gleich und sie verfügten meist über das gleiche Wissen, weshalb sie sich kaum gegenseitig ergänzen konnten, so wie Ludwig ihn früher unterstützt hatte. Das aber nahm Thiemo in seiner Trauer und Wut nicht wahr.
In seiner Klasse gab es ein Mädchen, das Thiemo besonders hasste. Das war Dörte Schröter. Mit zwei Ö im Namen, so wie eines davon in blöd vorkommt, sozusagen doppelblöd. Sie kam aus eher einfachen Verhältnissen und lebte zusammen mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder in einer engen Wohnung in einem Mietblock. Ihr Vater hatte die Familie vor langer Zeit verlassen und ihre Mutter musste ihr Studium abbrechen, damit sie sich um ihre Kinder kümmern konnte. Seitdem arbeitete sie als Kassiererin in einem Supermarkt und verdiente kaum ausreichend Geld für die Familie. Aus diesem Grund konnte sich Dörte keine teure Modekleidung leisten, sondern kaufte ihre Sachen im Billigmarkt.
Trotzdem versuchte sie Laetitia und Felicitas in allem nachzueifern. Dörte kleidete sich ebenfalls ausschließlich in Rosa und tat alles, um den Zwillingsschwestern zu gefallen. Dabei passte Rosa überhaupt nicht zu ihren leuchtendroten Haaren. Die Farben bissen sich richtig. Das war ihr jedoch gleichgültig, solange sie glaubte, damit ihre beiden Vorbilder beeindrucken zu können. Dafür nutzten die Zwillingsmädchen sie kräftig aus und ließen sie allerlei niedrige Tätigkeiten erledigen. Außerdem machten sich die zwei hinter ihrem Rücken und manchmal sogar ganz offensichtlich über sie lustig. Das alles schien Dörte nichts auszumachen und sie versuchte, sich immer wieder aufs Neue bei den beiden Rosas einzuschmeicheln. Thiemo fand dieses Verhalten widerwärtig. Auch wenn er Laetitia und Felicitas nicht mochte, so empfand er immerhin eine gewisse Achtung und Respekt für sie, da sie Gegner für ihn waren, mit denen er sich messen konnte. Dörte hingegen verachtete er und behandelte sie mit Abscheu. Aber nicht nur Thiemo hasste sie. Alle anderen Jungen und die meisten Mädchen empfanden genauso.
Die anderen Mädchen in der Klasse fielen nicht übermäßig auf, außer dass sie sich mehr oder weniger in Rosa kleideten wie ihre beiden Anführerinnen. Daher beachtete Thiemo sie nicht weiter.
Als Klassenlehrerin war Frau Rührstedt meist lieb und nett. Nur wenn es Ärger gab, dann konnte sie ausgesprochen streng werden. Deswegen vermieden ihre Schüler, so gut es ging, irgendwelchen Ärger mit ihr. Sonst war sie äußerst pünktlich. Es musste also einen guten Grund geben, weshalb sie sich verspätete. Nach fünf Minuten betrat Frau Rührstedt endlich den Klassenraum und brachte den Grund für ihre Verspätung gleich mit. Einen Schritt hinter ihr kam Merle zur Tür herein.
„Guten Morgen, Kinder“, sprach die Klassenlehrerin voller Schwung in der Stimme.
Ein vielstimmiges „Guten Morgen, Frau Rührstedt“ schallte ihr entgegen.
Die Lehrerin fuhr fort: „Entschuldigt bitte meine Verspätung. Ich habe euch jemanden mitgebracht. Das hier ist Merle Baumann, eure neue Mitschülerin.“
Thiemo hätte sie fast nicht wiedererkannt, denn Merle sah bezaubernd aus. Sie trug ein knielanges, einfach geschnittenes Kleid mit buntem Blümchenmuster und dazu knöchelhohe, offene Sandalen. Um ihr Haar hatte sie sich ein buntes Stirnband gebunden. Bei dem ganzen Rosa im Klassenraum hätte Thiemo niemals geglaubt, dass Mädchen so hübsch aussehen können. Er war gänzlich beeindruck von Merles Farbenpracht. Es fiel selbst ihm auf, dass er sie die ganze Zeit anstarrte.
Frau Rührstedt schaute sich im Klassenraum um und sagte dann zu Merle: „Am besten setzt du dich zunächst zu Thiemo. Neben ihm ist noch ein Platz frei. Wir werden dann später weitersehen, wie wir dich endgültig hier unterbringen.“
Der Platz neben Thiemo war tatsächlich noch frei. Es war Ludwigs Platz gewesen. Hier hatte er neben Thiemo gesessen, bevor er weggezogen ist. Merle setzte sich auf den freien Stuhl und stellte ihre Schultasche unter den Tisch.
Dann stieß sie Thiemo leicht mit ihrem Ellbogen an und sagte leise: „Hallo Nachbar, so sieht man sich wieder.“
Dabei lächelte sie ihr wundervolles Lächeln.
Thiemo erwiderte ebenso leise: „Hallo, schön das du da bist.“
Der Unterricht begann damit, dass die Schüler still einen Abschnitt aus einem Schulbuch lesen und im Anschluss darüber diskutieren sollten.
Frau Rührstedt wandte sich an Thiemo: „Merle hat noch keine Bücher. Die muss sie sich erst beschaffen. Bitte, Thiemo, sei so nett und lass Merle mit in dein Buch schauen.“
Nichts tat Thiemo in diesem Moment lieber als das. Er schlug sein Buch auf und legte es mitten zwischen Merle und sich auf den Tisch. Dann fingen beide an, leise für sich den Text zu lesen. Dazu verfolgten sie mit ihren Zeigefingern die Zeilen, wobei sie mit ihren Fingerspitzen ein richtiges Wettrennen auf dem Papier veranstaltete. Ab und zu kicherten die beiden laut los, wenn sich ihre Finger überholten oder berührten, sodass sie mehrfach von ihrer Lehrerin energisch zur Ordnung gerufen werden mussten. Das störte Thiemo jedoch nicht im Geringsten. Für ihn war es die schönste Schulstunde seines Lebens, seitdem Ludwig fortgezogen war.
In der Pause nach dieser Stunde blieb die Klasse im Raum, da es keine Hofpause war. Die beiden Rosas kamen gefolgt von Dörte auf Merle zu und musterten sie gründlich.
Nachdem die drei ihre neue Mitschülerin eine Weile lang von Kopf bis Fuß betrachtet hatten, schaute die eine Rosa sie herablassend an und meinte zu ihr: „Wie siehst du denn aus? Bis du etwa eine Öko-Tussi?“.
Selbstsicher antwortete Merle: „Nein, das ist mein Hippie-Look. Hast du noch nie davon gehört?“
Die andere Rosa lachte abfällig und entgegnete: „Hippie-Look? So etwas hat ja meine Großmutter getragen. Das ist doch schon seit Jahrzehnten völlig out.“
Dörte sah sich gezwungen, etwas draufsetzen zu müssen, und sagte mit angeekeltem Tonfall: „So ein Muster hätte meine Großmutter damals nicht einmal für ihre Küchengardine genommen.“
Thiemo, der immer noch neben Merle saß, hatte das Gespräch bislang verfolgt, ohne sich daran zu beteiligen. Nun sprang er auf und stellte sich schützend vor Merle.
Er fuhr die anderen Mädchen an: „Lasst Merle in Ruhe. Sie kann sich doch so anziehen, wie sie möchte. Ich finde es übrigens sehr hübsch, nicht immer nur Rosa zu sehen.“
Erschrocken wichen die drei Mädchen zurück und wandten sich ab. Sie gingen zurück auf ihre Plätze und tuschelten aufgeregt miteinander. Merle schaute Thiemo verschmitzt an und zwinkerte ihm erleichtert zu.
4. Alles ist vorbei
Der restliche Schultag verging für Thiemo wie im Fluge. Er war überglücklich, neben Merle zu sitzen. Da sie ohnehin den gleichen Heimweg hatten, schlenderten die beiden nach Schulschluss miteinander nach Hause. Dabei lachten sie und alberten ausgelassen herum. Zum ersten Mal seit Ludwigs Umzug war Thiemo wieder richtig fröhlich und unbeschwert. Nie zuvor hätte er gedacht, dass er so viel Spaß mit einem Mädchen haben könnte. In Merles Gegenwart fühlte sich Thiemo so wohl, dass er seine Trauer um Ludwig vergaß.
Thiemo freute sich über alle Maße, als Merle ihn fragte: „Hast du heute Nachmittag Zeit? Wir könnten die Hausaufgaben gemeinsam erledigen. Das ist nicht so langweilig, als wenn wir sie alleine machen müssen.“
„Ja gerne“, wollte Thiemo voller Freunde ausrufen, aber ihm fiel gerade noch rechtzeitig ein, was er bisher erfolgreich aus seinen Gedanken verdrängt hatte.
Stattdessen sagte er: „Nein, tut mir leid. Das geht nicht. Heute ist Bandentreffen.“
„Was, bitte?“, fragte das Mädchen erstaunt nach.
In diesem Augenblick hätte sich Thiemo am liebsten auf seine Zunge gebissen, denn ihm wurde urplötzlich bewusst, dass er einen schwerwiegenden Fehler begangen hatte. Er hatte einem Mädchen von seinem Bandentreffen erzählt. Ein Mädchen in einer Jungenbande war unvorstellbar. Es war die erste Bandenregel, dass kein Mädchen aufgenommen werden durfte. Außerdem mussten Ort und Zeitpunkt der Treffen strikt geheim gehalten werden, insbesondere vor Mädchen. Thiemo ärgerte sich, dass es ihm herausgerutscht war. Merle wusste noch nichts von seiner Bande und fragte nun nach. Das war natürlich.
Thiemo antwortete zögerlich: „Ach nichts.