Stefan G. Rohr

Der Funke eines Augenblicks


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was ich als große Leistung empfand, denn der Radius so mancher Kopfbedeckung konnte mit dem eines Hula-Hoop-Reifens problemlos mithalten.

      Ich hatte die Fußgängerzone erreicht. Unzählige Cafés hatten Tischchen und Stühle vor die Türen gestellt, Sonnenschirme aufgespannt und es herrschte emsiges Treiben. Trotz des noch nicht allzu weit fortgeschrittenen Aprils war es warm, sonnig und das Klima versprühte das Flair einer Stadt in der Toskana. Das Sprachgewirr hatte babylonische Ausmaße. Ich hörte Russisch, arabische Dialekte, viel Französisch, Japanisch und Chinesisch, immer wieder Englisch und manchmal auch ein wenig Deutsch, dann meist in der für die Region so typischen Mundart.

      Eine alte Leierkastenfrau hatte sich zwischen zwei Bistros platziert und dudelte alte Weisen aus den 40er Jahren. Es schien, als ob sie die Kleiderkammer des Stadttheaters geplündert hatte. Sie trug ein wallendes schwarzes Bühnenkleid, hatte sich bunte Schals umgehängt und einen kecken Strohhut aufgesetzt. Ein kleines Sträußchen bunter getrockneter Feldblumen steckte in der Bordüre und wippte bei jeder ihrer Bewegungen rhythmisch von links nach rechts. Das sah lustig aus, und half ein wenig die vielen schiefen Töne aus ihrer Quetschkommode zu überhören.

      Ich vernahm nun das Klappern von Pferdehufen. Gleich darauf kam langsam eine Pferdekutsche um die Kurve gefahren, auf dessen Bock ein dicker Mann mit Livree und Zylinder saß. Gelangweilt wedelte er von Zeit zu Zeit mit seiner Peitsche in Richtung der kräftigen Hintern der vor ihm stampfenden Gäule. Er beförderte gerade eine Gruppe von orientalischen Frauen, die allesamt schwarz verhüllt, mit Niqabs über ihren Köpfen, Platz genommen hatten und sich im deutlich gebrochenen English des Fuhrwerkchauffeurs die Sehenswürdigkeiten erklären ließen. Hinter dem Gefährt schlenderte ein Jüngling, der einen Zinkeimer und eine Handschaufel mit sich führte. Ab und zu beugte er sich nach unten und sammelte die Pferdeäpfel auf, die von den vorauslaufenden Vierbeinern achtlos fallen gelassen worden waren.

      Ich überlegte kurz, wie viel Pferdescheiße er wohl sammeln müsste, um ein ähnlich gefülltes Bankkonto erwirtschaftet zu haben, wie es seine vor ihm sitzenden Touristinnen zu besitzen schienen. Aber das Schicksal ist ja mitunter schlitzohrig. Vielleicht würde er ja demnächst mit der Erfindung von Pferdewindeln Millionen machen.

      Ich erspähte einen gerade freiwerdenden Tisch in einem Bistro und beschloss, diesen für mich einzunehmen. Mit einem katzenhaften Dreisprung schaffte ich es sogar, vor zwei Pärchen, die sich ebenfalls entschlossen hatten, dort Platz zu nehmen, einen Tick schneller zu sein. Es war wie ein kleiner Sieg, denn ich stellte sofort fest, dass dieser Tisch wie ein Premiumplatz am Catwalk einer Haute-Couture-Show war.

      Das Café, das in einer schmalen Fußgängerzone lag, hatte seine Tische so aufgestellt, dass der Strom der Spazierenden über eine vielleicht vier Meter breite Gasse mitten durch die sitzenden Gäste gelenkt wurde. So bildeten die Tischreihen ein regelrechtes Spalier, das Ganze auf einer Länge von dreißig Metern. Saß man frontal zum Gesehen, und ich tat das intuitiv sofort, konnte man herrlich auf die vorbeistolzierenden Menschen schauen, sich dabei die interessantesten, lustigsten, merkwürdigsten, modisch auffälligsten oder einfach die schönsten dieser Exemplare heraussuchen und näher inspizieren.

      Als ich saß, bemerkte ich sofort, dass ich in einer deutlich besseren Lage war, als all diejenigen, die sich durch dieses Nadelöhr zu zwängen hatten. Es glich einem Spießrutenlauf, denn die hier Sitzenden machten keinen Hehl aus ihren unverhohlenen Beobachtungen, und an mein Ohr gelangten schnell so mache lästernden Bewertungen, die an den Tischen um mich herum mal mehr oder weniger laut abgegeben wurden. Es hätte eigentlich nur noch gefehlt, dass Wertungsnoten hochgehalten worden wären. Direkt hinter mir saßen zwei Herren mittleren Alters an einem hohen Bistrotisch, um den einige Barhocker platziert waren. Sie hatten sozusagen einen Logenplatz und konnten über die Köpfe der vor ihnen angereihten Tische das Geschehen hindernisfrei beobachten. Sie hatten sichtliches Vergnügen dabei, ihre kecken, manchmal aber auch zynischen Kommentare heraus zu posaunen, zogen indes genüsslich an ihren großen Zigarren, um sodann weiße Wolken über die Köpfe an den vor ihnen liegenden Tische zu pusten.

      Ich kam nicht umhin, ihren Bemerkungen zu folgen, zumal die beiden einen zwar manchmal etwas derben, aber doch insgesamt recht amüsanten Humor bewiesen, und sie mich das eine oder andere Mal zum Schmunzeln brachten.

      Sie schienen bemerkt zu haben, dass ich ihnen mit einem Ohr folgte. Offensichtlich störte sie das nicht im Geringsten. Viel mehr hatte ich nun sogar den Eindruck, dass sie sich deswegen sogleich in größere Höhen aufschwingen wollten. Sie gaben sich redliche Mühe, ihren neuen Gastzuhörer nicht zu langweilen. Aber bereits nach wenigen Minuten rückte ich selbst ins Visier der beiden. Sie hatten die Farbe meiner Socken zum Anlass für eine Wertung genommen.

      „Sag mir, Rontrop“, fragte der eine, „welche Gesinnung will uns ein Träger pinkfarbener Socken mitteilen?“

      Rontrop konstatierte schnell: „Dass er farbenblind ist, mein lieber Bodo.“

      „Das ist ein Gebrechen, keine Gesinnung!“ erwiderte Bodo trocken.

      „So manche Gesinnung ist zugleich ein Gebrechen, Du erbärmlicher Oberlehrer.“ antwortete Rontrop gelassen.

      „Dann kann er nur bekennender Sozi sein.“ befand Bodo prompt. „Einer von den Ultras.“

      „Ein Mitglied des Politbüros!“ krähte der Mann namens Rontrop.

      „Nach Perestroika und Mauerfall arbeitslos und nach Orientierung suchend?" ergänzte der andere fragend.

      „Wenn arbeitslos, dann nur vorübergehend.“ konstatierte Rontrop trocken. „Sozialisten exerzieren in diesen Fällen einfach ein paar Enteignungen, singen die Internationale und sind prompt Generaldirektor. Und die tragen dann wahrscheinlich diese Socken.“

      „Aber vielleicht hat er ja nur einen Sehfehler und glaubt, dass er schwarze Socken trägt.“ warf Bodo ein, zog an seiner Zigarre und pustete den Rauch in meine Richtung. „Vielleicht sollten wir ihn aufklären …“

      „Das wäre dann tatsächlich nur ein Gebrechen. Wenn auch ein recht skurriles. Aber fragen wir ihn doch einfach.“ beschloss Rontrop zur Vereinfachung.

      Es war nun an mir, den Ball aufzunehmen. Die beiden Herren schienen sich nicht nur zu langweilen, sondern strebten zudem den Kontakt zu mir an. Ich wollte sie nicht enttäuschen.

      „Es ist viel tiefgründiger, als Sie glauben, meine Herren.“ Ich drehte mich zu den beiden hinter mir Sitzenden um. Dabei gestattete ich mir einen kurzen aber offensichtlichen Blick herunter zu ihren Fußgelenken. „Die Farbe meiner Socken hat sogar eine Art lebensstrategischen Aspekt.“ Der Blick der beiden machte mir spontanes Vergnügen. „Ich möchte allerdings vorausschicken, dass das Erlebnis mit Ihnen dabei nicht repräsentativ ist. Es zeigt lediglich vergleichbare Parallelen.“ Jetzt beugten beide ihre Köpfe etwas näher zu mir. „In aller Regel werde ich nämlich von Damen auf meine Socken angesprochen. Ja, lassen Sie es mich so ausdrücken, es ist sogar fast ein Automatismus damit verbunden. Und ich möchte betonen, dass die sich hieraus entwickelnden Kontakte häufig von hohem Reiz sind.“

      Rontrop war der erste von den Beiden, der nach einer kurzen, aber durchaus wahrnehmbaren Denkpause die Fassung zurückgewann. Er begann krähend zu lachen, und er hielt sich den Bauch, als hätte er gerade einen Medizinball verschluckt. Sein Freund Bodo stimmte nach einigen Sekunden mit ein, und grinsend deuteten Sie mir an, ich solle mich doch zu Ihnen setzen.

      Rontrop sah mich interessiert von oben bis unten an. „Sie sehen nicht wie ein Casino-Ritter aus. Auch nicht, wie der hier übliche Fünf-Sterne-Gast.“ Sein Blick geriet noch einmal hoch und runter. „Da bleiben nur zwei Möglichkeiten: Fernsehmann oder Handelsvertreter.“ Er hielt kurz den Atem an. „Ich tippe aufs Fernsehen!“

      „Ich auf Sockenvertreter!“ grinste Bodo.

      Es begann Spaß zu bringen. Ich wurde etwas leiser. „Ich bewundere diesen Herrn hier …“ und zeigte auf Rontrop. „Ein feines Gespür haben Sie, mein Guter!“ Und ich begann zu flüstern, wobei die Köpfe der anderen so nahe an den meinen herankamen, dass wir uns fast mit den Stirnen berührt hätten.