Rainer Seuring

Eringus - Freddoris magische Eiszeit


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Bruder Urban, wollt ihr mir etwas beichten?“, beantwortet Abt Laurentz mit einer Gegenfrage. Der Mann ist jünger als der Mönch und sitzt an einem Tisch, auf der die Bibel aufgeschlagen liegt. Allerdings liegt sie verkehrt herum und die Schrift steht somit auf dem Kopf, wie Urban nebenbei feststellen kann. Die blassgrauen Augen verleihen Laurentz einen stechenden Blick. Das hagere Gesicht verstärkt den unangenehmen Eindruck. Der Mund ist dünnlippig und wirkt sehr verbissen.

      Der Mönch druckst ein wenig herum. „Im Grunde ja und nein, Bruder Abt.“

      „Drückt euch klarer aus, Bruder.“ Laurentz ist seit einem Jahr Abt in St. Wolfgang und leider nicht so milde wie sein Vorgänger, Abt Nikolaus.

      „Als denn!“, fasst sich Urban ein Herz, nachdem er noch einmal tief Luft geholt hat. „Ihr wisst ja von meinen regelmäßigen Treffen mit Wilbalt, dem Zwerg. Einmal im Monat besprechen wir die Erkenntnisse, die wir aus den alten Schriften gewinnen um zu sehen, was wichtig für uns alle sei.“, erklärte er ausschweifend.

      „Ihr verschwendet gerade meine Zeit, Bruder. Kommt zum Kern der Sache.“, unterbricht ihn der Abt ungeduldig.

      „Natürlich, Bruder Abt. Sofort. Wilbalt fand also in den Zwergenschriften einen Hinweis, wonach nach dem zweiten strengen Winter nach der Zwergenvereinigung ein weiterer noch sehr viel schlimmerer Winter käme. Dieses wäre demnach der nächste Winter.“

      „Ihr erwartet doch nicht von mir, dass ich mich als gottesfürchtiger Mönch dem Unfug alter Zwergenspinner anvertraue. Wo kämen wir da hin?“

      „Geduldet euch, Bruder Abt. Auch in unseren Schriften fand sich eine vergleichbare Warnung.“, beschwichtigt Urban, wohl wissend, dass es sogleich großen Ärger geben würde.

      „Ach, was ihr nicht sagt, Bruder Urban. Wo soll das denn geschrieben stehen? Nirgends in der Heiligen Schrift findet sich ein Hinweis auf einen kalten Winter, der die Gläubigen plagen würde. Also, zeigt mir die Stelle.“ Der Abt macht den Eindruck, er würde in Kürze explodieren. Sein Gesicht nimmt langsam eine rötliche Färbung an. Ein untrügliches Zeichen für den steigenden Blutdruck des Klostervorstehers.

      Schweigend holt Urban das Pergament unter der Kutte hervor, öffnet es und weist auf die Stelle des Textes. Und Laurentz Gesichtsfarbe wird schlagartig blasser. Statt zu lesen rollt er die Schrift zu und betrachtet sie sich. Dann sieht er tief in Urbans Augen mit einem Blick, der Wasser zu Eis gefrieren ließe. Sogleich wird sein Ton leise und bedrohlich als er fragt: „Woher habt ihr diese Rolle?“

      „Ihr wisst es, Bruder Abt, denn es gibt nur dieses eine Exemplar in unserem Kloster. Und ja, ich weiß auch, dass dies eine verbotene Schrift ist.“, erwidert der Mönch mutig. Und sehr viel leiser fügte er hinzu: „Und ich weiß auch, dass ihr genauso an den Wahrheitsgehalt dieser Schrift glaubt, wie ich. Sie fiel mir entgegen, als ich eure Kammer reinigte. Wo sie zuvor war, ist euch bekannt.“

      Das war Urbans einziger Trumpf, um sich vor Strafe zu bewahren. Die Tatsache, dass diese Rolle im Kloster, verschlimmernd noch im Raum des Abtes, war, ist absolut verwerflich. Ein Grund, dieses Kloster auf der Stelle zu schließen und die Brüder in den Schoß der Mutter Kirche zurück zu holen.

      Hektisch blickt sich Abt Laurentz um und verbirgt schnellstens die Rolle unter seiner Kutte. „Fühlt euch nicht zu sicher, was dies Pergament angeht. Ein Wort von euch über seine Existenz und es ist schneller verbrannt, als ihr zwanzig Stockhiebe ertragen habt.“

      Das ist mehr als deutlich und Urban nickt furchtsam. So hoch er sein Wissen als möglichen Schutz erachtete, so wenig ist es doch tatsächlich wert. Trotzdem lenkt der Abt erstaunlicher Weise ein. „So seid ihr denn auch Teilhaber an diesem Wissen. Was wollt ihr damit machen? In alle Welt hinaus schreien? Dass alle Ungläubigen, den alten Göttern anhaftenden Unwissenden sich wappnen können?“

      In den nächsten 49 Gebeten dankt Urban Gott auf das Herzlichste für diesen augenblicklich folgenden Einfall. „Im Gegenteil, Bruder Abt. Sicherlich werdet ihr nur den engsten gläubigen Freunden die rechten Ratschläge erteilen. Da bin ich mir sicher. Doch sehe ich auch die Möglichkeit, den Ungläubigen die Größe Gottes zu zeigen.“

      „Wie soll das von Statten gehen?“ Laurentz ist sichtlich interessiert, ist er doch begierig, seine Herde der Gläubigen zu erweitern und so das Wohlwollen der höheren Würdenträger der Kirche zu erlangen.

      „Nutzt jeden Raum in diesem Kloster, der verfügbar ist und lagert darin Nahrungsmittel für unzählig viele Tage und Menschen. Leiden dann die Menschen Not, so könnt ihr sie speisen im Namen unseres Herren und sie so zum Glaubenswechsel bewegen. Ihr werdet die meisten Gläubigen aller umliegenden Abteien um euch versammeln können. Man wird euren Namen preisen, eure Güte, Weitsicht und Klugheit.“

      Urban hat seinen Abt erkannt. Dessen Antlitz entspannt sich zusehends und wird zunehmend friedlicher. „Ihr seid ein schlauer Kopf, Bruder Urban.“, stellt Laurentz fest. „Ich werde mir diesen Vorschlag gründlich überlegen.“

      * * * * *

      Abt Laurentz hat Urbans Vorschlag wirklich in die Tat umgesetzt, wobei er äußerst spärlich und nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit einigen ganz Wenigen eine Warnung zu kommen lässt. Bis zum Wintereinbruch sind selbst die neu erbauten Stallungen und Scheunen bis unters Dach gefüllt. Und Urbans Gebete erweitern sich um die furchtsame Bitte, es möge auch tatsächlich ein sehr langer und strenger Winter kommen. Seines Abtes Äußerungen was geschehen werde, falls der Winter ausbliebe, lassen ihn größte Ängste für sein zukünftiges Wohlergehen hegen.

      * * * * *

      Das Jahr ging dahin und es war ein gutes Jahr. Die Ernte fiel ausgesprochen üppig aus. Und der Winter der Prophezeiung kam. Es war ein später Winter, und es war ein kalter Winter, aber es war ein kurzer Winter.

      Lenzing im Jahre 620 ist vorbei, es wird wärmer, Eis und Schnee sind geschmolzen. Die Schneeglöckchen sind längst schon wieder verblüht.

      Wilbalt, der Zwerg, und Urban, der Mönch, grübeln über den kargen Texten und suchen nach einer Erklärung, warum sie sich so fürchterlich haben täuschen können. Alles schien doch so eindeutig.

      Kleyberch – auf ewig geheimnisvoll und wundersam

      „Dankwart, ich brauche deine Hilfe.“

      Anschild Kleyberch, der jüngste Zwerg aus Kleyberch, von dem keiner weiß, wer er ist und woher er stammt, ist verliebt in König Sigurds Tochter Carissima. So weit, so gut und auch überhaupt nicht verwunderlich. In ihrem dreißigsten Lebensjahr ist die Prinzessin ein Anblick, der fast alle männlichen Zwerge ins Schwärmen und Träumen bringt. Besonders ihr Mund hat es Anschild angetan. Gleich, was sie auch spricht, er hängt mit seinem Blick wie hypnotisiert an ihren vollen Lippen, die so herzzerreißend schmollen können. Jedes Wort saugen seine Augen förmlich aus ihr heraus ohne zu hören oder gar zu verstehen, was sie ihm sagt. Peinlicher Weise muss er dann immer wieder nachfragen, was sie gerade von ihm will. Irgendwann, so denkt er sich, werde ich an diesen Lippen knabbern. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg und Dankwart soll ihm nun dabei helfen.

      Anschild hat den Wohnraum seines Ziehvaters betreten, wo jener sich gerade über Texte im Buch >Utz wider die Alben< Gedanken macht. Es fällt nicht nur ihm schwer zu begreifen, dass er über 800 Jahre in der zerstörten Festung Kleyberch geschlafen hat. Für ihn hat dieses Buch eine ganz andere Bedeutung, als für die Steinenauer Zwerge. Ist es für die Letzteren die Erzählung aus alten Zeiten, so ist es für Dankwart eher der Bericht der Geschehnisse von gestern. Für eine kurze Zeit war er Teil dieser Geschichte. Nun hebt er den Kopf und sieht Anschild mit müden braunen Augen an. Sein Studium dauert schon eine lange Weile und es hat ihn leidlich erschöpft. Er trägt eine lederne alte Hose, ein etwas schmutziges helles Leinenhemd, das etwas über der starken Brust spannt und darüber eine lederne Weste. Das schulterlange braune Haar mit dem leicht blonden Schimmer hängt ihm etwas vor das Gesicht und er schnickt es mit einer kurzen Kopfbewegung zur Seite.

      „Was