Milena Himmerich-Chilla

534 - Band I


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Genre war ihr fremd geblieben, während sie an der Seite des Gesetzes gegen größenwahnsinnige Serienmörder gekämpft, als Geisteskranker in Gefangenschaft, als Dozent zu Zeiten des Dritten Reiches, als Fee, als Baum, als Gefühl, selbst als ein purer, flüchtiger Gedanke existiert hatte. All das war sie in der Vielfalt der tausendfach existenten Welten gewesen, die über Jahre hinweg ihr Leben begleitet hatten.

      Elisabeth konnte sich, laut ihrer Mutter, noch nie wirklich, wie ein »normaler« Mensch verhalten. Jedenfalls war es dieser Vorwurf, der den Höhepunkt jedes langatmigen und verstaubten Monologs aufzeigte, den sie, beim allwöchentlichen Sonntags Kaffee mit akribisch abgemessenen, im perfekten rechten Winkel geschnittenen Kuchenstücken, von sich gab. Die anklagenden Vorhaltungen ihrer eigenen Mutter zu hören war alleine schon schlimm genug, jedoch die darauf folgenden haltlosen Anschuldigungen, sie würde es nicht anders wollen, trafen Elisabeth jedes Mal aufs Neue. Die Hoffnung, im Laufe der Zeit und der Mengen an überlebten Kaffeemittagen ein dickeres Fell zu erhalten, war bei jedem Schluck des löslichen Kaffees aus dem mit kobaltblauen Blumen verzierten Sonntagsgeschirr geschwunden.

      Elisabeth, die ihre Augen geschlossen gehalten hatte, wurde jäh aus den bitteren Gedanken gerissen, als eine immer lauter werdende Melodie aus ihrer Hosentasche drang. Geistesabwesend legte sie ihr Buch zur Seite und ließ ihre Hand hinab und in die Tasche gleiten, aus der sie, ihre Augen wieder geöffnet, ein silbern glänzendes Telefon zog und auf das grüne Icon tippte. Zögerlich legte sie den Hörer an ihr Ohr und meldete sich mit schwacher Stimme. »Heyn?«

      »Elisabeth, bist du es?«, erklang die gehetzte Frauenstimme am anderen Ende.

      »Wer soll es sonst sein?«

      »Was soll denn das heißen? Bist du zu Hause?«

      »Nein, ich warte auf den Bus.«

      »Aha.« Eine kurze Pause trat ein, als Elisabeth ihren Kopf in den Nacken legte und die vereinzelten Wolken, über den bereits von Lila und Blau durchzogenen Himmel betrachtete.

      »Hättest du einmal deinen Führerschein gemacht, wie ich es dir mit achtzehn gesagt habe, wärst du jetzt unabhängiger.«

      Elisabeth presste die Luft aus ihren Lungen und rollte mit ihren Augen. So war sie, ihre Mutter. »Wie dem auch sei. Warum ich anrufe: Ewald, also unser Nachbar, meinte, wir sollten einmal eine Grillparty veranstalten. Er hat natürlich auch nach dir gefragt. Nicht, weil er wissen wollte, wie es dir geht – ich habe ihm übrigens gesagt, dass du dich in deiner neuen Umgebung wohl fühlst, das tust du doch oder? - na ja, egal, jedenfalls, du wirst es nicht glauben. Ewalds Sohn ist aus New York zu Besuch gekommen. Ein hübscher junger Mann, das muss ich einmal sagen. Glaube, Ewald hat einmal erwähnt, dass er Börsenmakler ist,... oder so etwas in der Art ...«

      »Mama, ich ...«, versuchte Elisabeth den Redefluss ihrer Mutter zu unterbrechen, dennoch blieb der Erfolg ihres Versuchs aus und die sich überschlagende Stimme ihrer Mutter prasselte weiter wie kühler Regen auf sie hernieder.

      »Jedenfalls erwarten ich und dein Vater dich nächste Woche Samstag. Bring dein Rosenkleid mit, oder lieber das mit den Orchideen, jedenfalls eins mit dezentem Ausschnitt. Wir wollen ja nicht, dass Ewalds Sohn – ich glaube er heißt Sebastian, WOLFGANG?! EWALDS SOHN HEIßT DOCH SEBASTIAN, NICHT?! Ha, wusste ich es doch – na ja, er soll jedenfalls nicht denken, dass du leicht zu haben bist.«

      Elisabeth zuckte zusammen. »Da kann ich nicht, Mama«, entgegnete sie, ihre Emotionen unterdrückend, während sie mit Gewalt den Nagel des Daumens in das weiche Fleisch ihres Zeigefingers drückte. »Ach, was hast du denn so Wichtiges vor?«

      Elisabeths Gedanken überschlugen sich, während sie krampfhaft versuchte, eine Ausrede aus ihrem Dilemma zu finden. »Na, dann ist die Sache klar. Bis Samstag dann um 11 Uhr.«

      Elisabeth wollte ihr noch etwas entgegnen, doch bekam keine Möglichkeit mehr dazu, da ihre Mutter bereits aufgelegt hatte und nur noch ein rhythmisches Tuten im Ohr zurückließ.

      Die Szenerie aus vorbei fahrenden Autos, Mofas und wild schimpfenden Radfahrern hatte ihren Blick festgehalten, während sie ihre Hände im Schoß abgelegt hielt. Wie sehr sie es doch hasste, von ihrer Mutter überrumpelt zu werden. Noch mehr jedoch missfiel ihr der Umstand, jener in all den vergangenen Jahren nicht einmal die Stirn geboten zu haben.

      Mit geröteten Wangen und verengten Augen brannte sich Elisabeths wütender Blick über die Straßen hinweg. »Er soll jedenfalls nicht denken, dass du leicht zu haben bist«, äffte sie ihre Mutter nach und sank dabei auf der Bank in sich zusammen. An das Lesen jenes Buches, welches nunmehr unbeachtet neben ihr auf dem verschlissenen Holz lag, war nicht mehr zu denken. Sie seufzte.

       Kapitel VII

      12. des Ankh 534 | Waldstück kurz vor den Berge

       des westlichen Rings

      Die Hufe versanken im schlammigen Untergrund, der das massige Pferd samt dessen Reiter nur schwer tragen konnte. Schnaufend kämpfte sich der braune Hengst durch das dichte Gestrüpp, welches sich im Laufe des letzten Jahres gebildet hatte. Merin seufzte, als er erkannte, dass es auf dem Pfad so nicht weiter ging. Er hob sein linkes Bein an und ließ sich elegant von Rücken seines Tieres rutschen.

      Beim Auftreffen der Sohlen seiner kniehohen Wildlederstiefel stob Matsch auf, der sogleich zähflüssig in alle Richtungen davon eilte. Wieder seufzte er und versuchte einen Blick über das Gestrüpp hinweg, in Richtung des bewaldeten Berges im Zentrum der Kette zu erhaschen. Dort hin hatte es ihn all die Jahre wieder, an jedem 15. Nimh, gezogen und er hatte diesem, sich stetig gestiegenem Drang, jedes Mal nachgegeben.

      Merin drehte sich seinem Hengst zu und ergriff jene an der Seite des Sattels angebrachten Lederriemen, die seinen Stab die Reise über fest im Griff gehalten hatten. Er erlöste sie von ihrer wichtigen Aufgabe und umschloss das glänzende Holz, welches unter seinem Griff zu vibrieren begann. Sanft streichelte er mit der weiteren Hand dessen Oberfläche und begann zu lächeln. Er bedeckte die Silberkugel, die im Zentrum der Spitze lag und von einer hölzernen Hand fest umklammert wurde, mit seinen Lippen, bevor er die Zügel des Geschirrs an dem schweren, herab hängenden Ast einer ihm nebst gestandenen Eiche lose anband und auf das Dickicht zutrat. Dort angekommen drehte er seinen Magierstab anmutig in der Hand, während eine Strähne seines dunkelblonden, mittellang gehaltenen Haares ihm in sein kantiges Gesicht fiel.

      Zeitgleich der angespannten Mime, zog er mit Zuhilfenahme der metallischen Spitze eine Linie zwischen sich und der blättrigen Wand vor ihm. Das Silber, welches nunmehr überzogen von modrig riechender Erde war, hatte seinen Glanz verloren, als er den Stab erneut geschickt in seiner Hand wendete und mit der verdreckten Spitze auf das Ziel seiner Reise deutete. »Lass mich passieren!«, donnerte seine tiefe Stimme, welche schmerzhaft aus seiner Kehle drang, in den Wald hinein. Nun wartete er, während sein Herz schwer in seiner Brust lag und müde seine Arbeit verrichtete. Doch nichts folgte seiner Bitte.

      Der Gesang von Singvögeln hüllte die traurige Szenerie. War die Natur etwas, das man nur schwer kontrollierte, da sie seit Anbeginn der Zeit ihren eigenen Willen, der weit ab der Reichweite von Magie lag, besaß.

      Die Sekunden verstrichen und bildeten nicht endend wollende Minuten, in denen Merin weiter im matschigen Untergrund versank. Hier und da, im Schutz der gesäumten Bäume, sammelten sich neugierig leuchtende, bläulich schimmernde Lichtkugeln und beobachteten ihn.

      Merin wiederholte seine Geste abermals, doch auch dieses Mal geschah nichts. Unter den glühenden Blicken der Irrwische schloss er seine Augen. Wenn er diesen Weg nicht nehmen konnte, dann bliebe ihm genau noch einer. Dieser jedoch würde ihn eine weitere Tagesreise kosten. So viel Zeit hatte er nicht. Blieben ihm doch nur noch eine Hand voll Nächte, um ein Opfer zu finden.

      Merin wurde zornig ob jenes Gedankens und seine Wangen nahmen ein leichtes Rot an. Diese Aufgabe hätte Grindelwald Bardur genauso gut übertragen können, warum also er? Schwer knackte das Holz einer alten Eiche, die vom aufgekommenen Windstoß taumelte. Gold glänzender Saft rann just aus ihren aufgeplatzten Rindenstücken heraus und lief zäh an deren Stamm herab.

      Merin fasste sich an die Nase und senkte sein Haupt. »Bitte,