Rainer Seuring

Eringus - Freddoris magische Eiszeit


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entdeckte zwergische Züge an sich, wie zum Beispiel eben die sich nun verlangsamende körperliche Entwicklung. Sicherlich hing das mit der Muttermilch ihrer Zwergenamme zusammen. Daneben fand sie aber auch Fähigkeiten, deren Ursprung sie noch nicht klar zuordnen konnte. Zum Beispiel spürte sie die Anwesenheit von Menschen auf eine gewisse Entfernung, bevor sie derer ansichtig wurde. Und sie spürte deren Gefühle und konnte so erkennen, ohne wie Eringus Gedanken lesen zu können, ob diese sie belogen oder nicht. Sie hatte ein untrügliches Gespür für die Gefühle anderer. Auch hatte sie selbst wohl eine befriedende Ausstrahlung. Aggressive oder furchtsame Lebewesen, sei es Mensch oder Tier, wurden in ihrer Nähe immer schnell ruhig und friedlich. Auf ihrer Wanderung fand sie einstmals das Küken eines Aaren und es gelang ihr, das Kleine groß zu ziehen. Eine recht lange Zeit folgte ihr der Vogel aus freien Stücken, bevor er sich ein eigenes Revier suchte.

      Zuletzt lernte Beata in St. Wolfgang bei den Mönchen, als sie vom Tode Karls erfuhr. Unverzüglich machte sie sich auf den Weg, um ihrer Mutter beizustehen. Gemeinsam mit ihren Geschwistern übernahm sie vorübergehend die Führung des Gutes und der Herberge mit Schänke. Nachdem sie alles geregelt fand machte sie sich auf den Weg, ein eigenes Heim zu gründen.

      Inzwischen hat sie sich einen Namen als die größte Kräuter- und Heilkundige in der weitesten Umgebung gemacht. Selbst aus dem Boierischen kommen die Menschen, um von ihr Rat und Hilfe zu erhalten. Südöstlich von Erlenbusch und in gerader Linie östlich von St. Wolfgang hatte sie hinter dem ehemaligen römischen Grenzwall einen Ort gefunden, in den sie sich förmlich verliebte. In dem stellenweise recht sumpfigen namenlosen Gelände fanden sich Kräuter in großer Zahl und Vielfalt, dass sie unbedingt dort ihre Heimstatt nehmen musste. Fast augenblicklich wollte sie damit beginnen, eine Hütte zu errichten, doch auf den Rat der Halben in Erlenbusch hin, ließ sie die bevorstehende Winterzeit verstreichen. Welch kluger Rat, denn dies Gebiet wird liebend gern von den Wassern von Lache und Chynzych, die hier ein Gewirr von Gräben gezogen haben, überflutet und das von ihr erwählte Inselchen war wochenlang derart tief unter Wasser, dass an ein Wohnen dort überhaupt nicht zu denken war.

      Davon lies sich Beata aber nicht unterkriegen und schon bald fand sie eine recht hoch liegende Halbinsel, die ihr gefiel. Das leise Plätschern der Chynz unterstrich die unbeschreibliche Ruhe, die hier herrschte.

      Mit Hilfe der vereinten Zwerge aus Steinenaue und der Halben aus Erlenbusch wurde Beatas neue Heimstatt errichtet. Weiträumig wurde ein tiefer und breiter Graben gezogen, der aus der Halbinsel eine rechte Insel machte. Der Aushub wurde dazu genutzt, den Grund noch ein wenig mehr zu erhöhen. Gleichzeitig würden zukünftige starke Hochwasser von dem tiefen Flussbett besser abgeleitet.

      Das große Haus, in dem Beata alles unterbringen kann, was sie benötigte, ist zusätzlich noch auf Pfähle gestellt, die tief in den Boden gerammt wurden. Das Haus ist mehr als geräumig und nach Art der Halblinge, also fast wie ein späteres Fachwerk, gebaut. Auf die, bei den Halblingen üblichen, Farben hat man, auf Beatas Bitten hin, verzichtet. Es soll unscheinbar im Wald stehen. Von der Brücke über den Graben führt ein Pfahlweg direkt zu dem, das Haus umlaufenden, Freisitz. Auf der Vorderseite befindet sich die Tür in der rechten Hälfte, während die Linke ein Fenster mit Klappläden hat, das von innen mit einem dicken Querbalken fest verschlossen werden kann. Um ausreichend Licht ins Haus zu bekommen, sind auf der Rückseite nochmals zwei Fenster und auf den längeren Seitenwänden sogar jeweils drei Fenster vorhanden. Trotzdem ist sogar bei hellstem Sonnenschein in der Hütte wegen der dicht belaubten Bäume meist ein geheimnisvolles Dämmerlicht. Weil das Haus hoch genug gebaut ist, gibt es noch einen Zwischenboden, den man innen über eine Leiter erreichen kann. Allerdings erstreckte sich dieser zusätzliche Boden nur über zwei Drittel der Grundfläche. Das vordere Drittel ist frei gelassen. Dort oben gibt es nur ein kleines rundes Fenster an jeder Seite.

      Das Dach ist so weit als möglich herab gezogen, sodass auch der ganze Freisitz überdacht ist. Wer aber sehen will, was vor der Insel geschieht, muss sich deshalb bücken.

      Für die empfindlichen Kräuter, die hier nicht schon von Natur aus wuchsen, wurde ein großer Garten auf der Insel angelegt und mit einer fast vier Fuß hohen Mauer eingefasst, damit auch hier das Hochwasser keinen Schaden anrichten kann. Saatgut hat sie reichlich von den Halblingen bekommen und auf ihrer Wanderung gesammelt. Mit viel Geschick gelang es Beata dann auch zum Beispiel die sehr empfindliche Alraune zu pflegen. Weil der Weg zu ihrem Haus durch oft sumpfiges Gelände führt, wurde nach römischem Vorbild ein Pfahlweg angelegt, wo eine normale Befestigung nicht ausreichend erschien. Trotzdem gab es Zeiten, in denen Beatas Reich nicht verlassen oder aufgesucht werden konnte. Wegen der vielen verbauten Pfähle und dem hoch aufgeschütteten Hügel pflegte man dieses Gebiet danach als Bule zu bezeichnen. Wer die Bule kennt weiß, wie hungrig des Sommers hier die sehr zahlreichen Stechfliegen sein können. Für die junge Frau war dies aber kein Problem. Es waren allerdings nicht nur die Kräuter, die dafür sorgten, dass ihre Insel nahezu frei von diesen Saugern war. Wohl durch die Zwergenmilch der Amme meiden sie die Fliegen gleich einem Zwerg.

      Aufgrund all dieser Umstände nährte sich der Ruf Beatas, ein unheimliches Kräuterweib zu sein. Man suchte sie, wenn man sie brauchte, doch man mied sie, wo man nur konnte. Die Tatsache, dass sie sonderlich aller Siedlungen ihr Heim genommen hat, macht das nicht ein bisschen besser.

      Was die Ernährung anbelangt, so findet Beata in der Bule einen reich gedeckten Tisch. Viele der Kräuter waren und sind natürlich nicht nur Heilmittel, sondern durchaus auch zum Verzehr in Salaten geeignet. Reichlich wilde Beeren, Pilze und Früchte gibt es und Fisch und Fleisch sind zum Greifen nahe. Hat sie wirklich einmal Lust auf Getreide für einen Brei oder zum Backen, besucht sie die Brüder im Kloster St. Wolfgang, welches ja nur eine kurze Strecke entfernt liegt.

      Von den Kranken erhält sie nach erfolgreicher Heilung auch stets Nahrungsmittel, als Lohn für ihre Dienste. Es mangelt ihr an nichts.

      * * * * *

      Beata ist noch mit Einrichtungsarbeiten beschäftigt, als es eines Tages im Sommer 619 an ihrer Pforte klopft. Davor steht eine ebenfalls noch junge Frau mit besonderem Aussehen.

      „Ich grüße euch, Beata.“, beginnt sie mit etwas piepsiger Stimme. „Ich bin auf der Suche nach euch.“

      „So ist denn eure Suche beendet.“, erwidert Beata etwas ungehalten ob der Störung. „Wer seid ihr und was ist euer Begehr?“ Sie ist etwas mürrisch, weil die Fremde sie aus ihren Gedanken gerissen hat.

      „Ich bin Steinschneiders Guda und möchte euch fragen, ob ihr vielleicht für eine helfende Hand Verwendung hättet.“, lautet die eingeschüchterte Antwort.

      Erstaunt mustert Beata ihre Gegenüber von oben bis unten und zurück. Vor ihr steht eine junge Frau, gleich ihr ausgiebig gerundet, doch über der Hüfte nicht ganz so schlank. Sie ist etwa zwei Handspannen kleiner als Beata, wodurch der lange etwas höher angesetzte braune Pferdeschwanz noch um einiges länger wirkt.

      Man trägt ihr Hilfe an. Ihr, dem unheimlichen Kräuterweib. Eigentlich braucht sie keine Hilfe. Die Arbeiten, die es zu verrichten gilt, bewältigt sie allein. Und sei es nicht heute, dann vielleicht morgen. Es gibt nichts Dringendes ihn ihrem Leben. Sie empfindet aber, dass da besondere Beweggründe existierten, warum diese Guda ausgerechnet bei ihr anklopft. Das sagte auch der Blick der grauen Augen über der Stupsnase im runden Gesicht.

      „So tretet ein, auch wenn ich keiner Hilfe bedarf. Doch ihr interessiert mich.“

      Damit tritt sie zur Seite und gibt den Weg in das Haus frei.

      Schüchtern, nicht ängstlich, wie Beata spürt, geht Guda an ihr vorbei und blickt sich im Inneren neugierig um. Die Kochstelle befindet sich im vorderen Bereich, nicht unter dem Zwischenboden, damit ausreichend Luft bis zum Dach ist. In der Nähe der Feuerstelle steht ein Tisch mit zwei Hockern. Nach hinten sieht sie noch zwei Türen, von denen eine wohl zu einer Schlafkammer führt, denn eine Lagerstatt ist sonst nirgends zu sehen. Sicherlich ist oben, bei den zum Trocknen hängenden Kräutern, ebenfalls keine. Weil Guda weiß, dass Beata sehr wohl die Lebensweise der Zwerge kennt, vermutet sie (zu Recht) hinter der zweiten Tür den Abort. Die Chynz trägt ihren Teil dazu bei, den Unrat sofort zu beseitigen. An den Wänden stehen sehr viele Regale, gefüllt mit