der Mädchen bestens Bescheid zu wissen. Das brauchte er nur noch Thiemo zu erzählen und der nächste Plan konnte geschmiedet werden. Einmal als die Mädchen eine Radtour gemacht hatten, sind ihnen die Jungen heimlich gefolgt. Während die Mädchen rasteten, haben sich die Jungen unbemerkt angeschlichen und ihnen die Luft aus den Reifen gelassen, sodass die Mädchen mühsam all ihre Fahrräder aufpumpen mussten, bevor sie weiterfahren konnten. Als sich die Mädchen bei nächster Gelegenheit dafür rächen wollten, waren die Jungen längst vorher gewarnt und hatten ihre Fahrräder vor dem Zugriff der Mädchen verborgen.
Diese Informationsquelle war nun versiegt. Thiemo musste sich selbst etwas einfallen lassen, womit er die Jungen aus seiner Bande beeindrucken konnte. Das fiel ihm unendlich schwer. Bislang hatte er sich auf Ludwig verlassen können. Jetzt war er auf sich allein gestellt. Die Jungen in seiner Bande erwarteten von ihm weiterhin gute Vorschläge und wollten ihren Spaß haben wie vorher, aber den konnte ihnen Thiemo nicht bieten. Dazu fehlten ihm der Überblick und das Wissen, das Ludwig besaß. Bisher konnte er sie noch hinhalten, jedoch allmählich wurden die anderen Jungen fordernder und sprachen ihn zunehmend direkter daraufhin an. Am liebsten wäre Thiemo nicht mehr zu den Bandentreffen gegangen, aber das konnte er sich als ihr Anführer keinesfalls erlauben. Wäre Ludwig doch nur hier. Thiemo war den Tränen nahe.
Vor allem fehlte Thiemo ein guter Freund, dem er sich anvertrauen konnte und mit dem er über alles reden konnte. Ludwig war für ihn da gewesen und hatte ihm zugehört, wenn er ein Problem hatte oder ihn etwas bedrückte. Meistens hatte ihm Ludwig einen guten Rat geben können, aber oft fühlte sich Thiemo bereits besser, wenn er sich ausgesprochen hatte. Zwar hörten ihm auch die anderen Jungen aus seiner Bande zu, wenn Thiemo etwas sagte, jedoch er hatte zu ihnen nicht das Vertrauen, das er zu Ludwig hatte. Im Gegenteil musste er sogar vorsichtig sein, damit er sich keine Blöße gab und ihnen gegenüber eine Schwäche zeigte.
„Bssst“, immer noch suchte die Fliege den Weg ins Freie. Doch was war das? Ein anderes Geräusch mischte sich zu dem Surren der Fliege. Es war der Motor eines großen Lastfahrzeuges. Nur selten verirrten sich größere Autos hier in diese kleine Seitenstraße, in der kaum genügend Platz vorhanden war, um mit einem Personenkraftwagen hinein zu fahren. Höchsten manchmal kamen die Postautos oder andere Lieferfahrzeuge hierher. Sonst mieden die Autofahrer diese enge Gasse.
Das Geräusch näherte sich, bis es unmittelbar unter Thiemos Fenster zum Stehen kam. Er hörte, dass noch rangiert wurde. Dann zischte die Luftdruckbremse und das Motorengeräusch erstarb. Erst jetzt erinnerte sich Thiemo, dass seit einigen Tagen vor dem Haus Parkverbotsschilder aufgestellt waren. „Wegen Umzug“ stand darauf. Mit einem Schlage wurde es Thiemo bewusst. Die Wohnung, in der Ludwig mit seiner Familie gewohnt hatte, stand bislang leer. Es war eine Frage der Zeit, bis neue Mieter dort einziehen würden. Vermutlich war das der Umzugswagen, der die Sachen der neuen Mitbewohner brachte.
Thiemo wurde neugierig. Vielleicht zog ein Junge in seinem Alter in die Nachbarswohnung, den er als neues Mitglied für seine Bande gewinnen konnte. Vielleicht hätte der ähnlich gute Ideen wie Ludwig. Das wäre zu viel des Glücks gewesen. Soviel durfte Thiemo nicht erwarten. Aber ein neues Bandenmitglied wäre nicht schlecht. Thiemo sprang auf und lief nicht mehr träge zum Fenster. Er riss die Vorhänge zur Seite und schaute hinaus. Die Fliege saß noch auf der Fensterscheibe. Thiemo öffnete das Fenster ganz und entließ das Tier in die Freiheit. Er beugte sich hinaus, um besser sehen zu können, was unten auf der Straße vor sich ging. Jedoch hier vom zweiten Obergeschoss aus konnte er nicht viel sehen, da die Straßenbäume ihm mit ihrem Laub einen Teil der Sicht nahmen.
Thiemo schaute auf seine Uhr. Bis zum Bandentreffen war noch Zeit. Aber wenn er jetzt aufbrach, dann begegnete er hoffentlich den neuen Mietern und konnte bei dieser Gelegenheit sehen, wer in die Wohnung einzog. Schnell schaute er ins Zimmer seines jüngeren Bruders. Selbstverständlich gehörte auch Thorben zu Thiemos Bande, obwohl er fast zwei Jahre jünger war. Sein Zimmer war jedoch leer. Thiemo fiel ein, dass Thorben vor zwei Stunden das Haus verlassen hatte, um vor dem Treffen einen Freund zu besuchen.
Also musste Thiemo alleine losziehen. Er schlüpfte in seine Turnschuhe und trat vor die Wohnungstür auf den Hausflur. Voller Erwartungen ging er die ersten beiden Treppenstufen hinunter, als er vom Fuße der Treppe einen riesigen Kistenstapel wankend auf sich zukommen sah. Erschreckt taumelte Thiemo zum Treppenabsatz zurück, da er an dem Stapel unmöglich hätte vorbeikommen können. Langsam kämpfte sich der Kistenberg die Treppe hinauf. Thiemo hielt inne und beobachtete ihn neugierig. Das Ungetüm kam Thiemo immer näher, bis es kurz vor ihm hielt und mit einem Schwung direkt vor seinen Füßen abgesetzt wurde. Beinahe wäre der Kistenstapel auf Thiemos Fuß gelandet, wenn er ihn nicht schnell genug weggezogen hätte.
Hinter dem riesigen Stapel kam ein schmales Mädchen zum Vorschein.
Sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und stöhnte laut: „Puh!“
Thiemo schaute sie verwundert an. Sie war etwa so alt wie er und fast genauso groß. Ihr langes, braunes Haar hatte sie als Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Das T-Shirt, das sie trug, sah verwaschen und fleckig aus. Die Beine ihrer Hose waren auf halber Länge zum Knie abgetrennt und ausgefranst. Das Obermaterial ihrer Leinenschuhe besaß eine undefinierbare, schmuddelige Farbe. Kurzum, sie sah nicht aus, als hätte sie sich zum Ausgehen fein gemacht, sondern als wollte sie arbeiten.
Erstaunt fragte Thiemo sie: „Ziehst du hier ein?“
Das Mädchen blickte überrascht in seine Richtung. Offenbar hatte sie Thiemo erst jetzt bemerkt, da sie mit ihren Kisten zu beschäftigt war.
Keck antwortete sie: „Ja klar. Wonach sieht es denn sonst aus? Oder glaubst du, dass ich die schweren Sachen aus Spaß schleppe?“
Dabei lächelte sie ihn freundlich an. Aber nicht nur ihr Mund, sondern auch ihre kaffeebraunen Augen und das gesamte Gesicht lächelten mit.
Dann fuhr sie fort, wobei sie Thiemo weiterhin freundlich anschaute: „Wohnst du auch hier im Haus oder weshalb fragst du?“
Thiemo war von ihrem bezaubernden Lächeln ganz benommen und antwortete unsicher: „Ja, hier direkt in der Wohnung gegenüber.“
Das Mädchen streckte ihm die rechte Hand entgegen und sagte: „Na denn auf eine gute Nachbarschaft. Ich heiße übrigens Merle und mit Nachnamen Baumann.“
Noch leicht verunsichert ergriff Thiemo ihre Hand und entgegnete: „Ja, eine gute Nachbarschaft wünsche ich auch. Ich bin Thiemo, Thiemo Andresen, um genau zu sein.“
Thiemo war überrascht. Noch nie hatte ein Mädchen so freundlich und offen mit ihm gesprochen. Die Mädchen in seiner Klasse waren allesamt eingebildete Zicken. Wenn er versuchte, mit denen zu sprechen, dann rümpften sie ihre Nasen und wandten sich herablassend ab. Aber Merle verhielt sich anders. Schon in diesem kurzen Gespräch war sie ihm näher gekommen, als bislang irgendein anderes Mädchen, das er kannte. Dennoch war Thiemo etwas enttäuscht. Er hatte auf Nachwuchs für seine Bande gehofft und dafür benötigte er dringend einen Jungen. Ein Mädchen in einer Jungenbande war völlig unvorstellbar.
Daher fragte Thiemo: „Hast du noch Geschwister, vielleicht einen Bruder?“
Merle verstand zwar nicht den Sinn der Frage, aber antwortete pflichtbewusst: „Ja, ich habe einen Bruder. Maxi heißt der.“
Thiemo bemerkte, wie die Freude in ihm aufsteigen wollte, jedoch das Mädchen fuhr fort: „Der ist aber erst fünf Jahre alt.“
Das enttäuschte Thiemo noch mehr. Fünf Jahre waren bei bestem Willen viel zu jung für die Bande. Thorben war immerhin sieben gewesen, als er vor drei Jahren in die Bande aufgenommen worden war. Aber diese Ausnahme war nur möglich gewesen, weil er der Bruder vom Anführer war.
Seine Enttäuschung wollte Thiemo dem Mädchen nicht zeigen und wechselte schnell das Thema: „Gehst du hier zur Schule?“
„Na klar, doch“, gab das Mädchen zurück. „Das lässt sich wohl kaum vermeiden. Meine Eltern haben mich an der Oberschule hier im Stadtteil angemeldet.“
„Dorthin gehe ich auch“, sagte Thiemo und setze nach kurzer Überlegung fort: „Du scheinst etwa so alt zu sein wie ich.“
Merle antwortete: