Robert Louis Stevenson

Robert Louis Stevenson - Gesammelte Werke


Скачать книгу

und Andie legte ein versiegeltes Päckchen in meine Hände. Der Umschlag war ohne Adresse, aber mit einem amtlichen Siegel verschlossen. Er enthielt zwei Billette. »Mr. Balfour wird jetzt von sich aus erkannt haben, daß es zu spät ist, sich einzumischen. Sein Betragen wird beachtet und seine Diskretion belohnt werden.« Das war der Inhalt des ersten Zettels, der mühsam mit der linken Hand geschrieben war. Ganz entschieden besagten seine Worte nichts, das den Schreiber kompromittieren konnte, selbst wenn man diese Persönlichkeit ausfindig machte; das imponierende Siegel, das als Unterschrift diente, war einem zweiten, völlig leeren Blatt Papier angeheftet; und ich mußte zugeben, so weit wußten meine Gegner genau, was sie taten; ich suchte daher nach Möglichkeit die Drohung zu verdauen, die unter der Verheißung hervorlugte. Doch die zweite Einlage war bei weitem überraschender. Sie war von einer Dame im breitesten Dialekt geschrieben. »Dem Junker Dauvit Balfour wird hierdurch mitgeteilt, daß eine Freundin sich nach ihm erkundigt hat, und ihre Augen waren grau«, so lauteten die Worte, – ein so seltsames Schriftstück und unter so seltsamen Umständen – der Augenblick und das amtlich versiegelte Dokument – in meine Hand gespielt, daß ich wie betäubt dastand. Catrionas graue Augen leuchteten in meiner Erinnerung auf. Ein Glücksgefühl durchschauerte mich: sie mußte die Freundin sein. Doch wer war die Schreiberin, die ihr Billett mit Prestongranges einschloß? Und – Wunder über Wunder – weshalb hielt man es für notwendig, mir diese angenehme, doch belanglose Botschaft nach der Insel Baß zu senden? Als Schreiberin kam für mich niemand anders als Miß Grant in Betracht. Ich erinnerte mich: ihrer Familie waren Catrionas Augen aufgefallen, ja man hatte das Mädchen nach ihren Augen benannt, und Miß Grant selbst hatte die Gewohnheit gehabt, wahrscheinlich um mein bäuerisches Wesen zu verspotten, mich in breitem Dialekt anzureden. Außerdem wohnte sie ja zweifellos in dem Hause, aus dem der Brief stammte. Also gab es nur noch einen Umstand zu erklären: wie kam Prestongrange dazu, sie in ein derartiges Geheimnis einzuweihen und ihr tolles Billett mit seinem zu befördern? Aber auch hier vermutete ich mancherlei. Einmal schien mir die junge Dame selbst eine etwas gefährliche Person, und ihr Papa konnte mehr unter ihrem Pantoffel stehen, als ich wissen durfte. Und dann gab es noch des Mannes konsequente Politik zu bedenken, sein Benehmen mir gegenüber, ständig mit Schmeichelei untermischt, und die Tatsache, daß er selbst in einem solchen Zwist niemals die Maske der Freundschaft hatte fallen lassen. Er mußte annehmen, daß meine Gefangennahme mich wütend machte. Vielleicht sollte diese scherzhafte, freundschaftliche kleine Botschaft meinen Zorn entwaffnen. Ich will ehrlich sein – ich glaube, es glückte ihm. Ich spürte plötzlich eine warme Zuneigung für die schöne Miß Grant, die sich herabgelassen hatte, ein so lebhaftes Interesse für meine Angelegenheiten zu bezeugen. Allein die Erwähnung Catrionas genügte, um mildere und feigere Gedanken in mir wachzurufen. Wußte der Lord Staatsanwalt von ihr und unserer Bekanntschaft – erregte ich durch jene ›Diskretion‹ von der in seinem Briefe die Rede war, sein Wohlwollen – wozu konnte das nicht alles führen? ›Vergeblich stellet er im Angesicht der Vögel seine Netze!‹ heißt es in der Bibel. Nun, Vögel müssen weiser als Menschen sein, denn ob ich auch ihre Absichten durchschaute, fügte ich mich doch darein.

      So dachte ich klopfenden Herzens und sah vor mir, deutlich wie zwei Sterne, die grauen Augen, als Andie mein Sinnen unterbrach. »Ihr habt gute Nachrichten erhalten«, bemerkte er.

      Ich fand, daß er mich neugierig musterte; da tauchten visionär James Stuart und der Gerichtssaal von Inverary vor mir auf, meine Seele drehte sich gleich einer Tür in ihren Angeln, und das erste Bild versank. Verhandlungen, überlegte ich mir, ziehen sich mitunter mehr in die Länge, als man glaubt. Selbst wenn ich einen Augenblick zu spät nach Inverary kam, konnte ich vielleicht noch etwas in James' Interesse unternehmen – und mein eigener Ruf wurde auf diese Art am besten gewahrt. Im Handumdrehen, gleichsam ohne jedes Besinnen, stand mein Plan fest.

      »Andie«, forschte ich, »bleibt es bei morgen?«

      Er sagte mir, nichts hätte sich darin geändert.

      »Ist irgend eine Stunde angegeben?«

      »Zwei Uhr nachmittags«, antwortete er.

      »Und wie steht's mit dem Ort?« fuhr ich fort.

      »Welchem Ort?« fragte Andie.

      »Dem Ort, an dem ich abgesetzt werden soll?«

      Er gestand, darüber wäre nichts vereinbart worden.

      »Nun gut,« sagte ich, »dann werde ich ihn bestimmen.

      Der Wind kommt von Osten, mein Weg führt nach Westen; behaltet Euer Boot, ich miete es; wir wollen heute den ganzen Tag den Forth hinaufsegeln, und morgen um zwei Uhr sollt Ihr mich am westlichsten Punkt, den wir erreichen können, landen.«

      »Ihr seid ein toller Bursche!« rief er. »Ihr wollt also doch versuchen, Inverary zu erreichen?«

      »Ihr habt es erraten, Andie«, sagte ich.

      »Na, Ihr gebt Euch nicht schnell geschlagen!« meinte er. »Und gestern tatet Ihr mir beinahe leid«, fügte er hinzu. »Wißt Ihr, bis dahin war ich mir nie so ganz klar, was Ihr eigentlich wirklich wolltet.«

      Hier war ein Sporn für einen lahmen Gaul!

      »Ein Wort in Euer Ohr, Andie«, sagte ich. »Mein Plan hat noch einen anderen Vorteil. Wir können diese Hochländer hier auf dem Felsen zurücklassen, und eines Eurer Boote aus Castleton kann sie morgen abholen. Jener Kerl Neil hat einen merkwürdigen Ausdruck, wenn er Euch ansieht; kann sein, es kommt, wenn ich erst zum Tore hinaus bin, doch zu einer Messerstecherei; diese Kittelröcke sind verteufelt rachsüchtig. Und werden irgendwelche Fragen gestellt, so habt Ihr ja eine Entschuldigung bei der Hand. Unser Leben war von diesen Wilden bedroht; da Ihr für meine Sicherheit verantwortlich waret, wähltet Ihr den Ausweg, mich aus ihrer Nachbarschaft zu entfernen und den Rest der Zeit in Eurem Boot gefangenzuhalten; und wißt Ihr was, Andie?« schloß ich lächelnd. »Ich glaube, Eure Wahl war sehr vernünftig.« »Die Wahrheit ist, ich habe nichts übrig für Neil«, sagte Andie, »und er für mich auch nichts; und ich möchte nicht mit dem Mann handgemein werden. Tam Anster wird jedenfalls besser mit dem Pack auskommen.« (Dieser Mann Anster stammte aus Fife, wo noch Gälisch gesprochen wird.) »Ja, ja,« beteuerte Andie, »Tam versteht mit ihnen auszukommen. Bei Gott, je mehr ich mir's überlege, um so weniger seh ich, wozu sie uns brauchen. Den Ort – Potz Blitz! – ja, den Ort haben sie ganz vergessen. Verdammt, Shaw, Ihr seid schon ein Schlaukopf, wenn Ihr wollt! Außerdem schulde ich Euch mein Leben«, fügte er ernsthafter hinzu und bot mir seine Hand, um das Abkommen zu besiegeln.

      Darauf gingen wir unvermittelt, fast ohne weitere Worte, an Bord, stießen vom Lande ab und setzten das Luggersegel. Die Gregaras waren inzwischen mit der Bereitung des Frühstücks beschäftigt, denn die Kocherei war gewöhnlich ihre Arbeit; einer jedoch trat auf die Bastei hinaus und entdeckte unsere Flucht, ehe wir noch zwanzig Faden von dem Fels entfernt waren, worauf alle drei zwischen den Ruinen und dem Landungssteg hin und her liefen, ganz wie Ameisen um einen zerstörten Bau, und uns zuriefen und -schrien, umzukehren. Wir befanden uns immer noch im Schutze des Felsens, der einen breiten Schatten über das Wasser warf; aber wir erreichten fast im nämlichen Augenblick den Wind und den Sonnenschein; das Segel blähte sich, das Schiff folgte dem Ruder, und wir schossen pfeilschnell außer Reichweite ihrer Stimmen. Welche Schrecknisse diese drei erduldeten, die wir ohne die stärkende Gegenwart eineszivilisierten Menschen, ja selbst ohne den Schutz einer Bibel sich selbst überließen, kann niemand ermessen; sie hatten als Trost nicht einmal Schnaps, denn trotz der Hast und Heimlichkeit unseres Aufbruchs hatte Andie es fertiggebracht, den mitzunehmen.

      Unsere erste Sorge war, Anster in einer Bucht bei Glenteithy Rocks an Land zu bringen, damit er am folgenden Tag planmäßig unsere Ausgesetzten erlösen könnte. Dann hielten wir firthaufwärts. Die Brise, die bis dahin so munter geweht hatte, flaute rasch ab, ohne jedoch völlig abzusterben. Den ganzen Tag rückten wir vorwärts, obwohl es oft nicht mehr als ein Schleichen war; und es war schon dunkel geworden, als wir Queensferry erreichten. Um den Buchstaben von Andies Verpflichtung (soweit davon noch die Rede sein konnte) zu erfüllen, mußte ich an Bord bleiben, aber ich sah nicht ein, weshalb ich mich nicht schriftlich mit dem Lande in Verbindung setzen sollte. Auf Prestongranges Umschlag, dessen amtliches Siegel den Empfänger ziemlich überrascht haben muß, schrieb ich beim Licht der Bootslaterne die notwendigen Worte, und