage eines Jahres symbolisierend. Dabei ist eine Saite dicker und eine Saite dünner. Die dünnere besteht traditionell aus den Schwanzhaaren einer Stute, die dickere dagegen aus dem Schweif eines Hengstes. Die Anzahl der Haare, die verwendet werden, kann aber variieren und ist von der Kraft und dem Temperament des Spielers abhängig, d.h. davon, wie stark das Instrument beim Spiel belastet wird. Im Volksmund der Mongolen verkörpern die beiden Saiten das Yin und Yang der asiatischen Welt.

      Der Streichbogen der Morin Khuur wird entweder aus dem Holz der Weiden oder aus Birkenholz gefertigt. Er ist zwischen 86 g und 95 g schwer und auch mit Pferdehaaren bespannt. Insgesamt werden je nach Spieler zwischen 120 und 250 Schwanzhaare eines Pferdes bzw. Polyesterfäden dazu verwendet.

      Es gibt bereits für Geigen, die im Orchester gespielt werden, einen Standard für den Bau der Morin Khuur, um ein einheitliches Klangbild zu erzielen. Der untere, große Steg soll 38 mm hoch und 73 mm breit sein. Der obere, kleinere Steg ist 22 mm hoch und 30 mm breit. Die Grifflänge beträgt 770 mm. Der Spielraum, in dem Töne erzeugt werden, ist mit 440 mm definiert. Die Stell- oder Stimmgriffe am oberen Ende des Halses sind 150 mm lang. Der obere Teil des Klangkörpers misst 200 mm, der untere Teil 280 mm Breite. Der Körper ist 320 mm hoch und 100 mm tief.

      Der Meister lacht über das Zahlenspiel. Ohne Kon­struktion keine Musik. Aber wirklich, wir sind beeindruckt. Wir nehmen noch einmal in den bequemen Ledersesseln Platz. Ich schaue besorgt aus dem Fen­ster. Die Fahrt ins Stadtzentrum wird eine Geduldsprobe werden, da wir auf drei Buslinien angewiesen sind. Odmaa tippt auf ihre Armbanduhr. Ich weiß, gleich muss der Abschied kommen.

      Aber eine Frage habe ich noch an Baigaljav. Was für ein Kindheitserlebnis war das gewesen, das ihn damals zu dieser Laufbahn bestimmte? Der Pferdekopfgeigenbauer schaut mich überrascht an.

      Aufgewachsen sei er in einer Nomadenfamilie der Südgobi. Auf einem seiner kindlichen Streifzüge findet er in der Wüste einen Gegenstand, den er bisher nicht kannte. Dieses seltsame Ding weckt seine Neugierde. Er nimmt es mit in sein Versteck. Zu Hause erzählt er die Geschichte. Neugierig geworden geht seine Mutter mit ihm, um sich den Fund ihres Sohnes anzusehen. Wie sie vermutet hat, handelt es sich um eine Pferdekopfgeige. Das Kind darf den Schatz behalten, allerdings muss die Mutter das Instrument notdürftig flicken. Er beginnt auf der Geige zu spielen, und im Laufe der Zeit entfaltet er virtuos seine musikalischen Fähigkeiten. Eine Unachtsamkeit des Bruders zerstört das Instrument jedoch. Mit diesem Verlust kann sich Baigaljav lange nicht abfinden. Seine starke Liebe zur Musik drängt den zehnjährigen Jungen, selbst eine Pferdekopfgeige zu bauen. Es sollte das erste Instrument sein, das der berühmte Meister gefertigt hat. Er besitzt es heute noch.

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      Traditionelle und moderne Instrumente

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      Einzelne Arbeitsschritte beim Bau der Morin Khuur.

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      Der Meister in seiner Werkstatt.

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      Vor seiner Manufaktur in den Jurtensiedlungen der Stadt.

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      Vor langer Zeit lebte im Osten des Landes ein junger Mann mit dem Namen Khukhuu Namjil. Er war weit und breit als sehr guter Sänger bekannt. Als er fernab von zu Hause seine Pferde am Ufer eines Sees weidete, kam ihm ein junges bezauberndes Mädchen aus dem Wasser entgegengeritten. Sie sprach ihn an und überredete ihn, mit zu ihren Eltern zu reiten. Er blieb dort mehrere Tage und erfreute die Familie mit seinem Gesang. Es dauerte nicht lange, bis die Hochzeit der beiden jungen Leute beschlossen wurde.

      Obwohl der junge Mann glücklich in seiner neuen Familie lebte, zog es ihn nach einiger Zeit zu seiner eigenen Familie zurück, vor allem aber zu seiner dort gebliebenen Geliebten. Das Mädchen ließ Khukhuu Namjil ziehen und gab ihm ein fahlgelbes Pferd mit auf den Weg. Dieses würde ihn an einem Tag zu seiner Familie und Frau bringen, und am gleichen Tag abends wieder zurück zu seiner angestammten Familie und Geliebten. Er müsse allerdings beachten, dass das Pferd vor seinem eigenen Ger in gebührendem Abstand anhalten solle, damit es wieder zu Atem kommt.

      Er ritt nun mit dem fahlgelben Pferd los. Drei Jahre verbrachte er tagsüber bei seiner Familie und seiner Frau, nachts aber bei seiner fernen Geliebten. Erst als er eines Tages vergaß, das Pferd rechtzeitig zu Atem kommen zu lassen, schöpfte seine Frau Verdacht und tötete das Pferd mit einer Schere.

      Drei lange Monate nahm Khukhuu Namjil daraufhin kein Essen mehr zu sich, denn der Weg zurück zu seiner Geliebten war ihm für immer verwehrt. Schließlich schnitzte er aus den Knochen des getöteten Pferdes dessen Kopf nach und baute sich eine Geige, die er mit den Haaren eines Pferdes bespannte. Fortan begleitete er sich bei seinen traurigen Liedern mit dieser Geige.

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      Morgen ist Tsagaan Sar, das Neujahrsfest der Mongolen. Den ganzen Tag fühle ich mich an die vorweihnachtliche Stimmung bei uns in Deutschland erinnert. Menschen hasten mit gefüllten Einkaufstaschen und Tüten über die Plätze und Straßen, als ob es bald nichts mehr zu kaufen gäbe. In dem Gedränge werde ich hin und her geschoben. Ich warte an der Haltestelle Sukhbaatar-Platz. Eine Weile halte ich Ausschau nach dem nächsten Bus, dann entscheide ich mich anders. Ich telefoniere mit Saulegul, die an den Feiertagen ebenso alleine ist wie ich. Die Kasachen, die wie Saule moslemischen Glaubens sind, feiern dieses buddhistische Fest nicht. Wir verabreden uns für heute Abend in einem Pub.

      Das mongolische Neujahrsfest wird an unterschiedlichen Terminen von Ende Januar bis Ende Februar gefeiert. Die Lamas des größten Klosters in Ulaanbaatar, Gandan, bestimmen den genauen Termin des Festes jedes Jahr neu. Sie orientieren sich dabei an der ersten Neumond-Phase und am asiatischen Kalender.

      Im Jahre 1206 ordnete Chinggis Khaan an, dass der Frühlingsbeginn eines Jahres gefeiert werden müsse, da die Tiere nun ihren Nachwuchs bekommen. Den Beginn des neuen Lebenszyklus sollte sein Volk feierlich begehen. Der Name Weißes Neujahrfest ist abgeleitet von dem Weiß der Milch. Im 17. Jahrhundert hat Zanabazar als erster Bogd Khaan, in seiner Funktion als Oberhaupt der Lamas, das bis dahin weltliche Fest in den eben eingeführten Buddhismus aufgenommen. Auf ihn geht auch der Termin zurück, der, wie es heute noch Tradition ist, fünfzehn weitere