Frank Springer

Thiemos Bande


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von dem Schrecken.

       Mit leicht zittriger Stimme verkündete er: „Seht ihr? Eure Stimmen reichen nicht aus, um mich abzusetzen. Ich bleibe also weiterhin euer Anführer.“

       Ein allgemeines Gemurmel erhob sich. Thiemo wartete geschickt ab, bis sich die Unruhe gelegt hatte.

       Dann verkündete er: „Um dies zu feiern, lade ich euch zum Eisessen ein.“

      Ein einstimmiger Jubel ertönte daraufhin, denn mit Eisessen konnte Thiemo seine Freunde immer beeindrucken, insbesondere, wenn er sie einlud. Damit waren sofort alle einverstanden. Allerdings wirkte sich dies negativ auf seine Finanzen aus. Zwar bekam Thiemo nicht wenig Taschengeld, trotzdem konnte er seine Freunde davon nicht zu oft einladen, ohne seine finanziellen Mittel überzustrapazieren. Heute jedoch war es notwendig und gerechtfertigt, um zumindest einen Teil seines Ansehens bewahren zu können. Also zogen die sechs los zur nächsten Eisdiele und bestellten sich ihre Portionen, die sie genüsslich schleckten. Bei diesem heißen Wetter war das ein genialer Einfall von Thiemo.

      Dabei sprachen sie nicht viel. Thiemo war dankbar dafür, denn jedes Wort hätte das Problem, dass ihm keine guten Pläne für seine Bande mehr einfielen, deutlich werden lassen. Er war sich darüber im Klaren, dass das denkbar knappe Ergebnis der Abstimmung keinen wirklichen Sieg bedeutete, sondern ihm nur einen kleinen Aufschub gewährte bis zu ihrem nächsten Treffen. Wenn ihm bis dahin nichts Überzeugendes eingefallen war, dann wäre damit seine Zeit als Anführer der bekanntesten und berüchtigtsten Jungenbande im gesamten Stadtviertel zu Ende. Trotzdem ließ sich Thiemo das Eis schmecken und war froh, dass danach das Bandentreffen beendet war und sie auseinandergingen.

      Nachdenklich schlenderte Thiemo allein nach Hause. Thorben hatte etwas anderes vor, sodass er Thiemo nicht auf dem Rückweg begleitete. Thiemo grübelte. Eine Niederlage hatte er noch gerade abwenden können, aber er musste sich endlich etwas einfallen lassen, sonst waren seine Tage als Anführer gezählt. Wenn doch Ludwig hier wäre.

      Für den Rückweg benötigte Thiemo viel länger als für den Hinweg. Als er ans Haus kam, stand der Lastwagen noch dort. Viele fleißige Hände entluden das Fahrzeug und trugen die Kisten und Möbel nach oben in die Wohnung. Merle befand sich nicht unter den Helfern. Thiemo vermutete, dass sie in der Wohnung ihre Sachen auspackte.

      Heute ließ Thiemo sein Mittagessen ausfallen. Einerseits hatte er gerade Eis gegessen, andererseits hatte er keinen Appetit mehr. Außerdem war es viel zu spät zum Mittagessen geworden. Seine Mutter hatte die Portionen für ihn und Thorben warmgehalten, da beide zur Mittagszeit unterwegs waren. Sie seufzte, als sie spürte, dass Thiemo nicht zum Essen und noch viel weniger zum Reden zumute war.

      Missmutig ging Thiemo in sein Zimmer und schloss hinter sich die Tür. Er legte sich aufs Sofa und dachte an Ludwig und die Ereignisse bei dem Bandentreffen. Dann dachte er an Merle. Die Begegnung mit ihr war ihm lebhaft in Erinnerung geblieben, auch wenn sie nur kurz war. Irgendwie wünschte er sich, Merle wiederzusehen. Er wusste nicht, weshalb er sich das wünschte. Vielleicht war es, weil sie so angenehm anders war als die anderen Mädchen. Vielleicht war es ihr freundliches und offenes Lächeln, das ihn anzog.

      Thiemo döste vor sich hin. Er hörte, dass in der Nachbarwohnung geräumt und gearbeitet wurde. Als Thorben nach Hause kam, ging Thiemo ihm aus dem Weg. Er wollte ihm nicht begegnen und erst recht nicht mit ihm sprechen. Das würde ihn zu sehr an die Abstimmung bei dem heutigen Bandentreffen erinnern. Thiemo war traurig und wütend.

      In Gedanken versunken klopfte Thiemo mit seinen Handknöcheln Klopfzeichen an die Wand neben dem Sofa. Früher wohnte Ludwig in dem Zimmer, das direkt an sein Zimmer grenzte. Daher hatten sie sich oft mit diesen Klopfzeichen verständigt. Doch jetzt war dort kein Ludwig mehr, der auf diese Zeichen hätte antworten können. Trotzdem klopfte Thiemo aus Gewohnheit weiter an die Wand. Nach einer Weile hörte Thiemo, dass von der anderen Seite zurück geklopft wurde. Es waren nicht die bekannten Zeichen, sondern ein unregelmäßiges Klopfen. Thiemo presste sein Ohr an die Wand, um besser hören zu können. Ganz schwach hörte er durch die Wand ein helles, freundliches Mädchenlachen.

      3. Die Neue

      Den ganzen Sonntag war Thiemo mit seinen Eltern und seinem Bruder unterwegs auf einem gemeinsamen Familienausflug in einem Naherholungsgebiet, durch das sie eine ausgedehnte Wanderung machten. Ihre Verpflegung hatten sie in Rucksäcken mitgenommen, damit sie für den gesamten Tag versorgt waren. Thiemo war froh, dass er durch die Einsamkeit wandern konnte, ohne viel denken oder reden zu müssen. Abends sank er müde ins Bett und schlief sofort ein, ohne dass er weiter nachgrübeln konnte.

      Am Montag früh fiel es Thiemo unendlich schwer aufzustehen. Er wollte nicht zur Schule gehen und dort auf die anderen aus seiner Bande treffen. Ausgerechnet Emilio, Axel und Mirko gingen in seine Klasse. Diese drei waren bei der Abstimmung seine Gegner gewesen. Emilio war zwar ein Jahr älter als Thiemo, aber er musste ein Schuljahr in der Grundschule wiederholen, weil er längere Zeit krank gewesen war, weshalb er jetzt in Thiemos Klasse ging. Jannick war eine Klasse unter ihm und Thorben sogar zwei, sodass Thiemo keinen Verbündeten in seiner Klasse hatte, der ihn hätte unterstützen können.

      Dann musste Thiemo an Merle denken. Vielleicht würde er ihr in der Schule begegnen. Vielleicht würde sie in seine Klasse kommen. Allein diese Vorstellung heiterte ihn auf und er sprang mit Anlauf aus seinem Hochbett, ohne die Leiter zu benutzen, wobei er sich beinahe den Knöchel verstaucht hätte, da das Bett recht hoch war. Schneller als sonst duschte er und zog sich an, um nach einem kurzen Frühstück aufzubrechen. Als er in den Hausflur trat, blickte er sich um, ob er Merle entdecken konnte, aber das Mädchen war nirgends zu sehen. Er wartete auf dem Treppenabsatz, bis es fast zu spät war, um rechtzeitig zum Unterrichtsbeginn zu kommen. Nachdem Merle noch immer nicht aufgetaucht war, sprintete Thiemo los, um sich nicht zu verspäten.

       „So ein Mist“, murmelte Thiemo, „vermutlich ist Merle schon viel früher losgegangen.“

      Gerade noch pünktlich zum Klingelton betrat Thiemo den Klassenraum. Alle anderen Schüler saßen dort bereits auf ihren Plätzen, nur von Merle war nichts zu sehen. Auch seine Klassenlehrerin, bei der er jetzt Unterricht haben sollte, war noch nicht da. Thiemo setzte sich gelassen auf seinen Platz und wartete mit den anderen. Dabei wagte er nicht, sich nach Emilio, Axel oder Mirko umzusehen, sondern verhielt sich möglichst unauffällig. Es war unruhig in der Klasse. Jungen schwatzten und Mädchen tuschelten.

      Viele der Mädchen in Thiemos Klasse gehörten zu der verhassten Mädchenclique, die Thiemo mit seiner Bande bekämpfte. Unter ihnen befanden sich die beiden Anführerinnen der Clique Laetitia und Felicitas. Sie nahmen dieses Amt gemeinsam wahr, da sie Zwillingsschwestern waren und sowieso alles gemeinsam taten. Die beiden waren fürchterlich reich und wurden jeden Morgen in einer Luxuslimousine mit einem Chauffeur zur Schule gebracht und nachmittags abgeholt. Ihren Eltern gehörte in der Stadt ein großes Kaufhaus, in dem ausschließlich teure Luxusartikel verkauft wurden. Der Treffpunkt der Mädchenclique befand sich in der Villa ihrer Eltern, in der es einen riesigen Partykeller gab, in dem die Mädchen zusammenkamen. Bis dorthin hatte sich allerdings noch keiner der Jungen vorgewagt.

      Äußerlich konnte die Zwillingsmädchen keiner auseinanderhalten, da sie völlig gleich aussahen. Darüber hinaus zogen sich Laetitia und Felicitas immer gleich an, was eine Unterscheidung anhand ihrer Bekleidung unmöglich machte. Dabei kleideten sie sich ausschließlich in rosa Farbtönen. Nur manchmal zogen die beiden zur Abwechslung etwas in Pink an. Es gab Behauptungen, dass sogar ihre Unterwäsche rosa war, aber die hatte noch keiner der Jungen zu Gesicht bekommen, sodass dies ein Gerücht blieb, das sich hartnäckig hielt. Meistens trugen die Zwillingsschwestern rosafarbene Kleidchen und hatten ihre langen, blonden Locken mit rosa Schleifchen gebunden oder mit rosa Haarreifen zurückgesteckt. Da sie ohnehin nicht zu unterscheiden waren, machte sich keiner von den Jungen die Mühe, sie Laetitia oder Felicitas zu nennen, sondern bezeichneten sie nur als die beiden Rosas.

      Bisher fand es Thiemo schlimm, dass er gegen zwei Anführerinnen antreten musste, wenn er etwas gegen die Mädchenclique unternehmen wollte. Seitdem Ludwig nicht mehr da war, fing er an, die beiden zu beneiden. Sie konnten sich austauschen und beraten, so wie er es früher mit Ludwig gemacht hatte. Nun war Thiemo im Gegensatz zu den Zwillingsmädchen