Katharina Kopplow

LUCIFER


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wo er sich noch immer wortlos niederließ.

      Ein kurzer Blick zur Seite verriet Lucifer, dass Gott Michael die ganze Zeit über beobachtet hatte, doch auch er äußerte sich mit keiner Silbe zu dessen Verunstaltung. Kaum dass sich die ersten fragenden, verunsicherten Blicke wieder von dem Erzengel abgewandt hatten, fuhr Er fort, als sei nichts gewesen.

      Einige Sekunden lang starrte der höchste Seraphim seinen Herrn ungläubig an, dann erhob er sich mit einem Ruck von seinem Platz, sodass der Stuhl nach hinten umkippte. Zitternd vor Wut ballte er die Hände zu Fäusten und ihm wurde schlecht ob seiner eigenen Enttäuschung.

      Mit einem kaum hörbaren Seufzen drehte Gott den Kopf zur Seite, um ihn anzusehen. Ihre Blicke trafen sich.

      Nur für einen Moment spielte Lucifer mit dem Gedanken, sich wieder hinzusetzen und die Konferenz fortzusetzen, dann gewann sein Zorn wieder die Oberhand.

      „Herr!“, setzte er an. „Einer Eurer Engel ist verletzt worden und das, obwohl er den Himmel nicht verlassen hat. Interessiert Euch nicht, wie das passieren konnte?“

      „Lucifer.“ Der Herr klang müde. „Setz dich wieder hin.“

      „Nein! Nein, das werde ich nicht! Wann immer ich dieses Thema zur Sprache bringe, weist Ihr mich an, still zu sein und in meine Hundehütte zu trotten.“ Mit ausgebreiteten Schwingen bezog Lucifer vor Gott Stellung, die Blicke sämtlicher anwesender Engel auf sich wissend. „Ihr wisst nicht wirklich, was im Himmel vor sich geht, worunter die Engel leiden! Und warum? Weil Ihr nicht! Zuhört!“ Die letzten beiden Worte schrie er fast.

      Im nächsten Moment stand er dem Herrn gegenüber, ohne sich daran erinnern zu können, Diesen aufstehen zu sehen.

      „Du hast noch etwas Wichtiges zu erledigen, Morgenstern.“ Die Ruhe in Seiner Stimme war beeindruckend, doch der unterdrückte Zorn klang deutlich heraus, als Er fortfuhr: „Wir reden später darüber. Für heute bist du entlassen.“

      Lucifer wünschte seine Schwerter herbei, doch er hatte sie wie üblich zu friedlichen Konferenzen nicht dabei, da sie seine Bewegungen behinderten. Hilflos sah er zu Michael hinüber, der ihn aus großen Augen anstarrte. Besorgt, beinahe ängstlich. Es brach Lucifer das Herz.

      Ohne ein weiteres Wort wandte er sich zum Gehen.

      Es gelang ihm nicht, an diesem Tag mit Michael zu sprechen. Kaum dass die Konferenz beendet worden war, flüchtete der verunstaltete Erzengel aus dem Tempel und ließ sich nicht mehr blicken. Lucifer wartete lange bei sich zuhause, ging dann hinüber ins Distrikt der unteren Triade, doch niemand öffnete ihm, als er an Michaels Wohnungstür klopfte.

      Er lebte mit seinen beiden älteren Brüdern, dem kriegerischen Gabriel und dem sanften Heiler Raphael, zusammen. Als Lucifer davon erfahren hatte, hatte er erst nicht glauben können, dass der liebe, gute Michael einen solch kämpferischen Bruder haben sollte. Obwohl Gabriel nicht mit der Beziehung seines Bruders zu einem Seraphim einverstanden zu sein schien, verkniff er sich in Lucifers Gegenwart mahnende Kommentare.

      Mit zwei Schwertern bewaffnet machte sich Gottes Lieblingsengel in der Abenddämmerung auf den Weg zum Tempel, den Blick gesenkt. Wie üblich grüßten ihn die Engel verhalten, mit größtem Respekt. Vermutlich hatte sich sein Benehmen heute auf der Konferenz schon herumgesprochen.

      Lucifer wusste nicht, ob man ein Wesen wie Gott töten konnte. Dass er wie Engel über ewiges Leben verfügte, zeigte sich zwar deutlich, doch auch Engel und sogar Dämonen ließ sich unter bestimmten Umständen beikommen. Gott war lediglich ein größeres Kaliber.

      Mit diesen Gedanken beruhigte er sich selbst, als er den Tempel betrat. Er würde noch einmal versuchen, mit Gott zu reden, und wenn das nicht half, würde er zu härteren Maßnahmen greifen müssen. Diese Bereitschaft zu Gewalt gegenüber seinem Schöpfer kam nicht plötzlich und rang Lucifer inzwischen auch keinerlei Schuldgefühle mehr ab. Oft hatte er sich in den vergangenen Wochen vorgestellt, wie er die zur Revolution bereiten Engel aufpeitschen würde, bis sie ebenfalls einsahen, dass die Verhandlungen gescheitert waren, um gemeinsam einen Putsch gegen den Herrn zu unternehmen.

      Mit Michael an seiner Seite hätte er sich zwar sicherer gefühlt, doch letztendlich war der Starke am stärksten allein. Immer wieder tauchte sein blau geschlagenes Gesicht vor seinem inneren Auge auf, dazu Gottes gleichgültige Reaktion und schließlich Sein mahnender Verweis.

      Lucifer betrat den Tempel.

      Er dachte an die Geschichten, die Engel aller Chöre ihm erzählt hatten, über Ungleichheit, Ignoranz und Furcht. Über einen Gott, der sie verlassen hatte. Ein Schöpfer, der keine Verantwortung übernehmen wollte.

      Lucifer nahm drei Treppenstufen auf einmal hinauf in den ersten Stock, wo er beinahe zwei Wachposten in die Arme stolperte. Da er hier ein und aus ging, nickten sie ihm nur kurz zu und ließen ihn dann ohne weitere Kontrolle passieren. Für eine Sekunde meldeten sich erneute Zweifel in Lucifer, ob er das Vertrauen des Herrn einfach so missbrauchen sollte. Dann war die Sekunde vorbei.

      Im Arbeitszimmer war es dunkel, als er eintrat. Wie so oft zeichnete sich Gottes schlafende Gestalt gegen in der Finsternis ab. Offenbar waren die Kerzen lange heruntergebrannt. Es lief Lucifer kalt den Rücken herunter, als er nach seinem Schwert griff. Der Plan hatte sich kurzfristig geändert. Nach einem Hieb durch den Schädel würde er weitersehen.

      Von einer merkwürdigen Ruhe erfasst trat der Engel näher, die Klinge in der rechten Hand. Zwei Schritte bis zum Schreibtisch. Einer. Leise schnaufender Atem des Schlafenden. Lucifer hob die Klinge bereit zum Zuschlagen.

      Ein spitzer Gegenstand drückte von hinten an die empfindliche Stelle genau zwischen den beiden Flügelansätzen. Lucifer erstarrte, dann ließ er das Schwert fallen und seine Hände wurden nach hinten gebogen. Er hatte einen Fehler gemacht.

      Höllensturz Kapitel 5

      Fassungslos riss Beliel die Augen auf und starrte Michael an.

      „Lucifer wird was?!“

      Der Erzengel nickte scheu, ein Zittern lief durch seinen gesamten Körper und er blickte nicht auf, als er sprach. Obwohl er ja nichts für Lucifers übereilten Angriff auf den Herrn konnte, wirkte er schuldbewusst. Einige blaue Flecken und Schwellungen in seinem Gesicht waren noch zu erkennen. Zwei junge Seraphim hatten ihn auf dem Heimweg überwältigt und ihm einen Denkzettel verpasst, sich nicht mit jemandem aus ihrer Triade abzugeben.

      „Doch... der Herr hat es eben verkündet; Er verbannt Lucifer in die Hölle...“, wisperte er. Inzwischen hatte das Zittern seine Flügel erreicht, sodass es aussah, als stünde er kurz davor, in Tränen auszubrechen.

      „Das kann doch nicht sein...“, hauchte Beliel und ließ den Kopf sinken. Sein Verstand arbeitete; Lucifer befand sich in den Katakomben unter dem Tempel, in denen Gefangene eingesperrt wurden, die keinesfalls entkommen durften. Nach seinem Attentat auf den Herrn hatte man Lucifer dort eingekerkert, bis eine angemessene Strafe erdacht worden war, denn ein solcher Fall war im Gesetz nicht vorgesehen.

      Azazel, der sich Beliel in letzter Zeit häufiger aufdrängte, knirschte mit den Zähnen. Beliel ging nicht davon aus, dass er sich Sorgen um Lucifer, sondern vielmehr um ihre geplante Revolution machte.

      „Natürlich ist der Herr wütend, aber dass Er tatsächlich einen Engel in die Hölle schickt, wo sie ihn grausamer töten werden, als wir uns hier vorstellen können...“

      Michael zuckte merklich zusammen und blickte erschrocken zu Azazel, der noch immer vor sich ihn grübelte. Im Blick des Erzengels lag so viel Schuldbewusstsein, dass Beliel aufmerksam wurde, doch solange Azazel mithörte, wollte er Michael keine unangenehmen Fragen stellen.

      „So darf es nicht enden!“

      Ganz plötzlich wusste Beliel, dass er nicht hierbleiben und darüber trauern durfte, was der Herr angeordnet hatte. Er würde direkt mit Lucifer sprechen, würde ihm versichern und sich versichern lassen, dass dies nicht das Ende war, sondern nur eine weitere Zerreißprobe ihrer