Gabi Scheren

Der Schrei eines Untieres


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wie auf einem Schiff. Das Schaukeln hört auf, nachdem ich aufgestanden bin. Die Unruhe nicht.

      Ich erforsche das Gemälde aus der Nähe und kann mich nicht entschließen, ob es mich anspricht. Wenigstens drängt es sich nicht auf, trotz seiner Größe. Unerträglich fände ich, wenn Schneewittchen mich angeglotzt hätte. Ihre Augen sind erfreulicherweise geschlossen. Sie schläft oder träumt. Auch wenn sie von keinem großen Künstler erschaffen wurde, nehme ich ihre Existenz wahr. Ich ahne ihren Blick, vor dem ich mich fürchte. Ihre Lider spannen sich, als ob sie ihre Augen öffnen wollte. Damit sie jede meine Bewegung verfolgen könnte. Von ihrem Platz an der Wand fiele ihr leicht mich intensiv zu observieren. Sie wird es aber nicht tun; diese Linie zwischen uns schafft sie nie zu passieren. Ihre Augen sind entkräftet; sie bleiben für immer geschlossen.

      Woher kommt meine Furcht vor den auf mich gerichteten Augen? Sie steckt in mir wie angeboren. Womöglich wurzelt sie noch tiefer. Über meine Existenz weit hinaus. Überall auf der Welt schreiben doch Menschen den Augen eine magische Macht zu. Jene Kräfte jagten früher und jagen den Menschen noch heute einen Schreck ein. Wieso eigentlich? Weil Augen mehr verraten, als Masken und Worte? Spiegelt sich in ihnen unsere Seele wider? Sie ziehen uns an oder lehnen uns ab, sie lassen uns erfrieren oder wärmen uns auf. Ihr Feuer zündet unsere Herzen an. Sie versprühen Liebe oder Hass. Auch töten?

      Der Glaube, dass sie uns wirklich physisch zerstören können, wie echte Waffen, geht mir zu weit. Die Märchen über die erschreckende vernichtende Energie des bösen Blicks bleiben für mich das, was sie sind, Märchen eben. Gleichzeitig meide ich dennoch Portraits an meinen Wänden und kann mir selbst jene irrationale Vorsichtsmaßnahme nicht erklären. Etwas in mir krallt sich an dem archaischen Aberglaube fest und fürchtet jene Magie, die ebenso die Bilder ausstrahlen, aufgefangen von den Künstlern, der Verrücktheit seit eh und je verdächtigt. Sie fließt mit den Farben in die Darstellung hinein und lässt die gemalten Augen aufleben.

      Mein Koffer steht immer noch dort, wo ich ihn hingeworfen habe, vor dem Schrank, als ein Hindernis im Weg. Ich starre ihn an und denke widerwillig, dass ich meine Kleider aufräumen muss, jedes Stück in die Hände nehmen und damit die Ströme der Gedanken lostreten, dieser Gedanken, die doch an den Sachen hängen, wie eine Verwünschung, verwoben mit den Zeiten und Umständen unter deren sie in meinen Besitz gelangten. Jeder Fetzen erzählt alte Geschichten. Das sind mitnichten lustige Erzählungen. Allesamt triefen sie von der Verzweiflung und Traurigkeit. Was ich anfasse, verwandelt sich in Schwermut.

      Ich stöhne schwer und gehe in die Hocke. Gleichzeitig öffnet sich die Tür. Eine Schwester befehlt mir die Neurologin Dr. Henze aufzusuchen.

      Dr. Henze ist eine Frau um die vierzig. Sie wirkt forsch und zeichnet sich durch hastige, kantige Gesten. Ihre blonden Haare bindet sie zum Pferdeschwanz. Die glatte Frisur passt zu ihrer ganzen Erscheinung. Streng. Ablehnend?

      Sie nickt mir zur Begrüßung und kommt gleich zur Sache. Ich solle meinen Oberkörper frei machen. Sie hört rasch mein Herz ab und beordert, den Platz auf dem schmalen Sofa zu nehmen, wo ich wie ein Pferd - diese Assoziation zwingt sich mir auf - mit einem winzigen Hämmerchen an meinen Knien und an den Ellenbogen abgeklopft werde. Genauso müsste die Begutachtung einer Stute ablaufen, die nicht mehr richtig spurt und die man untersuchen muss.

      Vor den Pferden habe ich einen gehörigen Respekt. Es sind durchaus edle Tiere, dazu noch groß genug, um mich richtig zu erschrecken. In der Evolution bin ich dennoch weiter. Ich kann sprechen! Auch wenn diese Fähigkeit bei mir nicht selten aussetzt. Es verschlägt mir oft die Sprache aus nichtigen Gründen. Ich stehe dann stumm und gebe keinen Ton von mir. Mein Kopf fühlt sich wie leer gefegt an. Die Angst fließt durch meine Venen und bringt mein Herz zum Rasen. Es schlägt Alarm, dass ich nur schreien will. Ich ersticke an dem nicht geschrienen Schrei.

      Dr. Henze weiß aber nichts davon. Wieso redet sie also nicht mit mir und schweigt beharrlich? Ich fühle mich tierisch unwohl und beschämt. Ich schäme mich, halbnackig vor ihr sitzen zu müssen, während sie mich abfertigt.

      Mein Blick flüchtet aus dem Zimmer, das mir wie ein Käfig vorkommt, in den kalten Tag hinter dem Fenster. Ich zittere, vor Kälte erfasst, und versuche krampfhaft es zu verbergen. Flüchtig sehe ich sie an, ob sie bemerkt hat, was in mir vorgeht. Ihr Gesicht ist aber für mich verschlossen.

      Ihr Spielzeug-Hämmerchen steigert in mir die Angst, in die Lage zu geraten, in der nicht ich selbst, sondern andere über mich entscheiden. Was mit dem Hämmerchen beginnt, endet womöglich in einem Zimmer ohne eine Türklinke. Zuerst Abklopfen, dann rein in die Zwangsjacke! Das Klischee verbildlicht sich in einem Blitz der vorgetäuschten Erkenntnis: So ist es und so kann auch in meinem Fall werden. Einen ersten Schritt zu diesem Szenario habe ich bereits getan, indem ich mich einweisen ließ. In dieser Sekunde begreife ich geschockt die möglichen Konsequenzen meiner Entscheidung. Ich habe mich selbst ausgeliefert!

      Ihre Lippen krümmen sich zum Grinsen. Über mich? Mein Verstand sagt: Nein, das würde sie nie tun. Mein Gefühl aber spricht eine andere Sprache. Ihr Grinsen ist für mich ätzend wie eine Schmähung.

      Ich will endlich wissen, wie es um mich wirklich steht. Die Frage kann ich nicht selbst beantworten. Zu sehr habe ich mich in mir verloren! Was meinen also Dr. Henze und ihr Hämmerchen über mich?

      „Ah, hier bewegt es sich auch“, sagt sie auf einmal.

      Was bedeutet das, verdammt? Ist das gut oder schlecht? Ich sei gelenkig, fügt sie noch hinzu. Aus ihrem Mund klingt es wie ein Vorwurf.

      Sie verzieht ihre Lippen und notiert etwas hastig auf einem Blatt. War das alles, was sie mir zu sagen hat? Mit ihrem ganzen unnahbaren Wesen grenzt sie sich von mir ab und verschüchtert mich. Sie erschafft eine unüberwindbare Distanz. Von dem anderen Ufer, wo sie steht, führt keine Brücke zu mir.

      Ich sitze still und lasse ohne einen Mucks die Untersuchung über mich ergehen. Unterdessen bemerke ich, wie ein Sturm in mir aufzieht. In diesen Tagen werfen mich sogar die kleinsten Kleinigkeiten aus der Bahn. Und das hier ist keine Bagatelle! Es geht um das Ganze! Die Kugel rollt bereits im Kessel der Roulette und rattert über die Schwellen. Was springt zum Schluss für mich heraus? Finde ich meinen Weg, oder gehe ich für immer unter? Vor allem aber befürchte ich, dass Dr. Henze durch das Abklopfen und Abhören etwas wirklich Abscheuliches entdeckte, was in mir auflauert und es nun raus will. Existiert eine schlimmere Angst als die vor sich selbst? Wohin flüchtet man in diesem Fall?

      Sie sei mit mir fertig, teilt sie mir knapp mit. „Melden Sie sich bei ihrer Bezugspsychotherapeutin, Frau Schirrmann. Die nächste Tür“, sie lächelt mich schmallippig an und presst ihre Zähne zusammen, dass ihr Kiefer dabei knirscht.

      Als ich in das Zimmer hineinplatze, befürchte ich einen weitern Dämpfer. Ein Hauch der Hoffnung, der mich in die Klinik führte, wird jetzt gänzlich verpuffen. Diese Vorahnung schmerzt mit einem tiefen Stich.

      Sie ist anders, bemerke ich ein wenig erleichtert. Anders als Frau Doktor. Mir gegenüber sitzt eine Frau in dem Körper eines Mädchens mit neugierigen altklugen Augen, die sich an mich festbeißen. Sie stützt ihre Ellenbogen auf dem Schreibtisch, der sich zwischen uns ausbreitet. In diesen Sekunden wirkt sie sehr zerbrechlich und schutzbedürftig, was sich wie eine Anforderung an mich anfühlt. Ich zucke in mir zusammen, dass ich dieser unerwarteten Aufgabe nicht gewachsen bin; das heißt eigentlich, sie sei zu schwach um meine Schwäche aufzufangen. Diesen beunruhigen Gedanken entwickele ich nicht weiter, unterbrochen von einem beinahe Verhör. Stichwortartig erfragt sie das Spektrum des gängigen Übels: traumatische Erlebnisse, Gewalterfahrungen, Missbrauch. Die kurzen Sätze hackt sie wie eine Holzhauerin, zügig und fest. Der Eindruck von der Zerbrechlichkeit, den ich in den ersten Sekunden gewonnen habe, verschwindet und kehrt nicht mehr zurück. Jetzt kommt es mir vor, als ob ihr fragiler Körper an einem stählernen Rückgrat befestigt wäre. Die Widersprüchlichkeit dieser Empfindungen verwirrt mich noch mehr. Spüre ich die wahre Kraft in ihr, oder bilde ich mir lediglich ihre Stärke ein? Sehe ich die Wirklichkeit, wie sie ist, oder projiziere ich meine Wünsche und Bedürfnisse in sie hinein?

      Unbestritten erscheint mir der Unterschied zwischen den beiden Frauen. Dr. Henze und Frau Schirrmann trennen nicht nur die Wände, sondern auch die Welten. Die eine reduziert mich zu einem Mechanismus, den