Gabi Scheren

Der Schrei eines Untieres


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Abendbrot meide ich Blicke und Gespräche, die auf mich aufprallen und mich unbeabsichtigt verletzen. Ich ziehe mich schnell ins Zimmer zurück und verstecke hinter einem alten im Antiquariat erworbenen Buch mit vergilbten Seiten und einem Titel, der zu mir passt, „Angst vorm Fliegen“. Das Lesen gelingt mir nicht. Die Sätze und Wörter, die ich anstarre, fallen auseinander. Mein Kopf versagt bei dem Versuch, eine Bedeutung im Buchstabensalat zu erkennen.

      Derweil telefoniert Beata mit ihrem Mann und erzählt ihm – ihre Stimme ist laut und deutlich, sodass ich zuhören muss –, dass das Zimmer sehr hoch und die Betten sehr niedrig sind.

      „Kannst du dir diese Perspektive vorstellen? Wenn ich mich hinlege, fühle ich mich wie ein Zwerg aus dem Märchen. Das ist eine Zumutung!“

      Seine Antwort kommt nicht durch, ein Rauschen drängt lediglich zu mir. Sie hört lange zu. „Ich dich auch“, antwortet sie letztendlich, diesmal weich und warm.

      Ich schaue durch das Fenster auf die Felder. Sie sind weiß! Im Licht der Laterne wirbeln die Flocken. Es schneit mitten im November! Mein Herz hüpft, als ob der Schnee eine Veränderung zum Guten ankündigte.

      Beata schluckt eine Schlaftablette und wundert sich, dass ich mit niemandem telefoniere, um Gute Nacht zu sagen.

      „Bist du verheiratet?“, bohrt sie nach.

      „Ich bin geschieden“, flüstere ich und knipse die Nachtlampe am Regal neben dem Bett aus. Ich lausche, wie Beata sich dreht und seufzt und gleich beruhigt. Stundenlang wälze ich mich, wartend auf den Schlaf.

      Die Nacht erlöst mich von den Herausforderungen hinter der Tür. In der Dunkelheit kriechen indes aus allen Ecken die Ängste. Vor der Zukunft. Vor dem morgigen Tag. Vor mir selbst. Und vor Beata. Ihre Anwesenheit drängt zu mir mit einer Schärfe, die mich höchst aufregt. Wie sie da liegt und den Raum zwischen uns in Besitz nimmt. Sie erfüllt die Nacht um mich herum, als ob sie sich in Wellen ausgebreitet hätte. Meine letzten Gedanken sind ihr gewidmet.

      Tiger mit Rasterzöpfen im Fenster

      Am Morgen habe ich keine Lust aufzustehen. Ich ziehe die dünne Decke hoch und fühle dem Gedanken nach, einfach im Bett zu bleiben. Mein Geist ist genauso schwer wie mein Körper. Draußen strahlt es weiß, drinnen im hohen Zimmer ist recht frisch, die Heizung nur lauwarm.

      Wieso muss ich mich entscheiden? Aus welchem Grund darf ich nicht das tun, wozu ich hier und jetzt in der Lage bin? Nämlich gar nichts, mich zurückziehen, verstecken und ab und wann durch das Fenster blicken, auf das karge Feld und einen dunklen Streifen des Waldes in der Ferne. Vor mich hindösen. Nichts an mich heranlassen. Weder Schmerzen noch Gefühle. Und keine Gedanken. Endlich mir selbst entkommen.

      Die Überlegungen haben leider einen grundsätzlichen Makel: sie lassen sich nicht weiter spinnen. Ich kann doch nicht unendlich lang im Bett liegen. Die Überreste der Logik in mir wissen es. Außerdem bin ich nicht allein im Zimmer. Irgendwann werde ich die unbequemen Fragen von Beata beantworten und mich hochrappeln müssen, das Triviale erledigen. Mein Körper zwingt mich früher oder später, ihn wahrzunehmen. Deswegen lautet die Frage nicht, aufstehen oder nicht, sondern nur wann. Der Schlaf verflüchtigt sich endgültig. Der Morgen wacht auf und geht zum Klinikalltag über.

      Es sind selten die großen Entscheidungen mit dem lauten Tamtam eingeläutet, die die Weichen in unserem Leben stellen. Das Wesentliche verbirgt sich oft in unscheinbaren, unauffälligen Vorgängen, die wir nicht mal bewusst wahrnehmen, während sie geschehen. Wenn wir versuchen es aufzuspüren, ähnelt unsere Suche der Jagd auf den Heiligen Gral – niemand hat ihn gesehen, wonach also sollen wir fahnden?

      Die wichtigen und die unwichtigen Dinge vermischen sich im Tiegel der Tage bis zur Unkenntlichkeit. Reicht diese Behauptung als eine Erklärung dafür, dass ich meist falsch mit meiner Einschätzung lag? Im Irrgarten des Lebens gibt es keine Wegweiser, dafür aber genug falscher Hinweise. Ich frage mich oft, an die Gabelungen meines Schicksals angekommen, was wäre aus mir geworden, wenn ich einen anderen Weg eingeschlagen hätte?

      Noch liegend stecke ich mein Bein heraus. Alles in mir wehrt sich heftig, als ich den ersten Schritt aus dem Bett vollbringe, eine Leistung am heutigen Tag wie für andere das Erklimmen eines hohen Berges. Dabei fühle ich mich wie ein Stück Treibholz, das mitnichten eine Richtung vorgibt. Es wird wohin auch immer getrieben, nachdem es in den Fluss hineinstürzte.

      Die Bewegungsmeditation findet am Dachboden statt. Ich hätte auch spazieren gehen können. Zwischen diesen beiden Eventualitäten dürfen und müssen Patienten wählen. Hauptsache, sie bewegen sich und verlassen ihre Zimmer. Ich entscheide mich für das Unbekannte.

      Es ist acht Uhr. In dem langen Saal mit schrägen Wänden, sperrigen Säulen und grauem Teppich liegt noch düsterer Schatten als Frau Müller hereinschreitet. Was für eine Erscheinung in der Frühe! Zum Wachwerden! Ihre Gestalt übertrifft jegliche Erwartungen und fällt aus jedem Rahmen. Als ob man sie aus einem anderen Kontext herausgerissen – einem indianischen oder afrikanischen – und hierher gezaubert hätte, wirkt sie genauso exotisch wie ein bunter Papagei unter den Sperrlingen. Ihre gebundenen schwarzen Rasterzöpfe stehen zu Berge, dadurch erscheint sie noch größer und schlanker als sie ist; die grellen Farben ihrer Kleidung springen ins Auge und kontrastieren mit ihrem blassen Antlitz. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie plötzlich einen Federbusch aufsetzen und einen ekstatischen Tanz ausführen würde, oder eine Trommel herausholte, um afrikanische Rhythmen zum Besten zu geben. Stattdessen plumpst sie auf den Boden, schmeißt ihre Tasche links von sich, stellt ihre schwarze Musikbox mit zwei Lautsprechern rechts auf und streichelt flüchtig über das Foto eines Mannes darauf. Ihre langen Beine kreuzt sie zum Lotussitz, reißt ihre Stiefel herunter und zieht ihre zwei Socken in zwei verschiedenen Farben aus.

      Nach dem flinken Intermezzo ist sie bereit und lächelt uns an. Ich erhole mich allmählich vom dumpfen Staunen, wie jemand, vor dem sich auf der Wüste urplötzlich eine Oase auftut und der ein Weilchen braucht, um zu sich zu kommen.

      Wie hast du es geschafft, so wie du bist, zu überleben? Was hat dich hierher verschlagen und wieso willst du dich mit uns, den Bescheuerten, abgeben? Sie spürt meinen aufdringlichen Blick und erwidert ihn - wie ich empfinde – sichtlich verschnupft. Meine Augen flüchten sofort, ich senke meinen Kopf, suche etwas, worauf sich mein Blick stützen könnte, finde nichts und hebe mein Haupt hoch zum schrägen Dachfenster. Der Himmel erhellt sich nur ein wenig. Es wird ein grauer Tag.

      Die Neuen sollen nachmachen, was sie uns zeigt, sagt Frau Müller und kämmt über uns wachsam, ernste Miene, schwarzglänzende Augen. Wir folgen ihr auf Kommando widerstandslos. Gemeinsam begrüßen wir halblaut die augenblicklich nicht vorhandene Sonne, öffnen ein imaginäres Fenster und umarmen unsere Tiger! Ein Grüppchen Frauen schlägt ihre Arme übereinander und schaukelt ihr persönliches Raubtier. Ich schaukele es auch und komme mir ganz blöd vor. Das ist doch ein wahrer Kindergarten, pruste ich in mir und wehre mich vor der Lächerlichkeit des Mitmachens, das aus unerklärlichen Ritualen besteht.

      Es sei ein chinesischer morgendlicher Gruß, erklärt Frau Müller und entfesselt in mir ein Bild von Unmengen Chinesen, die die imaginären Fenster aufreißen und ihre gefährlichen Gespenster in den Armen wiegen. Eine bizarre Vorstellung. Chinesen. Tiger. Rasterzöpfe. Tiger mit Rasterzöpfen? Das kann doch nicht wahr sein!

      Die von uns begrüßte Sonne lässt sich nicht herauslocken. Der steingraue Himmel lugt grimmig auf unsere irrealen Tiger herunter. Nun, ich fühle den meinen überhaupt nicht. Wo bist du, mein Tiger? Habe ich dich jemals gehabt? Ich kann mich nicht mehr entsinnen. Wann verlor ich meine Krallen? Ich ängstige mich vor übermächtigen in meinen Augen Gegnern und zittere vor der nächsten Minute, Stunde, vor dem nächsten Tag. Ich verstecke mich vor den Menschen in der Ecke und ziehe die Decke über den Kopf. Nein, ich bin kein Raubtier. Ich bin ein Opfer.

      Nach einer halben Stunde ist es vorbei. Ich kehre in den Gemeinschaftssaal zurück, trinke einen heißen Kaffee und versinke in den verwirrenden Eindrücken. Der Auftakt zum hiesigen Alltag lässt sich nicht einordnen, nur bestaunen. Ich hätte ihn als… hm… verrückt bezeichnet. Wenn die Verrückten