Julia Fromme

Ehre und Macht


Скачать книгу

wollen, als ich sagte, wir seien bald am Ziel. Doch jetzt ist es in der Tat nur noch ein kleines Stück“, versuchte er sie zu überzeugen.

      Drei Tage liefen sie bereits durch den dichten Wald, immer einem kleinen Trampelpfad folgend, den Mensch und Tier im Laufe der Jahrhunderte hier festgetreten hatten. Einen Tag, nachdem sie von dem kleinen Weiler aufgebrochen waren, erreichten sie den Gebirgskamm. Links von ihnen lag ein großes Moorgebiet, das stellenweise den Weg unpassierbar machte. Sie mussten oft in das unwegsame Dickicht ausweichen, immer in der Angst, doch in ein Sumpfloch zu geraten. Zum Glück hatte es in den vergangenen Tagen nicht weiter geschneit. Die Sonne leckte tagsüber einen großen Teil des Schnees wieder auf. Allerdings blieben die klaren Nächte empfindlich kühl. Da die Schergen Lounys ihnen wahrscheinlich nicht mehr auf den Fersen waren, hatte Falk sich getraut, ein kleines Feuer zu entfachen. Auch war es ihm gelungen, mit der Schlinge einen Hasen zu fangen. So hatten sie genug Fleisch, um eine Weile ihren ärgsten Hunger stillen zu können.

      „Keinen einzigen Schritt“, sagte Krystina trotzig und starrte vor sich hin.

      „Nun gut, dann bleibt hier sitzen“, sagte Falk ungerührt. „Wenn es nicht die Kälte ist, die Euch in Eurem geschwächten Zustand umbringt, dann sind es mit Sicherheit die Wölfe...“

      „Wölfe!“, rief sie entsetzt. Und wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hörte sie in der Ferne das Jaulen eines Hundes. Oder war es doch ein Wolf? Sie schaute sich ängstlich um.

      Falk hatte das Geheul auch wahrgenommen. „Hört Ihr?“, fragte er. „Ein Hund. Das heißt, wir sind in der Tat nicht mehr weit vom Haus meines Freundes entfernt.“ Auch in seiner Stimme schwang Hoffnung mit. Er setzte sich neben sie auf den Boden. Ein paar Minuten ausruhen konnte ja nicht schaden.

      „Wieso habt Ihr einen Freund hier mitten in der Wildnis?“, fragte Krystina unvermittelt.

      Er schlang die Arme um seine Knie und legte das Kinn darauf. Von unten herauf warf er ihr einen langen Blick zu. Schon dachte sie, er würde nicht antworten.

      „Ich hatte bis jetzt ein sehr bewegtes Leben“, begann er dann. Fast wäre ihr ein Auflachen entschlüpft. Doch sie hielt sich zurück, da ihre Neugier, mehr vom seinem Leben zu erfahren, zu groß war. „Ich bin schon unzählige Male auf den Pässen über das Gebirge gegangen. Wie unwegsam das ist, habt Ihr am eigenen Leib erfahren.“ Er verzog schmerzlich das Gesicht. „Es gibt kürzere und leichtere Wege auf der westlichen Route. Doch waren wir leider gezwungen, einen großen Umweg zu machen.“ Falk hielt kurz inne, als müsste er überlegen, was er sagen sollte. „Vor vielen Jahren, ich kam damals auch von Veldstejn, bin ich oben im Moor vom Weg abgekommen. Ich stak schon bis zu den Oberschenkeln im Morast und bereitete mich langsam darauf vor, meinem Schöpfer gegenüberzutreten. Da erschien plötzlich vor meiner Nase eine lange Stange. Ein wild aussehender Kerl hielt sie mir wortlos hin. Mir war es in diesem Moment vollkommen egal, wer mir half, Hauptsache, ich wurde gerettet. Es stellte sich heraus, dass es ein Wolfsjäger war, wie sie sich schon seit Jahrhunderten hier oben im Gebirge angesiedelt hatten.“ Falk hörte auf, zu reden und schaute abwesend in das aufkommende Dunkel.

      „Und dieser Wolfsjäger ist der Freund, zu dem wir wollen?“, hakte Krystina nach.

      Falk schüttelte sich kurz, als wolle er in die Gegenwart zurückfinden. Unvermittelt stand er auf. „Ja, genau der. Kommt. Wir haben es gleich geschafft.“ Er streckte seiner Frau die Hand entgegen. Krystina ergriff sie und er zog sie schwungvoll nach oben. Sie taumelte kurz und hielt sich an seiner Schulter fest. Da legte Falk den Arm um ihre Taille, länger als notwendig war, bis sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Er lief einige Schritte, bevor er sie wieder losließ. Da der Pfad sehr schmal war, sah sich Krystina bald gezwungen, wieder hinter ihm zu laufen. Doch sie konnte das unheimliche Gefühl nicht loswerden, dass sie die Blicke einer geheimnisvollen Kreatur aus dem dichten Gestrüpp heraus verfolgten. Sie lief dicht zu Falk auf und schob verstohlen ihre kleine Hand von hinten in seine. Erstaunt blieb er stehen und sah sie fragend an.

      „Ich habe Angst. Etwas verfolgt uns“, wisperte sie.

      Falk spähte über ihre Schulter. „Ich sehe nichts.“

      „Seid Ihr sicher, dass es vorhin ein Hund war, den wir gehört haben?“

      „Ja, Mädchen, ganz sicher. Glaube mir, wenn ein Wolf heult, wirst du es merken“, sagte er in vertraulichem Tonfall. „Außerdem sind Wölfe scheue Tiere. Es kommt selten vor, dass sie Menschen anfallen. So kalt ist es noch nicht, sie finden genug Nahrung tief im Wald.“

      „Wieso gibt es dann Wolfsjäger? Heißt es nicht immer, Wölfe sind Bestien, die es auf die Menschen abgesehen haben?“ Die junge Frau blickte wenig überzeugt.

      „Das sind Legenden. Es sind vor allem die Pelze, die begehrt sind. Mir tun die armen Kreaturen nur leid, die wegen der Eitelkeit und Gier der Menschen ihr Leben lassen müssen. Es sind stolze, schöne Tiere.“

      Krystina schaute Falk erstaunt an. Hatte der Ritter etwa auch eine weiche Seite?

      „Kommt jetzt“, sagte er rau. Er nahm erneut ihre Hand und wandte sich zum Gehen. Die Dunkelheit hatte sich fast vollständig zwischen den Bäumen ausgebreitet. Der Pfad war nur noch ungenau zu erkennen. Schon wollte Krystina eine Bemerkung darüber machen, als sie die Umrisse eines hohen Zaunes sah. Sie näherten sich einem großen Tor und Falk hämmerte mit der Faust dagegen. Der Hund schlug erneut an und bellte wie wild, als er die Neuankömmlinge bemerkte.

      „Ruhig, Zacharas!“, rief eine tiefe, männliche Stimme. „Wer ist da draußen?“, fragte er dann barsch.

      „Falk von Schellenberg, Meister Jorge“, antwortete Falk laut. „Ich bin auf der Durchreise von Vildstejn, will nach Schellenberg.“

      „Falk?“ fragte der andere erstaunt. „In der Tat, ich erkenne deine Stimme.“ Mit einem lauten Knarren schwang ein Flügel des Tores nach außen auf. Der Hund begann wieder zu bellen. „Schweig, verflixter Köter“, fuhr ihn sein Herr an. Dann nahm er eine Fackel aus der Halterung neben dem Tor und trat heraus.

      Krystina staunte nicht schlecht, als sie den vierschrötigen Mann auf sich zukommen sah. Ein zotteliger Pelz war über seine Schultern geworfen. Ein schwarzer Bart verdeckte sein halbes Gesicht und langes, dunkles Haar fiel ihm ungebändigt über den Rücken. Unwillkürlich trat sie einen Schritt hinter Falk.

      „Falk, mein Freund, du bist es in der Tat. Und nicht allein, wie ich sehe.“ Er fixierte Krystina, die sich vergeblich unsichtbar zu machen versuchte. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, und seine Augen blickten freundlich.

      „Sei gegrüßt, Jorge. Und das ist mein Eheweib, Krystina von Schellenberg.“ Falk zog sie an seine Seite. Als Krystina ihren neuen Namen aus dem Mund Falks hörte, wurde ihr wieder bewusst, dass sie jetzt seine Frau war. Fast hatte sie es vergessen, sie waren wie zwei gute Freunde in den letzten Tagen miteinander umgegangen. Ihr Herz machte einen Sprung.

      „Meine Ehrerbietung“, sagte Jorge und verbeugte sich etwas übertrieben vor Krystina. „Doch, was treibt Euch in der Nacht hier in diese Einsamkeit? Und noch dazu zu Fuß und ohne Gefolge und Gepäck?“

      „Das ist eine lange Geschichte, mein Freund. Doch die würde ich dir lieber bei einem Humpen Bier und vor einem wärmenden Feuer erzählen.“

      „Du hast recht. Kommt herein in mein bescheidenes Heim. Meine Frau wird euch willkommen heißen. Bestimmt hat sie das Abendmahl bereits auf dem Herd.“ Mit einer einladenden Geste lud er sie ein, in den Hof zu treten. Dann ging er voran auf das große Holzhaus zu, dass sich zwischen mehreren anderen Gebäuden erhob.

      „Frau?“, flüsterte Krystina fragend. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass eine ihrer Geschlechtsgenossinnen freiwillig hier in dieser Ödnis leben würde. Doch bevor Falk zu einer Antwort ansetzen konnte, rief Jorge laut nach seinem Weib. In der Tür erschien eine hochgewachsene, schlanke Frau. Sie mochte dreißig Jahre zählen. Sie trug ein schlichtes Gewand, über das sie sich eine Schürze gebunden hatte. Ihre blonden Zöpfe fielen ihr über den Rücken fast bis zur Taille. Kein Schleier bedeckte ihren Kopf. Ihre schönen, hellen Augen nahmen einen fragenden Ausdruck an, als sie die Neuankömmlinge