Frank Springer

Thiemos Bande


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im Verborgenen stattfanden. Solange die Jungen keine Aktionen gegen die Mädchenclique durchführten, konnte sich Emilio auch nicht als ihr neuer Anführer hervortun. Die Mädchen wunderten sich vermutlich, dass sie in der letzten Zeit von der Jungenbande nicht mehr geärgert wurden.

      An einem der folgenden Nachmittage hatte Thiemo einige Bücher in die Bücherei zurückgebracht, die er sich über die Ferien ausgeliehen hatte und die seitdem mehrfach angemahnt worden waren. Es waren Detektivgeschichten, die er für sein Leben gerne las. Die Sonne schien und es war warm. Um dieses Wetter zu genießen, nahm Thiemo den Rückweg durch den großen Park, der mitten im Viertel lag. Außerdem war dies eine kleine Abkürzung. Obwohl der Park schön angelegt war, waren zu dieser Zeit kaum Besucher unterwegs. Wahrscheinlich mussten die meisten Leute noch arbeiteten. Thiemo hatte es nicht eilig, weil er ohnehin nichts mehr an diesem Tag vorhatte außer Hausaufgaben. Die konnten aber warten, da er keine große Lust verspürte, sie zu erledigen.

      Thiemo schlenderte gemütlich den Parkweg entlang und schaute verträumt den Eichhörnchen nach, die flink auf den Bäumen und Büschen herumkletterten und verspielt hin und her huschten, als unerwartet etwas in seine Augen stach. Thiemo wollte sich abwenden, da ihm der Anblick unangenehm war. Zwischen dem ganzen Grün tauchte eine Farbe auf, die eindeutig nicht hierher gehörte und die ihn zutiefst anekelte. Etwa zwanzig Meter vor ihm bog von einem Seitenweg Dörte auf seinen Weg ein. Wie immer war sie gänzlich in Rosa gekleidet. Sie trug einen kurzen Minirock in kräftigem Rosa, ein zartrosa Top mit einem lila Herzen auf der Brust und dazu ein Paar pinkfarbene Sneaker, die auffallend neu aussahen. Darüber leuchtete in krassem Kontrast ihr roter Schopf. Allein der Anblick dieser Farben erregte Thiemos Würgereiz. Das Mädchen ging vor ihm her und hatte ihn noch nicht bemerkt oder tat zumindest so. Vermutlich kam Dörte gerade von einem Treffen der Mädchenclique und befand sich auf dem Heimweg.

      In Thiemo stieg der Hass auf dieses Mädchen auf. Er verachtete Dörte dafür, wie sie immerzu vor den beiden Rosas herumkroch, um sich bei ihnen anzubiedern und einzuschmeicheln. Dabei machten die Zwillingsmädchen sich lustig über sie und sahen überheblich auf sie herab. Es war für Thiemo unverständlich, dass ein Mensch sich so weit selbst aufgeben und erniedrigen konnte, um anderen zu gefallen. Er war fest davon überzeugt, dass man so einen Menschen hassen musste. In Gedanken malte Thiemo sich aus, was Dörte alles Schlimmes zustoßen könnte. Die Erde könnte sich auftun und sie verschlucken, ohne dass eine Spur von ihr übrig blieb. Oder ein Blitz aus heiterem Himmel könnte sie auf der Stelle erschlagen.

      Thiemos finstere Fantasien wurden immer lebhafter, als er sich bildhaft vorstellte, was mit Dörte Schreckliches geschehen könnte. Niemals hätte er im Entferntesten geahnt, dass seine üblen Verwünschungen wahr werden könnten. Doch dann geschah es. Überraschend traten seitlich aus einem Gebüsch neben dem Weg eine Junge und ein Mädchen hervor und stellte sich vor Dörte auf. Thiemo kannte die beiden flüchtig vom Sehen. Sie wohnten am Rande des Stadtteils in einem großen, schäbigen Wohnblock. Der Junge war etwa ein Jahr älter als Thiemo und hatte einen kräftigen, gedrungenen Körper, während das Mädchen ungefähr elf Jahre alt war und ähnlich kräftig wirkte. Die Kleidung der beiden war abgetragen und verschlissen. Sie trugen ausgeleierte Jogginghosen und verwaschene T-Shirts. Dörte blieb vor Schreck stehen und schaute die beiden angstvoll an.

      Mit grober Stimme sagte der Junge: „Schau mal an. Was haben wir den hier? Ein Paar nagelneue Schuhe für meine kleine Schwester. Los Bea, schau mal, ob sie dir passen!“

       Dabei zeigte er auf die Sneaker von Dörte.

       Dörte sammelte all ihren Mut zusammen und entgegnete: „Das sind aber meine. Die bekommt ihr nicht.“

       Der Junge wurde bedrohlicher: „Falsch! Das sind jetzt unsere. Rück sie freiwillig raus, sonst holen wir sie uns!“

       „Kommt gar nicht in Frage“, rief Dörte, wobei sich ihre Stimme überschlug.

       Daraufhin machte der Junge einen Schritt auf Dörte zu und schubste sie so kräftig, dass sie zurücktaumelte, das Gleichgewicht verlor und unsanft auf ihrem Hinterteil landete. Sofort versuchte Dörte aufzustehen, aber der Junge war schneller und stellte seinen Fuß auf ihren Bauch, sodass sie sich nicht mehr aufrichten konnte.

       Zu seiner Schwester sagte er: „Los Bea, hol dir die Schuhe!“

       Bea versuchte, Dörte die Sneaker auszuziehen, was ihr nicht gelang, da Dörte nach ihr trat.

       „Au!“, schrie Bea. „Sie hat mich getreten. Mach was, Björn.“

       Nun verlagerte Björn sein Gewicht stärker auf Dörtes Bauch, wodurch ihr die Luft wegblieb und sie sich nicht mehr verteidigen konnte. Bea zog ihr die Schuhe aus, streifte sich ihre eigenen, ausgetretenen Turnschuhe ab und schlüpfte in Dörtes Sneaker.

       „Au fein, sie passen mir“, rief sie triumphierend und warf ihre eigenen Schuhe ins Gebüsch.

      Eigentlich hätte Thiemo jetzt schadenfroh sein müssen bei dem, was mit Dörte geschah, jedoch gelang es ihm nicht. Stattdessen war er schockiert von der rohen Gewalt, die gegenüber dem Mädchen ausgeübt wurde. Obwohl er Dörte hasste und ihr in seinen eigenen Vorstellungen allerlei üble Dinge gewünscht hatte, litt er nun innerlich mit ihr, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Ihm wurde übel davon. Am liebsten hätte er sich übergeben, aber dazu fehlte ihm die Kraft. Vor Entsetzen unfähig, sich zu bewegen, blieb er wie angewurzelt in etwa zehn Metern Entfernung stehen und beobachtete tatenlos das brutale Geschehen. Kurz darauf bereute Thiemo, dass er es nicht geschafft hatte, sich zu verstecken oder wegzulaufen.

       Denn Björn schaute in seine Richtung und rief ihm zu: „Da haben wir ja noch so einen. Los Reichensöhnchen, komm her!“

      Der Schrecken fuhr Thiemo in die Glieder, als ihm klar wurde, dass er jetzt im Mittelpunkt des Interesses der beiden jungen Räuber stand. Aus Angst war er wie betäubt und stand regungslos da, wie zu einer Säule erstarrt.

       „Du sollst herkommen, Reichensöhnchen!“, brüllte Björn ihn an.

       Als sich Thiemo immer noch nicht rührte, ging Björn gefolgt von seiner Schwester auf ihn zu.

       Drohend kommandierte Björn: „Los, rück schon raus! Was hast du für uns?“

       Thiemo vermochte nicht zu antworten, da seine Furcht ihm die Kehle zuschnürte.

       Bea fragte: „Was ist mit seinen Schuhen? Das sind Markenturnschuhe.“

       „Viel zu alt“, entgegnete Björn. „Das lohnt sich nicht.“

       Björn wurde ungeduldig: „Na mach schon! Irgendetwas musst du doch haben. Pack mal deine Taschen aus!“

      Thiemo war gelähmt vor Entsetzen, denn Björn sah brutal und kräftig aus. Thiemo wusste, dass er keine Chancen gegen ihn hatte. Als Thiemo nicht reagierte, packte Björn ihn und hielt ihn fest, sodass er sich nicht bewegen konnte. Er spürte, dass Björn noch viel stärker war, als er befürchtet hatte. Wenn jetzt seine Bande hier wäre, dann würden sie Björn gemeinsam in die Flucht schlagen, auch wenn er noch so stark sein mochte. Aber seine Bande war nicht da. Es war nicht einmal seine Bande mehr. Thiemo gehörte nicht mehr dazu, soweit es sie überhaupt noch gab. Er fühlte sich einsam und allein. Schmerzlich vermisste er in diesem Moment seine Bande, wo er sie dringend brauchte. Er machte sich große Vorwürfe, dass er sie mit seinem eigenen Verhalten zerstört hatte.

      Björn sagte zu seiner Schwester: „Schau nach, was er in seinen Hosentaschen hat!“

       Daraufhin durchsuchte Bea die Taschen von Thiemos Shorts. Es fühlte sich komisch an, wie sie mit ihren Händen darin herumwühlte. Schließlich fand sie einen kleinen Geldschein und zog ihn freudestrahlend hervor.

       Ihr Bruder kommentierte diesen Fund: „Na also, da haben wir ja etwas gefunden. Warum denn nicht gleich so?“

       Thiemo war wütend, da dieser Schein sein Taschengeld für diese Woche war. Bea steckte das Geld ein und Björn gab Thiemo einen kräftigen Stoß, wodurch er vornüber hinfiel und sich das Knie aufschlug. Thiemo war nicht fähig, ein Wort zu sagen. Selbst seinen Schmerzensschrei unterdrückte er.

       Björn rief ihm zu: „Bring beim nächsten Mal gefälligst mehr für uns mit! Verstanden! Sonst verhauen wir dich.“