Frank Springer

Thiemos Bande


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jetzt in die achte Klasse. In die müsstest du dann auch kommen.“

       Das Mädchen erwiderte freundlich: „Na ja, bis vor den Sommerferien bin ich in die siebte Klasse gegangen. Da ich nicht sitzen geblieben bin, müsste ich nach den Ferien in die achte kommen.“

       Thiemo belehrte sie: „Bei uns hat die Schule schon vor zwei Wochen wieder angefangen.“

       Merle riss ihre kaffeebraunen Augen auf und rief wütend: „Was? Dort wo ich herkomme, haben die Schulferien gerade erst vor drei Wochen begonnen. So ein Mist! Dann habe ich in diesem Jahr kaum Ferien gehabt.“

       Sie stampfte zornig mit dem Fuß auf und zu ersten Mal sah Thiemo so etwas wie Ärger in ihrem hübschen Gesicht.

      Thiemo begriff, dass er als Überbringer der schlechten Nachricht ihren kleinen Wutausbruch ausgelöst hatte.

       Da er ihr aus diesem Grund seinen weiteren Anblick ersparen wollte, verabschiedete er sich schnell von ihr: „Ich will dich nicht länger aufhalten. Du hast sicherlich noch viel zu tun. Ich habe auch noch etwas Wichtiges vor. Man sieht sich.“

       „Bis denn“, antwortete das Mädchen.

       Thiemo lief jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinunter. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Merle im zaghaft nachwinkte.

      2. Das Treffen

      Das Gespräch mit Merle hatte ihn aufgehalten und Thiemo musste sich beeilen, um pünktlich zum Bandentreffen zu kommen. Als Anführer durfte er keinesfalls zu spät erscheinen. Das würde seine ohnehin angeschlagene Autorität weiter untergraben. Daher lief er, so schnell er konnte. Unterwegs dachte er an Merle. Einem Mädchen wie ihr war er noch nie in seinem Leben begegnet. Sie war ganz anders als die Mädchen, die er kannte. So ungezwungen und natürlich hatte sich noch keines von denen mit ihm unterhalten.

      Glücklicherweise war das Hauptquartier von Thiemos Bande nicht weit entfernt. Es befand sich auf einem großen unbebauten Grundstück, das mitten in der Stadt zwischen den anderen hohen Altbauhäusern lag. Das Haus, welches hier ursprünglich gestanden hatte, war im letzten Krieg zerstört worden. Die ursprünglichen Besitzer waren dabei umgekommen und die Erben lebten im Ausland. Da sich keiner um das Grundstück kümmerte, ließ die Stadtverwaltung die Trümmer entfernen und einen Zaun um das Gelände aufstellen. Dieser Zaun war in all den Jahren brüchig geworden und hatte überall Löcher bekommen. Auch die Schilder mit der Aufschrift „Betreten verboten“ waren längst verblasst. Nur noch einzelne Reste der Fundamente, die überall auf dem Grundstück zu finden waren, erinnerten daran, dass hier einstmals ein großes Wohnhaus gestanden hatte.

      Auf diesem Gelände trafen sich die Kinder aus dem Viertel zum Spielen, denn es gab dort viel zu entdecken und es bot allerlei Interessantes. Die Jugendlichen kamen ebenfalls hierher und zündeten ihre Lagerfeuer an. Sogar die Erwachsenen nutzten diesen Platz, um verbotenerweise Schutt abzuladen oder für ihre Grillfeste. Es war allen Bewohnern im Stadtteil bekannt, dass niemand das Verbot kontrollierte, dieses Gelände zu betreten. So hatte auch Thiemos Bande auf diesem Grundstück ihren Unterschlupft gefunden. Gut versteckt zwischen wuchernden Büschen lag ein alter Holzschuppen, den früher die Bauarbeiter aufgestellt hatten, die hier die Trümmer beseitigt hatten. Er war verfallen und das Dach hatte viele Löcher bekommen. Aber Thiemo hatte ihn zusammen mit den Jungen seiner Bande soweit hergerichtet, dass sie dort ihre Treffen abhalten konnten.

      Thiemo kannte den Weg genau. Mehr als hundertmal war er ihn gelaufen. Er schlüpfte durch das Loch im Zaun, lief den verborgenen Pfad zwischen den Büschen entlang und stand vor dem Schuppen. Als er eintrat, waren alle anderen Jungen aus seiner Bande bereits dort und warteten auf ihn. Thiemo schaute auf seine Uhr und sah, dass er fast pünktlich war. Selbst sein trödeliger Bruder hatte es rechtzeitig geschafft.

      Sofort wurde Thiemo von Emilio mit den Worten begrüßt: „Na, kommt unser Anführer auch endlich? Wir warten schon auf dich.“

       Emilio war der zweite Anführer der Bande und somit Thiemos Stellvertreter. Er war über ein Jahr älter als Thiemo und fast einen Kopf größer. Dafür war er nicht so kräftig, sondern recht schlank. Seine Mutter behauptete, dass sein Vater ein Italiener war, weshalb sie ihren Sohn Emilio nannte. Keiner wusste, ob das stimmte. Emilio hatte seinen richtigen Vater nie kennengelernt, da er Emilios Mutter vor seiner Geburt verlassen hatte. Seitdem lebte sie mit einem anderen Mann zusammen, den Emilio als seinen Vater akzeptierte. Immerhin gab sein dunkler, lockiger Wuschelkopf Emilio ein südländisches Aussehen.

      Thiemo wusste, dass es Emilio seit einiger Zeit auf den Posten als Anführer abgesehen hatte. Daher musste er jetzt vorsichtig sein.

       Noch während Thiemo überlegte, was er antworten sollte, meldete sich Axel zu Wort: „Was wollen wir heute machen? Was schlägst du vor?“

       Axel war der große Sportler in der Bande. Er war kräftig und besaß einen gut trainierten Körper. Seine blauen Augen schauten unter seiner blonden Strähne hindurch direkt Thiemo an. Thiemo wusste, dass diese Frage ihm galt und dass er endlich eine Antwort geben musste, die alle zufriedenstellte. Den gesamten Vormittag hatte er versucht, sich etwas einfallen zu lassen, mit dem er die Jungen in seiner Bande begeistern konnte, aber ihm war nichts in den Sinn gekommen. Wenn nur Ludwig hier wäre. Der hätte sicherlich eine gute Idee.

      Weil ihm so schnell nichts Besseres einfiel, sagte Thiemo: „Wir können Klingelstreiche spielen.“

       Daraufhin ertönte ein gemeinsames Stöhnen und Thiemo blickte in die gelangweilten Gesichter seiner Freunde.

       Mirko brachte es auf den Punkt: „Klingelstreiche sind doch langweilig. Dabei müssen wir schnell weglaufen und sehen gar nicht, wie sich die Leute ärgern. Außerdem macht es die Leute nur wütend auf uns. Wozu soll das gut sein? Hast du keine bessere Idee?“

       Mirko war in allen Dingen geschickt und hatte einen wachen Verstand. Er war schmächtig, sodass er jünger wirkte. Dabei war er genauso alt wie Thiemo.

      Thiemo schwieg eine Weile lang, da ihm nichts Sinnvolles mehr einfiel, was er hätte sagen können.

       Stattdessen erhob Emilio erneut seine Stimme: „Na gut. Ich bemerke, dass von unserem Anführer keine brauchbaren Vorschläge mehr zu erwarten sind. Mir ist schon seit einiger Zeit aufgefallen, dass von Thiemo kaum noch irgendwelche Ideen kommen.“

       Emilio blickte in die Runde und vergewisserte sich, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren.

       Dann fuhr er fort: „Daher fordere ich, dass wir Thiemo als unseren Anführer absetzen. Selbstverständlich bin ich bereit, dieses Amt zu übernehmen.“

       Thiemo stockte der Atem. Ihm wurde heiß und schwindelig. Er hatte seit langem damit gerechnet, dass früher oder später jemand an ihm als Anführer zweifeln würde, aber er hätte nie erwartet, dass es so bald sein würde. Wut und Enttäuschung trieben zwei kleine Tränen in seine Augen, die zu seinem Glück niemand bemerkte.

      Endlich stellte Emilio die entscheidende Frage: „Wer ist für mich als neuer Anführer? Arm hoch!“

       Axel, Mirko und selbstverständlich auch Emilio hoben ihre Arme blitzschnell. Das verwunderte Thiemo wenig, da Axel und Mirko ohnehin besser mit Emilio befreundet waren als mit ihm.

       Danach stellte Emilio die Gegenfrage: „Und jetzt: Wer ist dafür, dass Thiemo weiterhin unser Anführer bleibt?“

       Thiemo hob unsicher seinen Arm. Mit ihm bewegten ebenso Thorben und Jannick ihre Arme nach oben.

      Thorben unterstütze seinen großen Bruder meistens in den Angelegenheiten, die die Bande betrafen. Das tat er weniger aus Überzeugung, als aus dem Bewusstsein heraus, dass einem ein großer Bruder das Leben unnötig schwer machen konnte, wenn man sich gegen ihn stellte. Jannick hatte sowieso nie eine eigene Meinung und machte immer das, was Thiemo wollte. Thiemo hatte ihn vor einigen Jahren gerettet, indem er Jannick vor fiesen Schlägern bewahrt hatte, die ihn verprügeln wollten. Seitdem war er Thiemo treu ergeben und folgte ihm bedingungslos. Jannick war etwas pummelig und nicht schnell im Denken, aber meist lustig und freundlich.

      Drei zu drei Stimmen. Das war ein Unentschieden. In diesem Fall sahen die Regeln der Bande vor, dass die