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Ron Hellfuns


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      Nein, diese ganze Bemutterung, mit der Ronald sich abgeben musste, hatte einen einfachen Grund: Seine Mutter war krank. Sie kämpfte schon lange gegen ein Herzleiden an, das sie jedoch immer wieder gekonnt ignorierte. Wann immer das Herz ihr Probleme bereitete, gab sie sich selbst die Schuld daran und begründete die Schmerzen in ihrer Brust damit, dass sie noch nicht genug für ihren Sohn getan hatte und das Stechen und Ziehen sie erinnern sollte, sich mehr um ihren Sprössling zu kümmern. Deshalb gleich zum Arzt zu rennen und unnötig Panik zu verbreiten? Darin sah sie keinen Grund, solange ein deftiges Mettbrötchen für ihren strammen Jungen noch in der Lage war, jeden Schmerz in ihrer Brust wieder wett zu machen. Wenn auch nur vorüber gehend.

      Es war Herbst, als Ronald am späten Nachmittag von der Schule nach Hause kam. Kaum hatte er die Haustür hinter sich mit einem lauten Knall geschlossen, damit seine Mutter sofort wusste, es war Zeit, ihm das Essen zu servieren, trugen seine dicken und geschwollenen Füße ihn in Richtung Küche, wo er seine Mutter lachend am Herd stehend erwartete. Stattdessen fand er nichts vor als ein dunkles Zimmer mit einem leeren Tisch darin. Nichts war gedeckt, kein Geruch von gebratenem Fleisch lag in der Luft. Ronald packte die Wut: „Mama!“ Immer wieder brüllte er durchs ganze Haus nach ihr. „Scheiße nochmal, Mama! Wo ist mein verdammtes Essen? Ich stehe hier in der Küche und sterbe gleich vor Hunger! Ist es das, was du willst? Dann mach nur so weiter! Mamaaa!“ Stille. Ronald war verwirrt. Manchmal war sie noch auf Toilette, wenn er nach Hause kam, dann hörte er, wie sie sich beeilte, schnell fertig zu werden, um dann mit ihren abgelatschten Hausschuhen über die Fliesen an ihm vorbei in die Küche zu huschen, um ihm schnell das Essen zu servieren. Er wartete noch einen Augenblick, doch vernahm noch immer kein Geräusch. „MAMA! Langsam werde ich echt sauer!“ Ronald wartete ab. Endlich hörte er, wie im oberen Stock eine Tür knarrte. „Na endlich“ dachte er ungeduldig. Aber was hatte sie denn da oben verloren, wo sie doch eigentlich in der Küche zu stehen hatte und warum zur Hölle antwortete sie nicht? Doch dann zuckte Ronald vor Schreck zusammen.

      „Halt gefälligst deine Fresse und hör auf, wie ein Irrer hier so herum zu brüllen!“, knurrte sein Vater aus dem Türrahmen seines Arbeitszimmers. „Und wo ist sie dann? Ich sterbe hier vor Hunger!“, beklagte sich Ronald. Sein Vater lachte laut: „So fett wie du bist, überlebst du locker noch ’ne ganze Woche ohne Essen oder sogar zwei!“ Es dauerte eine Weile, bis er weiter sprechen konnte, denn zunächst musste er sich über sich selbst amüsieren. Als sein Vater sich endlich wieder beruhigt hatte, sagte er, bevor er wieder im Arbeitszimmer verschwand: „Deine Mutter ist tot. Lag da einfach so regungslos in der Küche. Wie sonst auch ’n hässlicher Anblick. Die Pizza, die sie für dich gemacht hat, hab ich gegessen. Also wenn du so hungrig bist, bestell dir was. Irgendwo da müsste auch noch ihr Haushaltsgeld rumliegen. Und mach das Licht in der Küche wieder aus, kann sich ja kein Mensch ansehen, dieses dumme Stück Scheiße da.“ Mit diesen Worten hörte Ronald die Tür im oberen Stock ins Schloss fallen, die sogleich aber wieder aufgerissen wurde. „Ach ja, Junge! Kümmer’ dich gefälligst selbst um ihre Beerdigung, ich hab von so was keine Ahnung und auch keine Zeit dafür. Außerdem hattest du mit der Alten mehr am Hut als ich.“

      Thema beendet.

      Ronald schaltete das Licht in der Küche ein, sah seine tote Mutter, setzte sich an den Küchentisch und war völlig überrumpelt von der ganzen Situation. Er musste erst einmal seine Gedanken sortieren und sich wieder sammeln, bevor er weitere Schritte einleiten konnte. Aber sein Kopf war völlig leer und sein Körper fühlte sich so schwer an wie nie zuvor. Ronald war sich nicht sicher, was ihn in diesem Moment mehr schockte. War es die Tatsache, dass seine Mutter gerade leblos neben seinen Füßen lag und es Ronald egal war, überhaupt nicht emotional berührte? Die schmerzliche Erkenntnis, dass es ab heute nie wieder etwas zu essen für ihn geben würde, sofern er es nicht selbst organisierte? Oder die Tatsache, dass sein Vater gerade eben mehr Sätze mit Ronald gesprochen hatte als jemals zuvor?

      Die Beerdigung war so trostlos und öde wie das Leben, das seine Mutter geführt hatte. Ron überließ alle wichtigen Entscheidungen rund um die Bestattung dem dafür zuständigen Unternehmen, das er beauftragt hatte. Ihm war nicht danach, sich in großem Stil um alles zu bemühen, damit die Trauerfeier möglichst schön gefeiert werden konnte. Es war schließlich nur seine Mutter. Außerdem, da war Ron sich sicher, würde sowieso niemand zur Beerdigung kommen. Deshalb entschied er sich auch nur für die Sparversion, die erschien ihm angemessen genug.

      Die Leiche wird verbrannt, in einen Topf gepackt, Deckel drauf und ab unter die Erde damit.

      Das war schon kostspielig genug und Ron war sich zudem auch nicht sicher, ob sein Vater für mehr Schnick Schnack überhaupt bereit gewesen wäre zu zahlen. Aber wie sich im Endeffekt heraus stellte, war ihm seine verstorbene Frau nicht mal die 45 Minuten Zeit wert gewesen, die die Beerdigung seine Aufmerksamkeit gefordert hätte. Immer wieder starrte er auf das Display seines Handys, um nicht die Uhrzeit aus den Augen zu verlieren, denn er hatte noch Wichtiges zu erledigen, wenn dieses ganze Trauerspiel hier endlich ein Ende gefunden hatte. Der Pfarrer ließ sich davon nicht beirren. Er erläuterte den Anwesenden, nämlich Ron, einer Nachbarin -die aus Solidarität erschienen war, weil Rons Mutter ihr gelegentlich mit Zucker oder Eiern aushalf, wenn sie selbst keine mehr im Haus hatte- und seinem Vater, was für eine wunderbare Frau und Mutter Rosemarie doch gewesen war und auf welch schönes und erfülltes Leben sie zurück blicken konnte.

      Ron kümmerten die geheuchelten Worte des Pfarrers ebenso wenig wie die anderen Beteiligten. Jeder wusste, dass ihr Leben ein einziges Elend war, mit dem sie sich mutlos abgefunden hatte. Sie hätte so viel machen und erreichen können. Aus ihr hätte alles werden können. Doch stattdessen entschied sie sich dazu, als Hausfrau und Mutter Karriere zu machen und sich um nichts weiter zu kümmern als um ein ordentliches zu Hause und einen satten Sohn, für dessen Wohlbefinden sie sogar ihre eigene Tochter aus dem Haus gejagt hatte. Völlig zu Unrecht. Dass Barbara nicht zur Beerdigung erschienen war, wunderte niemanden sonderlich. Sie und ihre Mutter hassten sich von dem Moment an, als Ron im Bauch seiner Mutter heran wuchs. Von dem Augenblick, als Rosemarie erfuhr, dass sie mit einem Sohn schwanger war, gab es für Barbara keinen Platz mehr in ihrem Herzen. Als die Schwangerschaft dann auch noch mit einigen Komplikationen verbunden war und Ron bei der Geburt beinahe an Sauerstoffmangel gestorben wäre, wurde er das höchste Gut der Familie - Barbara der lästige Anhang. Das Einzige, was Ron wunderte und womit er eigentlich fest gerechnet hatte, war, dass Barbara zumindest zur Beerdigung kommen würde, um ihrer Mutter ins Grab zu spucken, als Zeichen, wie sehr sie sie verachtete. Doch scheinbar war nicht mal das Barbara eine Anreise wert gewesen.

      Nach der Beisetzung verschwand Rons Vater leise vor sich hin fluchend wieder direkt in seinem Arbeitszimmer. Wertvolle Zeit des Zockens ist dafür drauf gegangen, um seiner leblosen Frau einen Haufen Erde auf die Urne zu werfen. Bis zuletzt hatte er sich geweigert, mit zum Friedhof zu kommen. Seine Alte war tot, daran würde auch seine Anwesenheit nichts ändern, war sein großes Argument. Aber als schließlich die Nachbarin klingelte, um zu fragen, ob man gemeinsam zur Beerdigung gehen solle, gab er nach. Er zog sogar seinen hässlichen lila Trainingsanzug aus und tauschte ihn gegen Jeans und einen immerhin dunklen Pullover. Danach zitierte er Ron zu sich, um ihm ins Gewissen zu reden, man mache sich für das letzte Geleit eines Verstorbenen schick und laufe nicht in abgetragenen Klamotten wie ein Penner über den Friedhof. Ron wusste, dass sein Vater sich nur aufspielte, um vor der Nachbarin zu demonstrieren, dass er wusste, was sich gehörte. Und natürlich um zu zeigen, wie gut er seinen Sohn unter Kontrolle hatte, auch ohne die Hilfe seiner Frau. Ron machte den ganzen Mist nur mit, weil ihm jeder Antrieb fehlte, sich gegen seinen Vater aufzulehnen. Es war sowieso sinnlos, sein Vater war so ignorant wie eine Fliege, die auch nach dem hundertsten Mal Wegschlagen einfach nicht vom Papier verschwinden wollte.

      An ein Beieinander sitzen nach der Beisetzung oder gar einen Leichenschmaus war nicht zu denken. Rons Vater hielt das alles für überflüssigen Quatsch. Dass seine Frau nun endlich tot war, sei für ihn Party genug, sagte er, da brauche er sich jetzt nicht auch noch mit seinem missratenen und völlig verzogenen Sohn und der ständig neugierigen Nachbarin, die sich immer in alles einmischte, an einen Tisch zu setzten, ekelhaften Fraß runter würgen und