Frank Riedinger

Mongolei – Gesichter eines Landes


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des heiligen Festes bis zum Morgen des ersten Feiertages werden in den Klöstern Zeremonien abgehalten und den beiden Gottheiten Bandanlkham und Lkham gehuldigt. In dieser Nacht bewegt sich Lkham in dreitausend Welten und besucht jede mongolische Familie. Daher ist das Tsagaan Sar auch ein Familienfest, zu dem sich die Angehörigen nach altem Brauch am Vorabend treffen und den göttlichen Beistand für das folgende Jahr erbitten.

      Das Festessen besteht aus drei, fünf, sieben oder neun Schichten Kheviin Boov (leicht süßlicher Teig) in Form einer Pyramide (Idee) und Buuz, außerdem Uuts, ein gedünsteter Hammelrücken oder Uvchuu, eine gedünstete Rinderbrust. Als Beilage werden verschiedene Salate gereicht. Getrunken wird Airag (vergorene Stutenmilch), Tsagaan Arkhi (Milchschnaps) und Suutei Tsai (Milchtee). In der heiligen Nacht werden Aaruul und Zucker auf das Türgerüst der Jurte gelegt. Die städtische Variante sieht vor, die Gaben auf den Türrahmen zu legen oder, wenn vorhanden, auf das Geländer eines Balkons. Dieses Geschenk dient symbolisch als Futter für das Maultier der Gottheit Lkham.

      Abends teile ich den Bus nur mit wenigen Fahrgästen, eine Erfahrung, die mir neu ist. Sonst sind die Linienbusse zu allen Tageszeiten hoffnungslos überfüllt. Die meisten Einheimischen leben in Hochhäusern und Mietskasernen außerhalb des Zentrums oder in den Jurtensiedlungen. Mit ihren Einkäufen sind sie dort angekommen. Die Feierlichkeiten halten die Menschen heute Abend zu Hause fest. Stadteinwärts ist kaum Verkehr. Die Straßen der Millionenstadt sind menschenleer und ich komme mir vor, als fahre ich durch eine Geisterstadt. Ob heute überhaupt noch ein Lokal geöffnet hat?

      Saules Wegbeschreibung stimmt auffallend. Von weitem sehe ich die Bar zwischen den modern gestylten Häusern. Ich setze mich an einen der hübsch dekorierten Tische, bestelle ein Chinggis-Bier und warte ab. Saule kommt, ausnahmsweise pünktlich, und eine Weile bleiben wir die einzigen Gäste. Langsam füllt sich die Bar, die eine der beliebtesten in der Stadt ist. Allerdings sind keine Mongolen unter den Besuchern, sondern, so wie es aussieht, nur Amerikaner und Europäer – Geschäftsleute, die vorübergehend hier zu tun haben.

      Etwas später betritt jedoch ein mongolischer Vater mit seinem kleinen Sohn das Lokal. Sie setzen sich an den Nachbartisch und bestellen zwei Essen. Der Vater schaut traurig dem Kleinen zu, der schweigsam in einem Heftchen blättert. Am heutigen Familienfeiertag ziehen sie die Geselligkeit einer Bar der Einsamkeit ihrer Zweizimmerwohnung vor.

      Der Mann vom Nebentisch wendet sich an uns und erzählt einprägsame Geschichten zu der Tradition des Tsagaan Sar. Die mit dem Kästchen ist die wunderlichste. Sein Sohn habe die im Buuz versteckten Glücksmünzen, auf die er beim Essen gebissen hat, in ein Geheimversteck gelegt, einem kleinem Holzkästchen. Übermütig habe er einmal davon geprahlt und sich das pure Glück ausgemalt. Als seine Sammlung alter Münzen daraufhin spurlos verschwand, war der mongolische Neujahrsbrauch bestätigt, der strengste Geheimhaltung in ebensolchen Glückswünschen empfiehlt.

      Wir bleiben bis in die späte Nacht, keiner von uns will gerne in seine Unterkunft zurück. Ich habe für zwei Monate eine Wohnung gemietet, doch heimisch fühle ich mich dort nicht. Es ist vielmehr ein Büro, von dem aus ich meine Reisen organisiere. Draußen winken wir einem der seltenen Autos, das langsam auf der Chaussee heranfährt. Der Fahrer stoppt umgehend und lässt mit sich einen Fahrpreis von 500 Tugrik pro Kilometer aushandeln, für den er uns nach Hause bringt. Die meisten Autofahrer sind diesem Nebenjob nicht abgeneigt und bessern ihr Einkommen mit gelegentlichen Taxifahrten auf.

      Am nächsten Morgen beginnen die drei Hauptfeiertage des Tsagaan Sar, an denen Familienbesuche stattfinden, um sich ein gutes neues Jahr zu wünschen. Die Reihenfolge sieht vor, dass sich zuerst die engsten Angehörigen sehen und danach die Verwandtschaft besucht wird. Battulga hat ein überraschendes Wiedersehen mit seiner alten Mutter für mich eingefädelt. Ich soll mit ihnen feiern, und zwar bis zum Ende der Festzeit. Das ist eine wunderbare Geste der Freundschaft.

      Der Milchtee ist schon zubereitet, genug für alle Personen. Wir sind in der Wohnung der Mutter, demzufolge ist ihr die Ehre der ganzen Familie zuteil. Vor dem Trinken wird etwas Tee geopfert und in die vier Himmelsrichtungen gesprengt. Zur Begrüßung der Mutter strecke ich meine beiden Unterarme aus. Sie werden, um sie als Älteste der Familie symbolisch zu stützen, unter ihre ebenfalls vorgestreckten Arme geschoben. Dabei wird es gerne gesehen, wenn ein Geldgeschenk der Hochachtung auch Nachdruck verleiht.

      Nach der Zeremonie begrüßen sich die Familienangehörigen, außer den Ehepaaren, da sie nach der Vorstellung der Mongolen eine Einheit bilden und untrennbar zusammengehören. Es sollen kein Wasser geholt und auch keine Handarbeiten verrichtet werden. Auch ist es nicht gestattet, Müll nach draußen zu bringen. Wer dagegen verstößt, erlebt ein Unglücksjahr, sagt Battulgas Mutter, auch derjenige, der bei Fremden übernachtet, streitet, mittags schläft oder weint.

      Manch abergläubiger Mongole hätte mir unter diesen Bedingungen abgeraten über Nacht zu bleiben, aber die redliche Gastfreundschaft der Familie Battulgas ist aufrichtig, also bleibe ich. Ihre ehrliche Vorfreude ist herzbewegend, und wird es allen bösen Geistern zukünftig schwer machen.

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      Airag - die vergorene Stutenmilch - wird an Tsagaan Sar gerne getrunken.

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      Tsagaan Sar bei Battulga zu Hause.

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      Tsagaan Sar mit dem essbaren Symbol des Festes – der Idee und der fette Hammelrücken.

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      Am Morgen des ersten Tages im neuen Jahr wird der Ovoo umrundet und danach dem Sonnenaufgang gehuldigt.Ein festes Ritual an Tsagaan Sar.

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      An Tsagaan Sar finden überall im ganzen Land Pferderennen statt, und das teilweise bei Temperaturen unter –40°C.

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      Zwei Umleitungen musste Suhkee fahren. Endlich sind wir auf der Piste nach Baga Gazriin Chuluu, dem 230 Kilometer von Ulaanbaatar entfernt liegenden Nationalpark in der Mittelgobi. Ich höre Sukhee zu, wie er von seinem Freund Batsaikhan erzählt, jetzt wo das Ziel vor Augen ist. Vielleicht sind es nur noch wenige Kilometer, vielleicht geht es aber doch länger. Mittlerweile habe ich gelernt, dass Nachfragen keinen Sinn hat. Von meinem Fahrer bekam ich einmal die verblüffende Antwort, dass die vagen Angaben wie „Vielleicht“ oder „Später“ dem mongolischen Lebensgefühl genug Spielraum bieten, alle Eventualitäten zuzulassen, die unvermeidlich sind. Wer wüsste unter den landesüblichen Fahrbedingungen auch die genaue Ankunftszeit.

      Die Landschaft, von seltener Trockenheit geprägt, durchquert ein Flussbett, dem das Wasser fehlt. Wir müssen schon auf dem Gebiet des Nationalparks sein, denn die urigen Felsengebilde kenne ich aus Erfahrung. Die Steinformen spielen mit der Fantasie des Betrachters, zufällig sind sie von der Natur angeordnet wie eine stumme Tierparade.

      Sukhee richtet sich im Sitz auf und gibt Gas. Er hat den Kumpel aus alten Tagen lange nicht gesehen und die Vorfreude lässt ihn sich an eine Anekdote nach der anderen erinnern. Später wirst du ihn kennen lernen, meint Sukhee zu mir. Er schattet die Augen gegen das Sonnenlicht ab und sucht die Richtung, in der wir Batsaikhans Lagerplatz finden wollen. Hinter zyklopischen Granitblöcken, etwas südlicher, unweit der staubigen Piste links, murmelt er. Diese Umschreibung trifft die Sache in etwa so genau, wie das „Später“ und „Vielleicht“ die Frage nach der Uhrzeit. Folglich fahren wir die staubige Piste weiter nach Süden, biegen links hinter markanten Granitfelsen ab. Wie selbstverständlich landen wir genau vor einer Jurte.

      Batsaikhan wartet in Gesellschaft