Milena Himmerich-Chilla

534 - Band I


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seinen Jutebeutel zurückgelassen hatte, nebeneinander lagen. Der Hinterste, der schief gegen seinen Nachbarn lehnend lag, war das Ziel seines Bestrebens gewesen. Dessen Kragen umschlossen seine Finger, als er jenen gleich darauf schleifend über den Boden zu Lilith herüberzog, welche puppengleich in ihrer inszenierten, betenden Haltung ruhte.

      Er biss sich auf die Lippen, als seine Hände nervös am Seil nestelten, das um die Öffnung des Sackes geschlungen war, bis jenes sich löste und er ein pralle, mit Schafswolle gefüllte Decke hervorholte. Mit jenem Gegenstand in seinen Händen schob sein Fuß den leeren Sack beiseite. Erst als der Untergrund frei von jedweder Störung war, legte er behutsam die Decke aus und richtete sie sorgfältig.

      Prüfend betrachtete er sein Werk, bevor er sich auf der Stelle stehend drehte, in den grauen Sarg griff und er seine Arme vorsichtig um das zerbrechliche Wesen schlang. Er hielt das Mädchen, bedacht darauf, sie nicht zu verletzen, im festen Griff, und stemmte ihren Körper laut schnaufend aus seinem Rücken hinauf. Der aufgekommene Schmerz war ihm jedoch egal. Wichtig war ihm nur Lilith in seinen Armen, dennoch würde er seinen begangenen Fehler nicht noch einmal wiederholen.

      Der Decke zugewandt, ging Merin in die Knie und ließ den regungslosen Körper hinab auf die gepolsterte Unterlage gleiten, wobei sich ihre Hände von selbst aus ihrer betenden Geste lösten.

      Noch immer war sein Mund trocken. Auch das zügige Leeren eines der Trinkbeutel hatte ihm hierbei keine Linderung verschaffen können. Ihm war hingegen, als hätte die bereits herrschende Nacht, welche ausgesperrt vor der Höhle lag, jenes Durstgefühl verstärkt.

      Langsam schob sich sein Arm um Liliths Schultern, bevor er selbst den Oberkörper so gebeugt hielt, dass ihr Gesicht seine Schulter berührte. Er spannte seine Muskeln an und richtete sich, ihre Schulter umklammert, im Knien auf. Liliths Kopf legte sich hierbei in den Nacken, während ihr Mund sich ein wenig öffnete. Merins Brust löste sich augenblicklich etwas von ihrem Körper, so dass er ihr Gesicht mustern konnte. Das schmale Kinn war ihm entgegen gereckt.

      Mit seiner freien Hand ergriff er das graue Haar und legte es ihr über den Ansatz des Busens. Blind ertastete er das schmale Band, welches er das Jahr zuvor bedächtig in die Ösen der Rückseite ihres Kleides gewoben hatte. Endlich gelangten seine Finger an die kleine Schlaufe. Diese löste er mit einem sanften Ruck, darauf folgend auch jenen Stoff, der um ihren Oberkörper lag. Bedacht, die hilflose Gestalt in seinen Armen nicht fallen zu lassen, entledigte er sich ihres Kleides, bis sie nackt vor ihm lag.

      Merin stach es im Hals, als nunmehr auch das Atmen der Trockenheit seines Mundes unterlag. Er zwang sich, nicht genau hinzusehen, dennoch war dies über die Jahrhunderte schwieriger geworden, als noch zu Beginn.

      Sich seiner Erziehung bewusst ermahnend, zog er den Blick von ihrem Hals und richtete ihn auf die ausladende Schale, welche gefüllt mit klarem Wasser neben ihm stand. Ungeschickt griff er hinein, packte den darin treibenden Stofflappen und schob ihn über jenes Stück Waschseife, das er eingeklemmt zwischen seinen Schenkeln mehr schlecht als recht fest hielt, bevor er sich ihrem Rücken mit dem getränkten Stoffstück zuwandte und so ihren Körper vorsichtig wusch. Der Rücken war bei ihrem Waschen immer das Schwierigste gewesen, doch nun würde es das letzte Mal sein, dass er diese Prozedur vollzog. Ein wenig schmerzte ihn jener Gedanke. In all den Jahren war sie fester Bestandteil seines Lebens geworden. Jedoch wurde dieses kurze, aufflackernde Negativgefühl vertrieben von jener Vorfreude auf ihr Erwachen. Er verlor zwar etwas ihm Liebes, erhielt dafür jedoch etwas viel Wertvolleres, die Chance, es dieses Mal richtig zu machen. Nicht wieder würde er sie an einen anderen verlieren. Wollte er sie schon damals, war aber zu feige gewesen ihr seine Gefühle rechtzeitig darzulegen. Stattdessen kam ihm Theodor in die Quere und das Glück, welches er bis dato in Liliths Augen gedacht hatte, verheißungsvoll flackern zu sehen, war mit einem Mal erloschen. Statt ihn, war sie im Begriff gewesen den Alben zu heiraten. Dies hätte er unter keinen Umständen zugelassen. So hatte er sich damals bereitwillig Grindelwald angeschlossen, in der Hoffnung, dass dessen Versprechungen wahr werden würden. Sie war sein. Nichts und niemand würde sie ihm je wieder wegnehmen.

      Ihre Lippen schmiegten sich nachgiebig an die Seinen, während sich ihr süßlicher Geschmack mit dem ganz eigenen Geruch nach Sommerflieder mischte.

       Kapitel VIII

      Zeitgleich | Festung Nimro – Bibliothekszimmer

      Als die ersten Sonnenstrahlen durch die schmalen, hochragenden Fenster drangen und sich dabei über den speckigen Steinboden ergossen, trat Grindelwald aus dem Schatten heraus. Er humpelte, schwer auf seinen Stab gestützt, hin auf das linke der drei Pulte zu, welche sich im Zentrum des spartanischen Raumes befanden. Wartend lag dort das in schwarzem Leder gebundene Buch. Dessen Einband war weder aufwendig gearbeitet, noch wirkte das Werk durch die bestechende Schlichtheit besonders lesenswert. Doch der erste Schein trog, das wusste Grindelwald.

      Sein Ziel erreichend, legte er ehrfürchtig die linke Hand darauf ab. Dabei fühlte er die Wärme des Buches, welches unter seiner Handfläche ruhig zu atmen schien. Sanft strich er sogleich über den Einband.

      Jene Geste wiederholte der Magier mehrere Male, bis sich das Buch unter der zuteilgewordenen Zärtlichkeit räkelte, schüttelte und sich ohne ein Zutun von selbst an jener Stelle aufschlug, aus der das blutrote Lesezeichen heraus ragte. Das begleitende Rascheln der blätternden Seiten wurde dabei von den kargen Wänden wider geworfen und verklang als Echo im Nichts.

      Als Grindelwalds Blick seines rechten Auges, während das Linke wild zuckend einmal mehr sein Eigenleben führte, über das vergilbte Büttenpapier zog, umgriff er das Holz des Lesepults fester. Das Weiß seiner Knöchel trat augenblicklich unter der braungeflecken Haut hervor.

      Jenes Werk war der Schlüssel. Hatte er doch so viel Zeit und Energie dafür aufwenden müssen, aber es hatte sich gelohnt. Daran hielt der alte Magier fest. War doch sein Ziel mit dessen Erhalt in greifbare Nähe gerückt. Das konnte er in jeder Faser seines Körpers spüren.

      Grindelwald strich vorsichtig über das raue Papier, wodurch das Buch sich, von Zuneigung übermannt, unter der wohltuenden Berührung wand und die handgeschriebenen Passagen auf den zuvor leeren Seiten preisgab. Dies bildete den lang ersehnten Moment.

      Grindelwald lehnte sich just mit knirschenden Gelenken nach vorn, während er den Rand der Buchseiten kontinuierlich weiter streichelte und somit das Buch zufrieden stellte. Wollte er doch nicht, dass die aufgekommene Information all zu schnell wieder verschwand.

      So studierte er, mit angespannter Miene, die erschienen Zeilen und brannte sich deren Wissen ein. Sein Blick zuckte hierbei hin und her, während er die zahlreichen Zeilen hinab, bis knapp oberhalb des Textendes, in sich aufsog. Dann endlich las er sie, jene Information, die ihm gefehlt hatte und mit deren Hilfe er Lilith zurückholen konnte. Ganz weit unten im Text hatte sie, verborgen zwischen Nichtigkeiten, gelegen. Wie ein Goldstück im Bergbach, vergraben unter wertlosem Kiesel.

      Grindelwalds Augen weiteten sich, wobei das Lächeln, welches auf seinen Lippen thronte, alles andere als freundlich war. Euphorisch schlug er seine scharfkantigen, an einigen Stellen abgekauten, Fingernägel in das verwirrte Buch. Jenes verkrampfte sich augenblicklich unter dem plötzlichen Schmerz. Dabei verblassten die handgeschriebenen Passagen. Dies jedoch war für den Magier nicht weiter tragisch, wusste jener doch nun alles, was er wissen musste. Somit war das Buch von einem Moment zum Anderen nutzlos und Ballast zugleich geworden.

      Das wütende Rascheln der zahlreich, um sich schlagenden Seiten wirkte ermüdend auf Grindelwald, der jenes zuklappte und es darauf folgend am Rücken ergriff. Das Buch versuchte sich, ein letztes Mal wild zuckend, aus dem Tod verheißenden Griff zu befreien, als dessen Peiniger bereits schwerfällig auf den offenen Kamin zutrat und kurz davor zum Stehen kam.

      Der flackernde Lichtschein des Feuers brannte sich in die Augen des deformierten Magiers. Dieser begann erneut zu lächeln und entblößte hierbei die gelblichen Zähne. Kurz darauf weitete sich das Lächeln zu einem ausgewachsenen Grinsen aus. Er genoss den Anblick des Feuers und die daraus resultierende Hitze, welche von jenem ausging.

      Sekunden vergingen, bis Grindelwald das Buch an seine Lippen hob. »Ich