auf der Zunge und bedeckte pelzig ihre Zähne. »Wie viel Uhr haben wir wohl?«, fragte sie sich, nachdem sich ihr Blick durch das verschmutzte, schmale Fenster auf die noch schlafende, im Nachtmantel gehüllte Stadt legte. In kurzweiligen und unsteten Intervallen erkämpfte sich der Mond eine Lücke im sonst von Wolken beherrschten Himmel und legte dickköpfig seinen Schein auf die menschenleeren Straßen weit unter ihm. Es war ein idyllisches Bild, das sich Elisabeths Blick darbot, wäre da nicht ihre stetige Unruhe, welche diesen sonst so perfekten Moment zunichtemachte. Nichts konnte ihrem Gefühl Linderung verschaffen. Nicht einmal das Fernsehen hatte sie erlösen können von jenem ewigen Zug, der sie fortwährend drängte. Doch wo hin zog es sie? Selbst ein Orts- und Berufswechsel hatte nichts an dem Gemütszustand ändern können, ganz im Gegenteil. Sie fühlte sich damals, schon am ersten Tag, an welchem sie die letzten Umzugskisten in ihre neue Umgebung getragen hatte, unwohl. Es war eine ihr fremde Stadt, die sie durch das dünne Glas des Fensters erfasste. Oder war es sie, die immerwährend fremd war?
Nachdem Elisabeth beschlossen hatte, die Nacht sein zu lassen und ihre Wohnung hell erleuchtete, um auch den letzten dunklen Gedanken zu verbannen, setzte sie sich mit einer Tasse Kaffee auf ihr gemachtes Bett. Sie hatte nicht vor, ihren Gedanken eine Möglichkeit zu bieten, das sonst so gewohnte Eigenleben zu führen. Um dieser Entscheidung Nachdruck zu verleihen, nickte sie bestätigend, während ihr Griff sich um die schmale Fernbedienung legte und sie den Röhrenfernseher anschaltete.
Sie lehnte mit dem Rücken an der kühlen Wand und blickte auf den noch dunklen Bildschirm. Doch dauerte es einen kurzen Moment, bis das Bild darauf erschien, dann drangen wohltuend wild wechselnde Bildfolgen auf sie ein. Diese nahmen von ihren Schultern das, was sie bis dahin düster beschäftigt hatte. Ein zeitgleicher, großer Schluck aus dem Becher wärmte sie und hauchte ihr kurzweilig neues Leben ein. Der Seitenblick auf ihren Wecker, welcher einsam auf dem schlichten Buchenholznachttisch sein Dasein fristete, verriet ihr, dass sie noch genügend Zeit hatte, bis sie das Haus verlassen müsse.
Entspannung suchend, drehte sie ihr Gesicht zurück Richtung Fernseher. Weitere Bildfetzen fielen auf sie ein, als die zahlreichen Stimmen sich zu einer wabernden Masse formten, welche eine hypnotisierende Wirkung auf Elisabeth hatte. Ihre Augen begannen allmählich zu brennen, doch sah sie sich nicht im Stande, jenem Drang des Schlafes nachzugeben. Zu viel Angst hatte sie davor. Für jene Nacht hatte sie genug Alpträume erlitten.
Als die ersten Sonnenstrahlen durch ihr Schlafzimmerfenster drangen, stand Elisabeth bereits geduscht und angezogen vor ihrem Bett, auf dessen Oberfläche ihr Rucksack ruhte. Sie betrachtete ihre hochgezogenen Schultern im Spiegel, der an der Außenseite ihres Kleiderschrankes angebracht war und zwang sich diese herunter zu drücken. Sie wusste allerdings, dass jenes nicht von Dauer sein würde. Spätestens bei der dritten Querstraße, auf ihrem Arbeitsweg, würden sie wieder am Ausgangspunkt angekommen sein.
Ihr Kopf dröhnte unter jeder Bewegung. »Der Tag beginnt schon wunderbar«, dachte sie sich und musterte ihre schmalen Lippen, die sie zu einem Strich geformt hielt. Noch immer brannten ihren Augen unablässig, als sie nach ihrer Brille griff und jene ungeschickt auf zog. Nachdem sie einen weiteren, prüfenden Blick in den Spiegel tat und das Gesehene wie sonst als ungenügend empfand, griff sie seufzend nach ihrem Rucksack. Sie würde einen weiteren Versuch starten, abzunehmen. War der Letzte doch kläglich an der Tafel Schokolade gescheitert, die sie im hintersten Eck ihres Hochschrankes bei der wöchentlichen Haushaltsreinigung gefunden hatte. Nicht nur ihrer Gesundheit würde es einen Gewinn bringen, auch ihrer allmorgendlichen Kleiderwahl. Waren doch die meisten ihrer Hosen im Laufe der letzten Monate zu eng geworden. Dies frustrierte sie mehr, als die mittlerweile von Staub überzogenen Waage, welche sie seit einer Woche hingebungsvoll mit Missachtung strafte.
Wie alles bisher, beschlich Elisabeth das Gefühl, entglitt ihr auch dies, dennoch fühlte sie sich unfähig etwas daran zu ändern. War es doch um so Vieles einfacher, sich gehen zu lassen, es einfach hinzunehmen, als sich aufzustellen und die Stirn zu bieten.
Elisabeth seufzte und massierte den Übergang von Stirn zur Nase mit sanftem Druck. Sie fühlte sich abgeschlagen und überfordert. Einige wenige Minuten gestand sie sich dieses Gefühl ein, um darauf folgend pflichtbewusst ihren Rucksack zu schultern. »Auf ein Neues!«, sprach sie mit einer gespielt übertriebenen Stimme, als sie die Wohnungstür auch schon ins Schloss zog.
Wie immer, war sie viel zu früh dran und ein Blick auf ihre Uhr bestätigte diese Vermutung. Zwar kam der Sommer mit großen Schritten, dennoch war der Morgen immer noch frisch.
Elisabeth zog daher den Saum ihrer Jacke enger um den Körper und vergrub ihre Finger tief in dessen Taschen. Um nicht weiter zu frieren, wippte sie auf ihren Füßen auf und ab, vor und zurück.
Die Straße erwachte nur langsam aus ihrem Schlaf. Müde rieb sie sich den Sand aus den Rollos und öffnete schläfrig ihre Lider, hinter welchen goldgelbes, strahlendes Licht lag. Noch immer leuchteten die Laternen, aber nicht mehr lange. Der Morgen war längst angebrochen, durchzog in rosa Fäden das stetig heller werdende Blau des Himmels. Es würde ein sonniger Tag werden, dachte sie, als ein Lächeln ihr das erste Mal seit Stunden über das Gesicht huschte. Der Gedanke an die bevorstehenden Sonnenstrahlen ergoss sich wohlig warm in ihrem Körper.
Zäh summierten sich die gleichen morgendlichen Gesichter, während diese sich am Haltestellenschild sammelten und auf die nächste Mitfahrgelegenheit warteten. Dabei wischten sie unnahbar über die Smartphones in ihren Händen.
Elisabeth musterte die Masse verstohlen aus dem Augenwinkel, während sie selbst am Rande des Bordsteins Position bezog und mit der Sohle ihres rechten Schuhs über die abgerundete Kante fuhr. Jene war an manchen Stellen abgeplatzt. Ihre Mitreisenden wirkten desinteressiert am Geschehen, das sie umgab. Waren es doch so viele Dinge, die ihre Aufmerksamkeit suchten, schmollend an den Säumen ihrer Filzmäntel zogen. Sie schienen für Elisabeth, gekleidet in ihren schwarzen Anzuguniformen und emotionslosen Gesichtern, austauschbar. Nicht auch nur einer hatte ein Auge für das, was um sie herum passierte.
Elisabeth seufzte tonlos. Als sie jedoch müde im Begriff war, sich der Straße vor ihr zuzuwenden, fiel ihr Blick auf eine, in einem taubenblauen Kostüm gekleidete, ältere Dame, welche in der hinteren Reihe der schwarzen Masse deplatziert in ihrer Farbenfrohe wirkte. Ihr weißes, von sanften grauen Strähnen durchzogenes Haar hatte sie akkurat nach oben gebunden, während ihre Hände in schwarzen Wildlederhandschuhen ruhten. Ihr Gesicht, das sie zweifelsohne pflegte, lag in tiefen Falten. Jene verdichteten sich ausdrucksstark um die Augen. »Sie ist bestimmt ein fröhlicher Mensch.«
Elisabeths Vermutung wurde bestärkt der hell glänzenden Augen, welche zwischen den blau getuschten Wimpern lagen. »Wenigstens eine Person besitzt noch den Blick für die Welt vor sich.«
Nun wandte sich auch Elisabeth ab und ließ ihre Gedanken hinaus ziehen, wurde ein Teil der unbedeutenden Masse, welche sie zuvor so kritisch ihres Desinteresses angeklagt hatte. War es aber doch so einfach, sich treiben zu lassen und die Welt um sich herum auszusperren. Gab es doch andere Menschen in ihrer Nähe, die diese Pflicht für sie taten.
Heute musste sie unbedingt nach der Arbeit einkaufen gehen, schoss es ihr durch den Kopf. »Vielleicht etwas Gemüse anstatt einer Pizza. Und Fisch? Ja, das ist eine gute Idee.« Bei dem Gedanken an ihre finanziellen Mittel jedoch schloss sie bedrückt ihre Augen. In den folgenden Tagen würde es wie immer, am Ende eines jeden Monats, knapp werden. »Dann ja doch vielleicht eher die günstigere Pizza.« Ob sie nun mit der Diät jetzt anfangen würde oder erst nächste Woche, war nicht von Bedeutung, log sie sich vor. Sie fühlte sich mit einem Mal wieder unwohl in ihrer Haut. Nicht einmal finanziell war sie gefestigt. Plötzlich hatte sie das monumentale Gefühl ihr bisheriges Leben vergeudet zu haben. Nichts hatte sie, was sie vorweisen konnte. 'Solide' war ein Umstand, den sie bisher niemals erreicht hatte.
Eine unbekannte, kratzige Frauenstimme riss Elisabeth aus ihren Gedanken und ließ sie ihren Kopf in Richtung des taubenblauen Kostüms drehen, dem sie jenen aufgekommenen Klang instinktiv zuordnete. »Was hast du denn, Kleine?« Elisabeth reckte ihren Kopf höher, um besser erkennen zu können, zu wem die Frau besorgt sprach und sich hinab gebeugt hielt. Trotz, dass die Dame von schmaler Natur war, verdeckte ihre ausgemergelte Gestalt die von ihr angesprochene