Milena Himmerich-Chilla

534 - Band I


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jeder Muskel in seinem Körper anspannte. »Ich habe mich nur an den Kodex gehalten und nichts ...«

      »Der Kodex, Grindelwald, sieht etwas anderes vor, als Untätigkeit. Vor allem dann, wenn unser Schicksal den falschen Weg für sich wählt, denn dann ist es an uns, ihn wieder auf den richtigen zu führen.«

      Grindelwald hob seinen Kopf vorsichtig an und suchte den Blick seines alten Mentors.

      »Was anderes hätte ich von dem auch nicht erwartet«, spuckte Rubens in die Versammlung, als jener die zwei Magier vor ihm rüpelhaft zu Seite stieß und mit großen Schritten auf Grindelwald zustürzte. »Habe ich es nicht von Anfang an gesagt? Man brauch sich nur einmal seine Augen anzusehen, dann erkennt man doch sofort die Absichten, die er hegt. Aber niemand wollte auf mich hören«, schnauzte er, während er sich wild gestikulierend an Hagar vorbei schob und seinen wild verdrehten Zauberstab durch die Luft warf.

      Hagar, der nicht die Absicht hatte, sich von seinem Bruder vorführen zu lassen, griff nach dem Holz des wutentbrannten Magiers und machte es sich zu eigen. »Nicht, Rubens! Er ist immer noch unser Bruder, auch wenn seinen Taten fragwürdige Absichten unterliegen.« Der überraschte Blick des grünäugigen Waldelfen verlangte Grindelwald alles ab, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Er hatte Rubens niemals leiden können. Schon seit ihrem ersten Zusammentreffen. »Schlammhaut!«, zischte er tonlos, darauf bedacht, dass es kein Ohrenpaar je zu hören bekam.

      Nachdem Rubens seine Fassung wiedererlangt hatte, ergriff seine grobgliedrige Hand dessen graumelierten Kinnbart. Dieser knackte strohig unter den massierenden Fingern und ließ Grindelwald sich an den Ziegenbock seiner Mutter erinnern. Die tief in seinem Schädel zurückgezogenen Augen des Waldelfen musterten, die Abneigung plakatierend, seinen Bruder, bevor er sich Hagars Äußerung geschlagen gab, und einige Schritte zurück, hinter diesen trat. Als Belohnung erhielt er seinen Stab zurück und schloss seine dunklen Finger darum.

      »Was nun?«, wandte sich Hagar an die verbleibenden Brüder. »Wir sollten es beenden! Hier und jetzt!«, donnerte es aus den hinteren Reihen. »Nein, er ist unser Bruder. Wir müssen eine andere Lösung finden!«, stellte sich eine schiefe Stimme vom anderen Ende der Versammlung, der Hinteren in den Weg. »Ach, so etwas verdient keine andere Lösung! Er verdient das, was das Gesetz vorsieht!«

      »Eine wundervolle Lösung Rubens. Kannst du mir auch sagen, wie du das anstellen willst? Wir können nicht sterben und das weißt du auch.«

      Der Angesprochene zog geräuschvoll die Nase hoch, bevor er seinen Stab losließ, welcher folgend der Magie geleitet, an dessen Seite schwebte. Rubens wandte sich Nathan zu. Kurz darauf bahnte sich der emotionsgeladene Magier bereits seinen Weg in Richtung des schief grinsenden Alben, der sich seine Bestätigung durch die zahlreich nickenden Brüder holte. »Du hast gut reden. Schlag du doch etwas vor! Mach dich einmal im Leben nützlich und sag uns, was wir tun sollen!«

      Bei jeden seiner sauer aufgestoßenen Worte schubste Rubens den eingefallenen Magier in seiner grauen, grob gewebten Robe durch die Versammlung. Dieser riss erschrocken seine Augen auf. Ein Stöhnen drang aus seiner Kehle. »Dachte ich es mir doch. Große Worte und nichts dahinter. Was sollte man auch mehr von einem verweichlichten Alben erwarten?«

      »RUBENS!«, donnerte Hager, der sich seinen Weg durch die Masse aufeinander einredender und beschimpfender Magier bahnte. »Nun ist aber genug!«

      »Genug, Hagar? Nein, noch lange nicht! War es nicht das Gelbauge Merin gewesen, der uns in den Rücken gefallen ist und sich mit Lilith davon gemacht hat? Wie kannst du das Geschehene leugnen? Wir alle haben es mit eigenen Augen gesehen.«

      Hagar schwieg und verharrte regungslos ob des unbestreitbaren Vorwurfs, während Rubens sein neu gewonnenes Oberwasser auskostete und sich den Umstehenden zuwandte. Sein Blick glitt über die Anwesenden hinweg, als er an Hagar vorbei, auf Grindelwald zuschritt und mit der rechten Hand erneut seinen Stab umschloss. »Und ich wette um alles, was ich besitze, dass er mit diesem Monstrum unter einer Decke steckt!«

      Bei diesen Worten streckte er seine freie Hand in Richtung Grindelwald aus, der unter der plötzlich aufgekommenen Aufmerksamkeit zusammenzuckte und seinen Blick erneut auf den Boden lenkte.

      »Rubens, ich warne dich ein letztes Mal! Strapaziere nicht meine Geduld!« Grindelwald gefiel es in keiner Weise, in welche Richtung sich diese Unterhaltung entwickelte und zwang sich zu klaren Gedanken. »Willst du mir den Mund verbieten, Hagar? Nur zu, dann sehen es wenigstens alle! Du bist schon lange nicht mehr unparteiisch, Bruder. Vielleicht wäre jemand anderes für deinen Platz besser geeignet. Jemand, der nicht so blauäugig diesem Etwas da Vertrauen schenkt«, gab Rubens von sich, während er sich provozierend auf seine Fußspitzen stellte und sein behaartes Kinn Hagar entgegenstreckte. Zähflüssig zogen sich die Sekunden über die Szenerie, untermalt der Ausgelassenheit unter ihnen.

      Nur langsam hoben sich Hagars Brauen an und die Müdigkeit ergriff sein Gesicht. Er war den ewigen Kampf leid, den Zwist, der hinter ihm lag und immer vor ihm liegen würde. »Was willst du, Rubens?«, presste er tonlos zwischen seinen schmalen Lippen hervor und drehte seinen Kopf in Richtung Grindelwald, der am Rande des Plateaus stand und ihm hilfesuchend entgegensah. Er könnte nie verzeihen, welchen Verrat sein einstiger Schüler begangen hatte, dennoch empfand er einen Anflug von Mitleid ob seiner gestraften Person. In einem Teil seines Ichs keimte jene väterliche Liebe, welche dessen Vertrauensbruch umso schwerer für ihn wiegen ließ.

      Hagar legte seine faltige Hand auf das Gesicht und wischte über seine brennenden Augen, während Rubens stolz seine Brust anschwellen ließ und sich zwischen Grindelwald und den Magiern aufbaute. »Verbannung, sage ich! Ein Bruder, der nicht für unser Land ist, ist gegen unser Land! Fort mit ihm, hinter die westliche Grenze! Dort kann er meinetwegen sein Leben lang, bis zum Ende der Zeit hin, Ratten fressen und darüber nachdenken, was er getan hat.«

      Hagar, der mit beiden Händen seinen Stab umfasst hatte, seufzte schwer unter den gesprochenen Worten. »Wer für Rubens Vorschlag ist, hebe nun die Hand.«

      Ohne hinzusehen, wusste Hagar, dass Rubens Bestrafung bei jedem seiner Brüder auf Zustimmung gestoßen war. Grindelwalds Gesichtsausdruck, in dem das Entsetzen geschrieben stand, bestätigte seine Vermutung, dennoch wandte er sich von jenem ab und zählte laut die erhobenen Hände, welche sich entschlossen gegen den Himmel streckten. »Sechs ... Sieben«, seufzte er »und eine sich enthaltende Stimme.« Damit meinte er sich selbst.

      Hagar, der die umliegenden Augenpaare seiner Brüder brennend auf seinem Körper spürte, richtete sich kerzengerade auf. »So soll es sein. Grindelwald, die Bruderschaft hat sich entschlossen. Sie verhängt ob deines schwerwiegenden Verrates an unserem Land und der Magie selbst deine Verbannung. Niemals wieder ist es dir gestattet, das Land der zehn Königreiche zu betreten. Du wirst von jetzt an bis in alle Ewigkeit dein Leben hinter der westlichen Grenze verbringen.« Während der gesprochenen Worte drang Galle seinen Hals hinauf und erfüllte bitter schmeckend den Mund.

      Stille legte sich über die Magier, die ihre Augen schlossen und die Spitze ihrer Stäbe den Boden unter ihnen berühren ließen. Grindelwald taumelte zurück, weg von jenem sich ihm entgegen fließenden, dunkelblau leuchtenden Wasser, in das sich die Erde vor ihm verwandelt hatte. Am Abgrund angekommen, blickte er ein letztes Mal in die traurigen Augen Hagars, bevor die Welt um ihn herum ins Wanken geriet. Kühles Nass hangelte sich unter dem Mantel seiner stark behaarten Waden hinauf und überzog weitere Teile seiner Haut, bis es sich letztlich über sein Gesicht ergoss und schmerzvoll in die Höhlen seiner Nase, Mund und Augen eindrang. Die Welt wurde schwarz, als Grindelwald nach Luft ringend kurz davor stand, zu ersticken und schwerfällig um sich schlug.

      Dann war plötzlich alles vorbei. Eisige Luft drang in seine Lungen, die er gierig in sich auf sog. Auch ohne seine Augen zu öffnen, wusste er, dass er sich fortan nicht mehr auf dem Plateau befand, sondern weit ab der Grenze des Landes, das er so viele Jahre seine Heimat genannt hatte.

      »Narren!«, stieß er heißer hervor, während sich auf seine Lippen ein schiefes Lächeln legte. »Es ist noch lange nicht vorbei«, stöhnte er, als er sich an einem der Grenzsteine hinauf zog, auf dem von Eis überzogenen Boden aufrichtete und widerlich grinsend in die Ferne sah.