AeNNiE Rupp

Ron Hellfuns


Скачать книгу

      Während die anderen Kinder sich langsam wieder einbekamen und ruhiger wurden, vergrub Ronald sein Gesicht hinter seinem Rucksack, den er auf dem Schoß hatte. Er biss heimlich in seinen Schokoriegel und schmiedete finsterere Rachepläne gegen all jene, die bis eben noch so über ihn lachten. All diese Banausen, die sich schon in die Hose pieseln, wenn draußen ein einziger Blitz am Himmel zuckt. Wie würden sie dann erst reagieren, wenn man sie eines Tages in die kalte Realität wirft? Wenn sie plötzlich nicht mehr behütet in ihrem bunt gestrichenen Kinderzimmern sitzen und sich von Mami die Brote hoch bringen lassen, sondern alles selbst machen müssen, für sich selbst sorgen müssen und erkennen, dass das Leben gar nicht so schön und einfach ist wie ihre unbeschwerte Kindheit es ihnen vorgegaukelt hat!

      Dann würden sie sich an Ronalds Stories erinnern, da war sich der kleine Pummel ganz sicher. Sie würden feststellen müssen, dass alle seine Geschichten das pure, das wahre Leben widerspiegelten und sie würden ihn als erwachsene Menschen aufsuchen und um Verzeihung bitten, dass sie als Kinder so töricht gewesen waren, ihn für seine frühen Werke auszulachen. Sie würden ihm Kuchen backen und um Autogramme betteln, am besten noch signiert mit einem netten, kleinen Spruch unter Ronalds Kürzel im Buchdeckel. Sie würden allen aus ihrem Bekanntenkreis sagen: „Kennst du Ronald Hollewitz, den berühmten Schriftsteller? Mit ihm war ich in einer Klasse. Er war schon immer ein kluger und weiser Mann!“ Damit würden sie sich brüsten und so tun, als seien sie wegen ihrem Verhältnis zu Ronald allein etwas Besonderes, da sie als Kinder neben ihm gesessen oder ihn regelmäßig verprügelten, was ihnen ja im Nachhinein leid tue. Sie würden ihr armseliges Leben fortsetzen, möglicherweise das Haus der Eltern erben, weil das Geld für ein eigenes bei Weitem nicht reichte. Aber eines stand für Ronald von Anfang an fest: Während sie trist vor sich hin vegetieren und von Ruhm, Reichtum und Anerkennung träumen, wird Ronald diesen Traum leben. Er wird ein Buch nach dem anderen veröffentlichen und der Nachwelt somit wertvolle Informationen seiner Epoche hinterlassen. Seine Werke werden Bestandteile des Unterrichts werden. Die Kinder seiner Klassenkameraden werden mit leuchtenden Augen vor ihren Eltern stehen und sagen: „Guck mal, das neue Buch von Ronald Hollewitz dürfen wir jetzt in der Schule lesen! Ist das nicht toll?“ Ja, eines Tages wird man sein Talent erkennen, da war Ronald sich sicher. Und solange würde er die Häme der anderen einfach weiterhin über sich ergehen lassen, schließlich war seine Haut dick genug, dass nichts davon bis in sein Herz durchdrang.

      „Ronald, ich muss mit dir sprechen.“, kam seine Lehrerin auf ihn zu, als es zur Pause läutete und alle anderen schlagartig lautstark aus der Klasse rannten. Er blieb gemütlich auf seinem Platz sitzen. Immerhin kannte er diese Prozedur bereits. Sie macht sich Sorgen um ihn, weiß nicht, ob sie nicht doch einmal mit seinen Eltern reden soll. „Ich weiß langsam nicht mehr weiter mit dir. Du sprudelst so vor Energie und Schreibeifer. Du bist kreativ, keine Frage. Auch dass du deine eigenen Geschichten hier präsentierst, finde ich toll, das kann nicht jeder. Aber die Art, wie du deine Kreativität umsetzt...Warum muss alles bei dir immer so grausam sein? Hast du Probleme zu Hause oder hier in der Schule?“ Sie hockte sich neben sein Pult. Würde er jetzt hinfallen, könnte er ihr genau in den kurzen Jeansrock reinstarren, schoss es dem dicken Jungen durch den Kopf. Aber alte Frauen in knappen Schlübbern will kein neun Jähriger sehen. Der Gedanke ließ ihn kurz erschaudern und wurde ganz schnell wieder aus seinem Kopf verbannt. Selbst ein dramatischer, gequälter Charakter wie Ronald kannte eine gewisse Grenze zwischen dem Absurden und dem einfach nur Abartigem. Also blieb er lieber sitzen und lugte ein Stück weit über seinen Rucksack hervor. Er blickte in das besorgte Gesicht der Frau neben ihm, die versuchte, bei aller Sorge um ihren Klassenquerolanten freundlich zu lächeln, damit er ein Gefühl der Sicherheit verspüre und sich ihr anvertraue. Ronald studierte ihre Visage genauestens, jede einzelne Falte. Sie war eine gute Inspirationsquelle, falls er mal eine Geschichte über Frauen schreiben wolle, die verprügelt werden. Dann könnte ihr derzeitiger Gesichtsausdruck durchaus hilfreich sein.

      Sie nahm vorsichtig seinen Ranzen zur Seite und stellte ihn auf den Boden. Dass Ronald während des Unterrichts gegessen hatte, sah sie nun anhand des leeren Papiers in seiner rechten. Aber sie schimpfte nicht und deutete seine Naschattacke als Frustfresserei, damit er bald einen noch dickeren Panzer bekommen würde. „Ist bei dir wirklich alles in Ordnung?“, fragte sie abermals. Ronald seufzte. Nicht, weil er etwas auf dem Herzen gehabt hätte, nein, es ging ihm eigentlich sehr gut. Aber er wusste, seufzen hilft, damit dicke Kinder, zu denen er zweifelsohne dazu gehörte, von anderen noch mehr Mitgefühl erhaschen konnten. Übergewicht in Kombination mit einer gequälten Seele verschaffte fast jedem fettleibigem Heranwachsenden quasi Narrenfreiheit.

      Ronald sah sie mit rehbraunen Kulleraugen an. Der Blick funktionierte bei seiner Mutter super, warum also nicht auch bei seiner Lehrerin, schließlich waren es beides Frauen, beide also dumm, sie würde demnach garantiert genauso auf die hilfsbedürftige Masche reinfallen wie seine Erzeugerin. „Zu Hause ist alles in Ordnung.“, begann er zaghaft. „Es ist nur...“ Seine Lehrerin blickte ihn erwartungsvoll an. „Ich fühle mich so unverstanden.“ Das Gesicht der Lehrerin erschlaffte. Aus dem besorgten Ausdruck wurde ein typischer Blick, den alle Erwachsenen perfekt beherrschen, wenn sie ausholten zu langen Erklärungen und Vorträgen. Innerlich verdrehte Ronald schon die Augen. „Sieh mal, mein Kleiner. Du bist anders als die anderen. Wenn jeder ein Buch mitbringt, das von einem Verlag veröffentlicht wurde, kommst du mit deinem eigenen an. Erzählen andere von ihren Lieblingsfilmen, sagst du, du magst Filme nicht, weil es von dir noch keinen gibt. Du bist einfach zu sehr nur auf dich fixiert und gibst nichts und niemand anderem auch nur den Hauch einer Chance, an dich heran zu treten oder dich für etwas anderes als für dich zu begeistern.“ „Sie verstehen mich auch nicht!“, schrie Ronald auf und rannte zur Tür. „Ich will doch nur Anerkennung!“ Er rannte den Flur entlang, zum Ausgang, über die Straße in den Park. Hinter einer Mauer setzte er sich, um nach Luft zu schnappen. Warum er als fetter Junge keine Ausdauer haben konnte, verstand er nicht. Er konnte ja auch auf Kommando losheulen, was er eben erst wieder zweifelsfrei unter Beweis gestellt hatte.

      Mit dem rechten schokoverschmierten Ärmel wischte er sich die letzten Tränen aus dem Gesicht und wartete noch einen Moment. Er hörte seine Lehrerin am Schuleingang seinen Namen rufen. Dreimal, dann gab sie auf und ging zurück. Für Ronald war das das Zeichen, nach Hause zu gehen. Er bog einige Male ab und stand schließlich vor seiner Haustür. Wild drückte er mehrmals hintereinander auf die Klingel, damit seine Mutter schon wusste, dass etwas nicht stimmte, noch bevor sie öffnete. Und natürlich bevor die Lehrerin bei ihr anrief, um zu erzählen, dass Ronald weggelaufen sei-wieder einmal. „Was ist passiert?“, fragte seine Mutter bestürzt, als sie ihrem kleinen Schatz die Tür öffnete. Er begann erneut zu schluchzten. Seine Mutter legte behutsam ihren Arm um ihn: „Komm rein und setz dich erst einmal auf das Sofa. Willst du fernsehen oder was essen?“ „Beides!“, befahl Ronald und warf die hässlichen Zierkissen von der Couch, die er noch nie ausstehen konnte. Immer dieser Weiberkram überall. Die Füße mit den dreckigen weißen Socken knallte er auf den Beistelltisch und ließ sich gerade eine große Schüssel „Trostchips“ bringen, als das Telefon klingelte. Natürlich war die dumme Kuh von Lehrerin am Apparat und das Gespräch dauerte auch nicht lange. Seine Mutter setzte sich nach dem Einhängen des Hörers zu ihrem Sohn. „Was ist schon wieder vorgefallen?“, wollte sie wissen. Aber Ronald verwies nur schmatzend auf den Fernseher. „Sie kommt nachher vorbei, um sich mit deinem Vater und mir zu unterhalten.“ Ronald nickte. „Hoffentlich denkt sie an meinen Schulranzen!“, antwortete er, denn den hatte er natürlich in der Klasse gelassen, um ihn nicht den Weg nach Hause zu schleppen und um keine Hausaufgaben machen zu müssen.

      Den Rest des Tages verbrachte Ronald in seinem Zimmer. Das machte er jeden Tag ab vierzehn Uhr, denn dann kam seine ältere Schwester nach Hause. Ronald hasste diese aufgekratzte Furie eigentlich, denn sie durchschaute ihn immer. Sie wusste, dass vieles von ihm nur Show war, der reinen Bequemlichkeit halber. Sie wusste auch, dass er Mamis Liebling war, weshalb sie immer noch gemeiner zu ihm war, als Schwestern es üblicherweise zu ihren kleinen Brüdern sind. Sie nutzte jede Gelegenheit, ihm eins rein zu würgen. Oft musste sie auf ihren Bruder aufpassen, wenn die Mutter mal eben einkaufen oder zu der Nachbarin wollte. Dann sperrte Barbara den kleinen Kerl in den Keller ein, da konnte er wenigstens keinen Unfug machen und keinem auf die Nerven