Gabi Scheren

Der Schrei eines Untieres


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wie ich bin, zugelassen habe. Aus welchem Grund sonst hätte ich mich dermaßen in meinem Leben verirrt?

      Tja, jetzt war ich hier. Vor mir erstreckte sich ein unbekanntes Land, das keineswegs lustige Abenteuer und Entdeckungen versprach; jene, die man im Freundeskreis ausführlich nachzeichnen möchte. Niemand aus meinem Umfeld trug jedenfalls derartige Geschichten vor. Ich wollte auch nicht darüber erzählen. Seit meiner vom Arzt nahegelegten und stets verschobenen Entscheidung schämte ich mich vor mir selbst. Über mein Vorhaben verlor ich daher keinen Ton und hoffte, dass ich nicht ertappt werde. In der Arbeit informierte ich lediglich, dass ich demnächst ins Krankenhaus muss und mir keine Fragen wünsche. Bei alledem fühlte ich mich wie eine Verbrecherin, die etwas Gefährliches anleitet. Und wie eine Verbrecherin vergewisserte ich mich zwanghaft, dass mich keine bekannte Visage begleitet auf der Fahrt zum Vorstellungsgespräch in der Klinik für Trauma und Psychotherapie in dem kleinen weißen Haus mit dem roten Dach.

      In das Haus trudelte ich nach dem Irren im verwuschelten Labyrinth verschwitzt ein und hechelte die Treppen hoch hinter der gertenschlanken Psychologin, Frau Zunge. Sie zeigte auf einen Stuhl und setzte sich auf der anderen Seite des runden niedrigen Tisches mir gegenüber. Das sonnendurchflutete Licht weichte ihre Gesichtszüge auf. Der Herbst strömte durch das offene Fenster mit allen üblichen Gerüchen und Geräuschen hinein und erschuf eine verspielte und sanfte Kulisse. Drinnen versuchte ich zu erahnen, was mich erwartet.

      Nach dem kurzen Herbstauftakt einer unnatürlichen in diesen Umständen Konversation, die auf mich sehr gekünstelt wirkte und die an jedem Ort geführt werden könnte, aber nicht unbedingt hier: der übliche Klatsch klangt wie eine unbeabsichtigte Parodie – „Was für ein schönes Wetter!“, „Immer noch so warm“, „Solch ein sonniger Tag!“, „Die vielen Farben! Entzückend!“, „Die Natur ist der beste Künstler“ -, erzählte ich über meinen wirren Weg zur Klinik. Vielleicht reichte ausschließlich diese Beschreibung, um mich aufzunehmen. Ihre Augen weiteten sich, ihre Mundwinkel verrutschten für eine Sekunde. Ich lachte theatralisch auf, was an eine Hustenattacke erinnerte. Sie ordnete flugs ihre Mimik und schaute mich gütig an, wie eine Psychologin eben es tun sollte, wenn sie einer verzweifelten Kreatur, wie mir, begegnet.

      Ich hoffte, dass sie in der Lage wird, meinen Zustand zu erkennen. Meine Augen klebten an ihr und registrierten jeden ihren Wimperschlag. Zustimmung oder Ablehnung? Ich strengte mich an, in diesen zwei Kategorien zu orientieren. Zustimmung. Vielleicht. Ich räusperte mich und fuhr fort. In Erwartung einer Prüfung stolperte ich wiederholt über eigene Worte und sehnte mich nach einem roten Faden, den ich ergreifen und an dem ich mich festhalten könnte.

      Was mir einfiel, war peinlich: Ich absolvierte soeben ein Examen für den Status einer Verrückten. Diese Situation eignete sich wunderbar für reißerische Witze. Von außen gesehen. Wer kann sich aber von außen betrachten? Ich war drinnen und spielte mit. Wenn jemand also in mir eine Witzfigur sehen wollte, dann nur eine tieftraurige. Ich verspürte in mir nicht einen Krümel der Heiterkeit. Auch wenn ich meine lächerliche Lage als solche wahrnahm. Und auch dann, wenn ich höfflich mitlachte. Das Lachen besagt doch gar nichts über das Gemüt. Die in der Tiefe verborgenen Quellen der Traurigkeit werden davon nicht betroffen.

      Frau Zunge wirkte seriös genug, damit der Eindruck der Zuversicht entsteht. Daran klammerte ich mich fest. Ich wusste doch nichts über sie. Außer, dass sie eine Psychologin ist. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu wittern, ähnlich einem wilden Tier, und blitzschnell zu urteilen, ohne Fakten und Argumenten, ob es von ihr eine Gefahr ausgehe oder nicht. In den wenigen Sekunden, in deren ich in ihren Augen nach wahren Motiven suchte.

      Sie tastete sich vorsichtig nach vorne in unserem Gespräch. Selbstverständlich wollte sie wissen, wieso ich mich um einen Platz in der Klinik bewerbe. Ich entfesselte ein Erzählungschaos der bedeutenden und unbedeutenden Ereignisse, ein Chaos, das ich selbst nicht durchblickte. Ich wollte nicht unhöflich wirken und bemühte mich redlich, ausführlich zu antworten.

      Frau Zunge lenkte die Unterhaltung auf ruhige Gewässer und hielt sie auf der Oberfläche des Gemeinen. Mittlerweile bildete sie sich im Schnellverfahren ein Urteil über mich.

      „Sie passen zu uns“, sagte sie zum Schluss.

      Also Zustimmung.

      Das ist gut. Dachte ich mir. Währenddessen knurrte es im Bauch.

      „Entschuldigung“, flüsterte ich.

      „Das war mein Magen“, erklärte sie, ohne mit dem Wimper zu zucken.

      So kam ich auf die Warteliste – die Plätze für die Irren reichen bei Weitem nicht aus - und bangte bei jedem Anruf, der mich mit meinem Entschluss konfrontieren sollte. Meine Bewerbung war lediglich ein erster Schritt. Ich wusste gar nicht, was in solch einer Klinik abgeht, und wie ich mich darauf vorbereiten sollte.

      Der Anruf erreichte mich völlig unvorbereitet. Das Klingeln vermischte sich mit dem Traum. Ich torkelte wie ein blinder Maulwurf zum Telefon und krächzte in den Hörer. Die Begrüßung verlor sich in den Traumfetzen, ich musste nachfragen. Die geduldige Stimme wiederholte langsam alle Informationen. Am Donnerstag um zehn Uhr sollte ich mich mit dem Gepäck in der Klinik melden.

      Es war mein freier Tag, ich plante ihn im Bett zu verbringen und zu schlafen. Nichts mehr wollte ich tun, weil ich zu nichts mehr fähig war und mir nichts mehr vorstellen konnte, als im Schlaf zu versinken, mich dort zu verstecken, dorthin zu flüchten. Vor dem Leben, das mich wie ein ungenießbares Happen rausgespuckt hat, und vor mir selbst, die nicht mehr zu sich fand.

      Nach dem Telefonat verflog der Schlaf endgültig und ließ sich nicht mehr zurückholen. Die Aufregung hielt mich wach. Ich ging ins Bad und sinnierte darüber, dass der neue Abschnitt meines Lebens am vierten Tag der Woche beginnt, als ob dieses absolut unwichtige Merkmal eine symbolische Bedeutung hätte.

      Am Donnerstagmorgen verließ ich rechtzeitig meine Wohnung mit einem dumpfen Gefühl im Bauch und machte mich mit einem Koffer auf den gleichen Weg. Diesmal war es arschkalt. Das Warten auf den Bus zog sich in die Länge. Ich hüpfte rhythmisch auf der Stelle, ich schlug mit den Stiefeln einander. In der Menge war ich die einzige, die so unruhig wirkte. Froren die anderen denn nicht, oder wollten sie es nur nicht zeigen?

      Schneewittchen auf Hawaii

      Die Tür fällt ins Schloss. Mein Herz rutscht zugleich in die Tiefe. Ich will flüchten und tue es doch nicht. Es gibt kein Zurück, sage ich mir, beiße meine Lippen und blicke hinaus auf die Gegend hinter dem Fenster. Kahl und trist. Menschenverlassen. Ich realisiere im Nu, dass ich mich fortan auf der anderen, der dunklen, der von der Mehrheit abgelehnten Seite der Welt bewege. Der Gedanke fühlt sich kalt an. Ich friere davon und würde am liebsten weinen. Die Tränen spüre ich in mir, meine Augen bleiben dennoch trocken.

      Im noch unbewohnten Zimmer stehen zwei Betten. Ich wähle das linke, etwas versteckt, gepresst zwischen dem Fenster und der Wand, die das Zimmer vom seitlich eingerückten Bad trennt; erst danach schaue ich mich um und staune über die Einrichtung: schwarze Möbel, schwarze Schiebetür zum Bad und drinnen schwarze Wände in Marmoroptik. Gestaltete diese Klinik ein völlig ausgeflippter Patient? Ich protestiere in der ersten Reaktion gegen das unerwartete Ambiente, um mich kurz danach damit anzufreunden und es gleichzeitig originell und verrückt zu finden. Es passt zu meiner Stimmung.

      Ich richte mich ein auf dem Platz meiner zukünftigen Bleibe für eine ungewisse Zeit, hole aus dem Gepäck eine Zahnbürste und Latschen heraus und nehme diesen Ort in Besitz. Danach muss ich mich ausruhen; das Neue um mich herum überfordert mich. Es ist fremd und gefährlich, wie eine Felswand, von der man leicht in den Abgrund stürzen kann.

      Auf dem Bett liegend erfasse ich die weiße Decke in der Höhe und fühle mich von dem Raum dazwischen erdrückt. Ich drehe mich um und glotze auf die Mauer. Eine breite Lamperie im gedämpften Grün wie die Bettüberwürfe glänzt mit den kühlen Spiegelungen; ein untröstliche Anblick, den ich nicht ertragen kann.

      Über dem anderen Bett hängt ein großes Gemälde, ein Portrait. Das idealisierte Gesicht – es könnte das Schneewittchen sein - mit geschlossenen Augen, umrahmt von rötlichen