Frank Springer

Thiemos Bande


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Wer ist dafür, dass Thiemo weiterhin unser Anführer bleibt?“

       Zaghaft hob Thiemo seine Hand und blickte sich verunsichert um. Keiner von den anderen erhob seinen Arm. Thiemo schaute hilfesuchend zu Thorben und zu Jannick, die ihm bislang die Treue gehalten hatten. Die beiden hatten ihren Blick betroffen zu Boden gesenkt, damit sie Thiemo nicht ins Gesicht sehen mussten, aber ihre Arme blieben unten.

      Emilio fasste zusammen: „Damit wäre diese Frage geklärt.“

       Wütend schrie daraufhin Thiemo: „Macht doch eure Sache alleine, wenn ihr mich nicht mehr haben wollt! Eine Jungenbande ist doch Kinderkram. Da mache ich nicht mehr mit. Seht zu, wie ihr ohne mich zurechtkommt!“

      Dann wandte er sich ab und ging nach Hause. Dort legte er sich auf sein Sofa und weinte. Zum ersten Mal, seitdem er ein kleines Kind war, weinte er wieder. Mit einem Schlage hatte Thiemo alles verloren, was ihm wichtig war. Seine Bande war für ihn sein bisheriger Lebensinhalt gewesen. Dort fand er die Kameradschaft, Anerkennung und Zuversicht, die er dringend brauchte. Das war nun alles zunichte. Was sollte er jetzt ohne seine Bande machen? Bislang war Thiemo der berühmte und von allen geachtete Anführer der bekanntesten und berüchtigtsten Jungenbande im gesamten Viertel. Er mochte sich die Peinlichkeit nicht vorstellen, wenn die anderen erfuhren, dass er nun nicht mehr dieser Anführer war. Jetzt war er ein Nichts, ein absoluter Niemand. Wenn doch nur Ludwig hier wäre. Der wüsste sicherlich einen Rat. Thiemo weinte bitterlich. Er war froh, dass er alleine zu Hause war und niemand ihn sah.

      Noch mehr ärgerte ihn, dass er das Vertrauen, das Merle in der kurzen Zeit zu ihm gefasst hatte, zerstört hatte. Er musste daran denken, wie viel Spaß sie erst heute am Vormittag in der Schule miteinander hatten, als sie gemeinsam in dem Buch gelesen hatten. Thiemo sah ein, dass er einen großen Fehler begangen hatte. Er hätte sich selbst Ohrfeigen können, aber damit hätte er sein Verhalten nicht ungeschehen gemacht. Nie wieder würde er Merle aufrichtig ins Gesicht sehen können. Thiemo war verzweifelt.

      Er lag schon eine ganze Weile auf seinem Sofa und hatte sich mittlerweile ein wenig beruhigt, als er von draußen durch das offene Fenster ein Pfeifen hörte. Sofort kam es ihm bekannt vor, denn Emilio hatte die Angewohnheit, beim Gehen manchmal ein Liedchen vor sich hinzupfeifen. Thiemo stand auf und ging zum Fenstern. Er wischte sich seine Augen trocken und schaute hinaus. Tatsächlich konnte er durch das Laub der Straßenbäume Emilio entdecken, wie er die Straße entlang geschlendert kam.

       ,Sicherlich hat Emilio eingesehen, dass es falsch war, mich als Anführer abzusetzen, und möchte sich bei mir dafür entschuldigen‘, dachte sich Thiemo.

      Emilio steuerte tatsächlich auf den Hauseingang zu. Thiemo konnte sein Glück nicht fassen. Emilio wollte ihn wahrhaftig besuchen und das nach alledem, was geschehen war. Schnell rannte Thiemo zur Wohnungstür, um sie zu öffnen, sobald Emilio klingelte. Thiemo legte sein Ohr an die Tür und horchte. Er hörte, wie unten die schwere Haustür geöffnet wurde und jemand die Treppen zu ihm hinaufstieg. Danach vernahm er deutlich die Schritte auf dem Treppenabsatz. Gleich in wenigen Sekunden würde Emilio bei ihm klingeln. Thiemo war ganz aufgeregt. Er nahm den Türgriff in die Hand, um die Tür aufzureißen, sobald er den ersten Klingelton hörte.

      Es klingelte. Thiemo wollte schon die Tür mit einem Schwung öffnen, als ihm auffiel, dass irgendetwas nicht stimmte. Er hielt inne und überlegte kurz. Das war nicht die Klingel zu seiner Wohnung, die er gehört hatte. Es war die Klingel von der Wohnung gegenüber, von Merles Wohnung. Thiemo war verwirrt. Was wollte Emilio bei Merle? Thiemo presste sein Ohr noch fester gegen seine Tür, um möglichst jedes einzelnen Wort verstehen zu können, das auf dem Hausflur gesprochen wurde.

      Merle öffnete ihre Tür und fragte überrascht: „Hallo, was willst du denn hier?“

       Emilio antwortete: „Ich möchte mich bei dir entschuldigen für vorhin. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was in Thiemo gefahren ist. Sonst ist er nie so. Bitte denke nicht von uns, dass wir sein Verhalten gut finden und damit einverstanden sind, was er mit dir gemacht hat. In Wirklichkeit sind wir alle ganz nette Kerle.“

       Thiemo war es peinlich, dass sich ausgerechnet Emilio für sein Verhalten bei Merle entschuldigen musste. Am liebsten wäre er auf den Treppenflur hinausgestürmt und hätte selbst mit dem Mädchen gesprochen, aber er wusste, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Daher lauschte er weiter.

       Merle entgegnete freundlich: „Magst du nicht hereinkommen? Wir können uns drinnen besser unterhalten.“

       Thiemo konnte zwar durch die Tür hindurch ihr Gesicht nicht sehen, aber er spürte, dass sie lächelte. Er war glücklich, dass sie wieder lächeln konnte.

       „Ja, gerne“, erwiderte Emilio und trat ein. Thiemo hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloss.

      Thiemo wollte abwarten, bis Emilio wieder aus Merles Wohnung herauskam. Währenddessen stand er hinter seiner Tür und passte auf. Nach über einer Stunde war es endlich soweit.

       ,Was hat Emilio so lange bei Merle gemacht?‘, fragte sich Thiemo und belauschte die beiden.

       Emilio verabschiedete sich von Merle: „Bis morgen.“

       „Ja, bis morgen, Emilio“, entgegnete Merle.

       Die beiden klangen dabei sehr vertraut miteinander. Thiemo hörte, wie Emilio die Treppe hinunterging und Merle die Tür schloss. Er zog sich daraufhin in sein Zimmer zurück und wollte niemanden mehr sehen.

      5. Der Überfall

      Als Thiemo am nächsten Morgen das Klassenzimmer betrat, saß Merle neben Emilio. Auf den freien Platz neben Thiemo hatte sich Bertram der Klassenstreber gesetzt, den keiner von seinen Mitschülern mochte. Aber Thiemo störte das nicht. Im Gegenteil war er froh, dass er großen Abstand zu seinen ehemaligen Bandenmitgliedern und zu Merle hatte, denn dadurch wurde er möglichst wenig an seine Niederlage erinnert. Thiemo sprach in den nächsten Tagen so gut wie gar nicht mit irgendjemandem. Selbst mit Thorben wechselte er nur die allernotwendigsten Worte. Dafür fiel ihm auf, dass sich Merle meist in der Nähe von Emilio aufhielt und er auch ihre Nähe suchte. Von Thiemo hingegen hielt sich Merle fern. Sie ging ihm aus dem Weg. Obwohl sie den gleichen Schulweg hatten, vermied Merle es, ihn gemeinsam mit Thiemo zu gehen.

      Zwei Tage später stieg Thiemo in Gedanken versunken die Treppe hinauf. Er hatte gerade einige Utensilien für die Schule eingekauft und kam nach Hause, als Merle auf dem Treppenabsatz zwischen zwei Stockwerken unerwartet vor ihm stand. Sofort drückte sie sich ängstlich in eine Ecke und hielt ihre Arme schützend vor ihren Körper.

       Mit angstvoll zitternder Stimme sagte sie zu Thiemo: „Bitte tu mir nichts. Geh weg! Ich fürchte mich vor dir.“

       Thiemo entgegnete: „Du brauchst doch vor mir keine Angst zu haben. Ich tue dir nichts.“

       Das Mädchen antwortete: „Ich glaube dir kein Wort.“

       Thiemo wollte ihr noch etwas Versöhnliches zur Beruhigung sagen, aber ihm fiel nichts ein und er ging wortlos an ihr vorbei. Nachdem er sie passiert hatte, lief Merle schnell die Treppe hinunter, als wenn sie vor ihm fliehen wollte. Thiemo hatte ein schlechtes Gewissen. Er wollte nicht, dass Merle vor ihm Angst hatte. Er musste erneut schmerzlich einsehen, dass er alles zunichte gemacht hatte, was zwischen ihr und ihm gewesen war. Thiemo fühlte sich traurig und einsam.

      So verging fast eine ganze Woche, ohne dass Thiemo jemanden hatte, mit dem er sprechen mochte. Mit seinen Eltern hätte er zwar sprechen können, aber die hatten keine Ahnung davon, wie es ihm ging. Schließlich überwand er sich und sprach mit seinem Bruder. Thorben erzählte ihm, dass sich die Bande nur noch selten traf und dass sie kaum noch gemeinsam etwas unternahmen. Außerdem berichtete er, dass Emilio meist mit Merle zusammen war. Es machte Thiemo noch trauriger, dass die Bande durch seinen Fehler auseinanderzufallen drohte. Immerhin hatte er die bekannteste und berüchtigtste Jungenbande im gesamten Viertel gegründet und war stolz darauf. Auch wenn er nicht mehr dazu gehörte, sollte wenigsten die Bande weiter bestehen bleiben.

      Die einzigen, die Thiemo noch mit gewissem Respekt behandelten, waren die Mädchen aus der Clique. Wenn es auch nur der Respekt war, der Feinden gegenüber gezeigt wurde, so genoss Thiemo diesen