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Ron Hellfuns


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ihn dort im Dunkeln einsperren, wenn auch nur kurz. Nur ein paar Minuten würden ausreichen, Hauptsache sie zeigte ihm, dass er für sie noch existierte, in irgendeiner Form, wenn auch in ihren Augen unberechtigt. Doch das Gefühl, ihr gleichgültig zu sein, war für ihn ein Zustand tiefster Leere, die er immer wieder verzweifelt mit Essen versuchte zu füllen. Er hasste sich selbst dafür. Für alles. Für seine Fressattacken, für seine ganze Art und nicht zuletzt auch für das nicht zustande bringen seines Werkes.

      Ronald hatte alles getan, was die großen Schriftsteller vergangener Tage auch taten, nur half es bei ihm rein gar nichts. Es brachte ihm weder die erhofften Ideen, noch die gewünschte Kreativität ein und erst recht nicht den regen Schreibfluss, den seine wurstigen Finger so dringend brauchten, um ihm das Gefühl innerer Ruhe zu verschaffen. Als Ronald eines Nachmittags völlig erledigt von der Schule nach Hause kam, traf ihn beim Betreten seines Zimmers der Schlag. Seine ganzen Sammlungen waren weg! Das Zimmer erstrahlte dafür in neuem Glanz, roch noch frisch nach Allzweckreiniger und bis auf ein paar Klebefilmreste an den Wänden und einigen Fettflecken hinter der Heizung sah alles aus, als sei es nie zugemüllt gewesen. Panisch rannte Ronald im Kreis seines zehn Quadratmeter großen Traums in blau, das sein Zimmer wieder zierte. Die Zeitungsausschnitte, die Bilder, der Papierkram auf dem Boden, alles weg! Auch seine Notizen? Sein Herz raste, das Blut schoss ihm in den Kopf. Hektisch rannte er auf seinen Schreibtisch zu, auf dem die Stifte sich nun der Farbe nach sortiert ordentlich in Reihe hingelegt präsentierten. Er suchte alles ab, sah unter den Schreibtisch, in die Schubladen. Tatsache, alles weg! Seine ganze Arbeit bis hierher war verschwunden! Ronald verlor den Boden unter den Füßen, ihm wurde heiß, dann wieder kalt. Ein kühler Schwall Schweiß lief ihm wie die Niagarafälle über den gesamten Körper, er zitterte, glühte aber innerlich. Hass, Wut, Zorn, Enttäuschung und dieses ohnmachtsähnliche Gefühl der Hilflosigkeit tat sich in ihm auf. Alles begann sich zu drehen, das beruhigende Blau schien sich bedrohlich über ihm aufzubäumen und jeden Moment über ihm zusammen zu brechen. Gedanken kreisten ihm durch den Kopf, wirr und wild durcheinander sprachen Stimmen, seine eigene, Geräusche, piepsen...Ronald wurde schlecht. Er suchte Halt bei seinem Stuhl und konnte nur noch eines tun: „Maaaaaamaaaaaa!“ Er brüllte aus voller Kehle, mit einer Stimme, so gequält und gedemütigt, wie er es selbst nach Barbaras Attacken nicht heraus bringen konnte. Die Frequenz seiner Stimmlage dröhnte durch das Haus, der quietschende Schall seines Stimmbruches sei Dank hätte Gläser zum zerschellen bringen können. Ronald rang nach Luft. Allmählich fasste er sich wieder, auch wenn man es seinem bleichen Gesicht und den völlig verschwitzen Klamotten noch nicht ansehen konnte. Er hörte, wie seine Mutter sich langsam von dem knarrenden Küchenstuhl erhob und mit ihren Latschen Richtung Treppe schlurfte. Sie stützte sich mit einer Hand am Geländer und blickte nach oben. „Was ist denn, mein Junge?“, rief sie zurück und atmete schwer. „Wo sind meine Sachen?“, quietschte Ronald aufgebracht zurück. Seine Panik war dem blanken Zorn gewichen. Zorn gegen seine Mutter, die sich in seiner Abwesenheit einfach in seinem Zimmer zu schaffen gemacht hatte. Aber auch Zorn gegen sich selbst. Wie konnte man nur so blöd sein und seine wichtigen Unterlagen einfach irgendwo liegen lassen? Doch für solche Gedanken war jetzt keine Zeit, er musste seine Mutter zur Rechenschaft ziehen. Sie stand noch immer am Geländer und hielt sich die schmerzende Brust. Da war es wieder, dieses unbehagliche Gefühl im Herzen, wenn sie etwas richtig machen wollte und es sich im Nachhinein als großer Fehler heraus stellte. Dieses Ziehen kam nicht oft, aber wenn, dann wurde es mit jedem Mal schlimmer. Der erste Schmerz trat damals auf, als sie kurz davor war, ihr Leben weg zu schmeißen und in die Ehe mit einem sturen, desinteressierten Tyrann einwilligte. Dann, als sie mit Barbara schwanger war und es zu spät bemerkte, denn sonst hätte es Ronalds Schwester wohl nie gegeben. Bei Ronald hatte sie noch nie die Schmerzen verspürt, er war ihr Sonnenschein, ihr ein und alles, das Kind, das sie sich immer gewünscht hatte. Wenn man sie fragte, was ihn so anders machte als seine Schwester, antwortete die Mutter immer, er sei das Geschenk des Himmels gewesen, die Tochter das des Teufels. So recht verstehen konnte sie wohl keiner, denn es war eindeutig Ronald, der als Satansbrut hätte durchgehen können. Doch in ihren Augen war er ihr kleiner Engel, ein heiliges Kind, das behutsam durch diese schreckliche Welt getragen werden müsse. Es war wohl die Angst, mit ihrem Sohn stimmte etwas nicht, die ihr Stechen in der Brust auslöste. Aber ahnungslos über den schweren Fehler, den sie in seinem Zimmer begangen hatte, rief sie zurück: „Deine Sachen sind weg!“ Ronald verdrehte die Augen und blickte von dem Türrahmen aus zum Schreibtisch. Ach was, wirklich? Das wäre ihm jetzt gar nicht aufgefallen! Wie gut, dass sie es ihm sagte. Womöglich forderte sie nun sogar noch seine Dankbarkeit ein, dass sie ihn darüber überhaupt in Kenntnis gesetzt hatte! In ihm brodelte es, das Blut kochte, sein Gesicht lief purpurrot an, die Wangen wurden dick wie zwei Luftballons, die kurz vorm Platzen standen. „Warum hast du das getan? Bist du eigentlich völlig bescheuert? Du kannst doch nicht einfach so in mein Zimmer platzen und machen, was du willst! Das hier ist MEIN Zimmer! Du hast hier gefälligst nichts zu suchen und schon gar nicht, ohne mich vorher zu fragen! Ist das klar?“ Er hätte heulen können vor Wut, doch er unterdrückte die Tränen, die schließlich einen dicken Kloß in seinem Hals verursachten. Das Schlucken brannte fürchterlich und sein speckiger Körper zitterte noch immer wie Espenlaub. Er war schon vielen Boshaftigkeiten ausgesetzt von allen möglichen Leuten, aber das hier toppte alles. Was sonst mit ihm veranstaltet wurde, war ihm egal, es prallte an ihm ab, doch die Aktion seiner Mutter traf und zwar mitten in sein kleines, dickes Herz.

      Sie stand noch immer unten und wartete auf eine weitere Reaktion. Er hatte Recht, musste sie sich eingestehen. So sehr sein Zimmer auch nach einer Grundreinigung flehte, sie hätte ihn vorher fragen müssen. Schließlich vernahm sie Ronalds Schritte auf den hölzernen Stufen. Sein Gesicht wirkte schwer, die Augen hingen tief. Seine verzweifelten und hilfesuchenden Blicke trafen ihre mit Selbstvorwürfen geplagten Augen. „Warum hast du das getan?“, fragte er leise und zitternd. Sie wollte ihn in den Arm nehmen und trösten, ihm sagen, wie leid es ihr tat und sie es nicht böse gemeint hatte, doch er verweigerte es. Ihren kleinen Goldschatz so leiden zu sehen brach ihr das Herz in tausend Splitter, die sich unter ihre Haut brannten. Ronald sackte auf der ersten Stufe mit einem lauten „Plumps“ zusammen und vergrub sein Gesicht in den Händen. Nun konnte er es nicht länger zurück halten, die ersten heißen Tränen rannen ihm über die Wangen und ließen eine salzige Spur bis zur Nase zurück. Immer wieder schüttelte Ronald den Kopf. „Warum hast du das getan? Es ist alles weg!“ Sie sah ihn an. Plötzlich schreckte sie euphorisch aus ihrer Demütigung. Ungeduldig zog sie ihren Sohn am Sweatshirt. „Es ist nicht alles weg!“, tröstete sie ihn mit aufgeregter Stimme. „Komm mit in die Küche. Da lag so ein Stapel Papiere auf deinem Schreibtisch, den habe ich in die Küche gelegt, weil es wichtig aussah. Keine Sorge, ich habe nichts davon gelesen!“ Schlagartig wich Ronalds Verzweiflung. Er wischte sich die peinlichen Tränen weg und hastete in die Küche. Da lagen seine Notizen sauber zusammen gelegt auf einen Stapel und warteten nur darauf, wieder von ihm mitgenommen zu werden. Seine jahrelange Arbeit und Recherche war nicht dem Altpapier oder Kaminfeuer zum Opfer gefallen, er würde nicht wieder von vorn mit allem beginnen müssen! Als sei eine riesige Fettschicht von seinem Herzen gefallen, ging er auf den Küchentisch, wo seine Unterlagen bereit lagen, zu. Doch plötzlich hörte er, wie seine Schwester durch die andere Tür vom Flur aus die Küche betrat. Ronald erstarrte vor Schreck und Angst. Wäre er ein Tier, er würde sich schlagartig tot stellen und warten, bis der Feind vorbei gezogen war. Doch das half ihm jetzt nichts. Er stand da wie angewurzelt und lauschte. Drei Schritte würde sie von der Tür bis zum Tisch brauchen. Er hörte sie gehen. Einen Schritt, noch einen Schritt. Er lauschte weiter, doch sie schien stehen geblieben zu sein. Warum ging sie nicht weiter? „Geh weiter!“, versuchte Ronald über seine Gedanken ihr ins Gewissen zu reden. Auch seine Mutter bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte und blickte ebenfalls erwartungsvoll in Richtung Küchentür. Einen Moment lang war das ganze Haus in eine unerträgliche Spannung gehüllt. Alles war still. Ronald und seine Mutter lauschten gespannt, bewegten sich nicht, atmeten ruhig. Ronald betete innerlich. Doch seine Gebete wurden nicht erhört. Das Schweigen wurde durch ein lautes Gelächter gebrochen. Es erfüllte den Raum, stieg die Treppe hinauf und verursachte in Ronald ein so gewaltiges Gefühl der Scham, dass er am liebsten auf der Stelle gestorben wäre, um die nächsten Minuten nicht miterleben zu müssen. Er ahnte, was ihm nun bevorstand und jetzt noch zu versuchen, weg zu rennen, war zwecklos. Barbara hat seine Notizen gelesen! Gerade in diesem Augenblick stand sie am Küchentisch