Milena Himmerich-Chilla

534 - Band I


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seine vollen Lippen, die modelgleich ein perlweißes Lächeln frei legten, als er die junge Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite anflirtete.

      Ein Bart gefiel ihm zwar nicht wirklich, aber dem konnte Abhilfe geschaffen werden. Ansonsten war der junge Mann genau nach seinem Geschmack. Mit Sicherheit hatte er an jedem Finger mindestens eine Frau, die sehnsüchtig auf einen Anruf wartete, sich nach ihm verzehrte. Er würde dies mit Sicherheit prüfen, denn vielleicht könnte er sich so ein wenig Zeit vertreiben, bis endlich seine Stunde geschlagen hatte.

      Schief grinsend setzte er sich in Bewegung und lief schnellen Schrittes auf sein Opfer zu. Auf gleicher Höhe angekommen strauchelte er gekonnt, stieß mit jenem zusammen, wobei er bewusst seine lederne schwarze Aktentasche fallen ließ und laut aufstöhnte.

      Mitleid, das war es, was er provozieren wollte und sein Plan ging auf. »Alles in Ordnung, Sir?« Der junge Mann rieb seine Schulter, als er sich zu ihm hinab beugte und ihn zaghaft anlächelte. Da war er, der Moment und er würde ihn nicht verstreichen lassen. Wie eine Schlange stieß er zu und umfasste schmerzhaft die Hand seines Opfers, welche sich augenblicklich verkrampfte.

      Als er seine Augen öffnete, fiel sein Blick auf das breite, Männlichkeit missende Mondgesicht, jenes ihn mit verstörtem Blick anstarrte. »Vielen Dank, mein Freund.«

      Mit diesen Worten ließ er den untersetzten Mann, der noch immer auf seinem breiten Hintern saß, los und richtete sich tief durchatmend auf. Das war doch gleich ein ganz anderes Gefühl. Er hätte Bäume ausreißen können, so energiegeladen fühlte sich seine neue Hülle an. Fasziniert hob er seine Hände vor die Augen und betrachtete die feingliedrigen Finger. Selbst seine Nägel waren gepflegt.

      Anerkennend pfiff er durch die Zähne. Er würde viel Spaß mit ihm haben, aber nun gab es Wichtigeres, dem er sich widmen musste.

      Ein suchender Griff zog sich über die Armanihose, die er trug und erfühlte das gesuchte Objekt. Neugierig zog er die Geldbörse aus der Hosentasche und warf einen prüfenden Blick hinein. Kreditkarte - sogar gold, Visitenkarten und Bargeld und das nicht zu wenig. Damit würde er weiter kommen.

      Breit grinsend wandte er sich zum Gehen, während er vor sich hin summte und schlussendlich die Worte »This is a man's world, but it wouldn't be nothing, nothing without a woman or a girl«, mit einem aufkommenden Lachen sang, bevor er um die Ecke bog und sich an Elisabeths Fersen heftete, nicht gewillt, sie ein zweites Mal zu verlieren.

       Kapitel VI

      19:43 Uhr – Spedition Eurotrans, Am Flurkreuz 12

      Elisabeth schloss instinktiv die Augen, als sie hinaus auf die stark belebte, sonnendurchflutete Straße trat. Die gold schimmernden Strahlen, welche sich heiß auf ihre Haut legten, provozierten den wohligen Schauer, der langsam ihren Rücken hinab glitt. Endlich war die kalte Jahreszeit vergangen. Das neue Leben zwang sich bereits an die Oberflächen und sog die aufgekommenen, länger gewordenen Sonnentage durstig in sich auf. Auch die kleinen, am Straßenrand drapierten Blumeninseln, waren über Nacht von einem Blütenmeer überschwemmt worden und verliehen der Grau gekleideten Stadt etwas Farbe. Der Gedanke an den bevorstehenden Sommer erfüllte Elisabeth mit Freude.

      Jene verschwand unvermittelt, als sich ein vertrautes Geräusch erhob und sie aus ihren Tagträumen riss. Zeitgleich der Gewissheit, wieder allzu spät dran zu sein, kniff sie ihre Augen zusammen und biss sich auf die Lippe. Hatte sie sich doch wirklich vorgenommen, pünktlich Feierabend zu machen, um in Ruhe einkaufen gehen zu können, doch zur Bitte ihres Chefs konnte sie einfach nicht »Nein« sagen. Dieser hatte ihr kurz vor Feierabend eine weitere Mappe unsortierter Auslandslieferscheinen hingelegt und sie mit den Worten: »Danke Elisabeth, du bist meine Rettung. Die müssen morgen früh um sechs mit der Ware raus«, allein gelassen. Folgend war er eilig, nach dem Saum seines marineblauen Jacketts greifend, durch die milchverglaste Bürotür zu einer seiner vielen Verabredung gestürmt. Elisabeth jedoch war, wie zu oft in den letzten Wochen, zurück in den mausgrauen Büroräumen geblieben, stets unter den wachsamen Blicken der silbergrauen Wanduhren, die nebeneinander aufgereiht über dem Ausgang thronten.

      Elisabeth wandte sich dem passierenden Bus zu, der nach wenigen Metern bereits mit gesetztem Blinker in die Seitenstraße einbog. Dabei ließ sie ihren Schlüsselbund in den Rucksack gleiten. Der flüchtige Blick auf ihre Armbanduhr verriet, dass eine halbe Stunde vergehen musste, bis sich die nächste Mitfahrgelegenheit für sie bot. So beschloss Elisabeth, als sie durch eine aufkommende Lücke im Verkehr die sonnige Straßenseite gegen die schattige eingetauscht hatte, die restliche Zeit wenigstens sinnvoll zu nutzen.

      Schnellen Schrittes trugen ihre Beine sie zur ausgeblichenen Holzbank, welche neben dem schief stehenden Bushalteschild am Fuße der restaurierungsbedürftigen, pastellfarbenen Häuserfassaden ihr Dasein fristete. Sie mochte den alten Charme der umliegenden Vorkriegsvillen, deren kantige Formen und liebevoll verzierten Details, auch wenn diese weitestgehend bereits dem Zerfall erlagen.

      Elisabeth genoss die Kühle des Schattens. Erneut rann ihr ein Schauer über den Rücken. So sehr sie den Sommer auch herbei sehnte, konnte sie noch nie mit der Hitze, welche jenen stets begleitete, umgehen. Belustigt jedoch über die natürliche Reaktion ihrer Haut, welche eine Gänsehaut überzogen hatte, strich sie sich über die aufgestellten Härchen ihres linken Unterarmes, bevor sie sich ihrem Rucksack zu wandte und aus jenem ein abgegriffenes Taschenbuch hervorzog. Selten hatte sie in den letzten Wochen die Zeit gefunden, sich durch dessen zahlreiche vergilbten Seiten hindurch zu fressen. Musste sie doch diese aufgekommene Chance dafür nutzen.

      Elisabeths Zunge glitt vorsichtig über ihre auffällig aufgebissenen, schmalen Lippen, als sie mit der Handfläche über den geknickten Einband strich. Sie hatte dieses Buch schon hunderte Male gelesen, es in zahlreichen, einsamen Stunden, schlaflosen Nächten und an regnerischen Tagen zur Gänze verschlungen. Dennoch war es über all die Zeit hin immer wieder eine neue Erfahrung für sie geblieben. Zeigte es sich doch jedes Mal von einer anderen Seite, beleuchtete die Szenerien und Charaktere neu, die geschäftig ihren Handel auf den Basaren betrieben, ihre Schwerter für den bevorstehenden Kampf schliffen und auch die sich Liebenden nach einigen Schwierigkeiten doch noch zueinanderfanden.

      Als sie in jungen Jahren die gebundenen Seiten, mit ihrem unscheinbaren Einband in den spärlich beleuchteten Gängen eines abseits gelegenen Buchladens entdeckt hatte, war es ihr gewesen, als hätte sie das Schicksal dort hingeleitet. Sie hatte an jenem Tag eigentlich nur der Hitze des Hochsommers entgehen wollen und deshalb den Mut gefasst, die schwere Metalltür, verraten von einem müden Geläut, zu öffnen. Die veraltete Dekoration, welche lieblos in den Ecken abgestellt und von Staubfäden behangen war, hatte damals schon seine besten Tage hinter sich gelassen. Elisabeths Blick war mit schwindendem Interesse über die zahlreichen Bücherregale geglitten, wobei sie wenig beeindruckt mit ihrer Handfläche über die Buchrücken gestrichen war. Nach und nach hatte sie die vereinzelt da stehenden Drehständer angeschubst, bis sie am Letzten angekommen war. Dieser, der sich im hinteren Bereich des Ladens befunden hatte, beschwerte sich lautstark über die plötzliche Störung seines Schlafs. Elisabeth war gleich darauf fasziniert vom rhythmischen Geräusch gewesen, so dass sie vor jenem im Gehen innehielt und seiner Bewegung folgte. Die an ihr vorbeiziehenden Bücher waren ineinander verschwommen, während sich ihre Titel zu einem durchlässigen, grauen Schleier formten. Immer langsamer werdend hatte sich der Ständer gedreht, als auch sein begleitendes Quietschen immer leiser wurde und irgendwann erlosch. Just in jenem Moment, da dieser zum Stehen kam, war Elisabeths Blick auf den Rücken jenes Buches gefallen, welches sie nun in ihren Händen hielt.

      Erneut berührte sie vorsichtig den Einband und schloss ihre Augen. Sie wusste alles über die darin existierende junge Frau mit ihren wilden, in roten Locken herabfallenden Haare. Sie hatte in jeder dunklen Stunde mit ihr gelitten, gelacht, wenn sie sich wie ein kleines Kind auf den darauf folgenden Seiten freute. Sie hatte sich von der ersten Seite an in sie verliebt. Schon der erste Satz, den Elisabeth damals im Buchladen selbst überflogen hatte, band ihren Geist an jene Geschichte in ihren Händen. Noch immer war es ihr unbegreiflich, wie ein Buch sie so fesseln hatte können, wie jenes Werk dieses einst getan hatte.

      Natürlich hatte sie in ihrem Leben schon Vieles gelesen,