Gabi Scheren

Der Schrei eines Untieres


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einer zur anderen Extreme. Davon wird mir schwindlig wie auf einer Achterbahn, die keine Zeit für Überlegungen lässt, stattdessen stürzt sie uns in das animalische Fühlen mit sämtlichen Sinnen. Bei aller meiner Verwirrtheit weiß jedoch mein Herz wie auch mein Kopf, dass der Ansatz von Frau Schirrmann richtig ist. Wenn mir jemand helfen soll, dann sie und nicht die Frau Doktor mit ihrem Hämmerchen.

      Im Nu erkiese ich Frau Schirrmann zu meiner Retterin. Was mache ich aber, wenn sie mich ablehnt? Damit meine ich nicht eine formal ausgesprochene Abweisung. Es geht mir um eine innerliche Weigerung, an der ich wie an einer kahlen Mauer zerbreche. Ich werde spüren, wenn sie ihre Zustimmung lediglich heuchelt. In meiner Not brauche ich mehr als einen trügerischen Schein. Eine Fata Morgana wird mich nicht retten.

      „Sie müssen nicht ins Detail gehen – unterbricht sie meine Ausführungen, die wenig Konkretes beinhalten, und lässt trotzdem nicht den Eindruck des Desinteresses aufkommen - dafür haben wir noch Zeit.“

      Im gleichen Atemzug verkündet sie, dass sie für zwei Wochen in den Urlaub gehe und von Frau Zunge - „Sie haben sie bereits kennen gelernt“ – vertreten werde.

      Ich blinzele heftig und tue mich schwer damit, die Bedeutung der Nachricht nachzuvollziehen. Was ist das für eine Bezugspsychotherapeutin, die den Bezug zu mir gleich abbricht? Zeigt sie mir eben die befürchtete Ablehnung? Ich verstumme und stelle keine Fragen. Sie schwirren in meinem Kopf; an der Schwelle zu den Lauten zerbröseln sie jedoch an meiner Unfähigkeit, die Befürchtungen auszuformulieren. Mein Dialog mit der Welt läuft auf diese Weise, indem ich mir die Fragen lediglich denke. Ist das nicht verrückt, dass ich trotzdem eine Antwort erwarte?

      Mit gehängtem Kopf beobachte ich intensiv meine Schuhe unter dem Schreibtisch, als ob sich dort wichtige Hinweise für mich verbärgen. Was passiert mit mir und um mich soeben? Ich erhebe verängstigt meinen Blick, geschehe, was es wolle, und sehe sie an. Nach ihrer Äußerung vermute ich nichts Gutes, es kann nichts anderes kommen.

      Sie lächelt mich aber breit an, als ob sie sagen wollte, es sei alles in Ordnung. Ich krieche aus meinem Schneckenhaus vorsichtig heraus. Im wüsten Strom der Empfindungen halte ich mich an den windigen Einbildungen fest, wie eine Ertrinkende an dem Treibholz. Ich bin zu schwach, um mich zu widersetzen, und schwimme mit. Inmitten dieses Flusses pocht klein wie ein Vogelherz meine Hoffnung.

      Inzwischen quartiert sich meine Zimmernachbarin ein. Wir reichen uns die Hände wie zwei Boxerinnen vor dem Kampf und bemessen unsere Stärken in einem in Bruchteilen von Sekunden verlaufenden Test der Sinne. Die grenzenlose Angst vor jedem und allem vermischt sich mit der Neugier auf die andere.

      Gelandet in diesem verfluchten Ort werden wir in einem Raum ausharren und unsere Nähe ertragen müssen. In der Enge eines Zimmers sollen wir unsere ganzen Welten unterbringen und uns irgendwie arrangieren. Boah! Zwei absolut fremde Personen, zwei Verrückte in einem Käfig! Wenn das mal gut geht!

      Wir stehen mitten im Zimmer und raten, was sich hinter der Schale des Gegenübers verbirgt. Sie sieht… normal aus. Nur ihre Augen glühen zu stark, damit ich glauben kann, dass sie so ruhig ist, wie sie sich zeigt. Mein Hals fühlt sich auf einmal trocken an, meine Stimme ist eine Krähe. Ich räuspere mich und spucke meinen Namen heraus. Sie stellt sich auch vor. Sie heißt Beata, kommt hierher direkt aus einer anderen Klinik und legt einen großen Wert auf das „a“ am Ende ihres Vornamens.

      „Be-a-taaa“, wiederholt sie mit Nachdruck, damit ich mir das für sie so wichtige Detail einpräge.

      Es sei ein einziger Buchstabe, ein „a“ statt „e“ am Ende, da könne man doch verlangen, dass man sich ihn merke. Stets werde sie aber Beate genannt, das sei nicht ihr Name.

      Ich nicke und signalisiere meine Bereitschaft, ihrem Wunsch zu folgen, den ich am liebsten mit dem Achselzucken quittiert hätte, wie andere Kleinigkeiten, die nicht der Rede wert sind. Ich frage mich, was noch nach diesem Auftakt auf mich zukommt. Ihre Vorstellung fühlt sich bereits wie eine Warnung an. Ich verspreche mir aufzupassen und die beiden Lauten nicht zu verwechseln. An dem Buchstaben „a“ scheint ihre Identität zu hängen.

      Verlegen und ungelenk beharren wir in der Mitte des Zimmers und wissen beide nicht, wie wir uns von der verlängerten Begrüßung lösen. Ich fege über ihr Gesicht, das in der Wucht der dichten schwarzen Haare fast kindlich wirkt. Sie mustert mich mit ihren dunklen Augen, wo ich vor allem die Traurigkeit entdecke. Jene Traurigkeit, die in mir auch wohnt. Die Schwermut schwappt über und breitet sich im Zimmer aus.

      Wir wechseln noch ein paar Worte, peinlichst bemüht, uns normal und lässig zu zeigen. Dann haben wir uns vorerst nichts mehr zu sagen. Sie dreht sich zum Schrank, macht ihn auf und freut sich überschwänglich, dass drinnen genug Platz sei, als ob sie mit dieser übertriebenen Fröhlichkeit beweisen wollte, dass es ihr wirklich gut gehe.

      Ich setze mich gleich auf mein Bett und nicht auf einen der beiden Stühle am schwarzen Tisch, der mir erstens zu klein, zweitens zu sehr im Zentrum des Raums und der möglichen Beobachtung exponiert vorkommt, und blättere in einem Stapel Papier, dem Wegweiser für unsere Therapie mit allerlei wissenswerten über den Umgang mit Gefühlen. Ich kann mich nicht konzentrieren. Das Zimmer steht unter hoher Spannung. Die muss von Beata herkommen. Was mache ich, wenn sie wirklich verrückt ist?

      Zum Mittagessen finden sich sämtliche Patienten in einer Art Wintergarten ein. Der verglaste Anbau lässt unsere Blicke draußen schweifen, sodass der Eindruck der Freiheit entstehen kann. Als ob uns von der Umgebung nichts trennte. Das ist eine Täuschung. Das Glas erweist sich manchmal als das härteste Hindernis überhaupt.

      Patient. Was für ein Wort! Wie ein Geständnis und eine Kapitulation zugleich. Ein Bild von trister Gewohnheit zwischen weißen Wänden, Pyjamas und schlurfenden Bewegungen flackert vor meinen Augen. Nichts davon passt aber zu uns. Wir tragen normale, meist sportliche Kleider. Das Weiße reduziert sich zu kleinen Tupfern der Regalen in dem Küchenabteil - zentral und offen im Atrium eingerichtet und mit modernen Geräten und Utensilien gut ausgestattet – das Kochen und Backen versteht man hier anscheinend als Bestandteil der Therapie. Die Bezeichnung Klinik ist auch im üblichen Sinne nicht angebracht. Wer uns zufällig besucht hätte - was allerdings verboten ist -, der würde eher an einen Kurort denken. Beide Begriffe muss ich dennoch fortan ertragen: Ich befinde mich in der Klinik und ich bin eine Patientin.

      Wir bedienen uns selbst aus den heißen metallenen Behältern auf der geräumigen Küchenplatte. Ich wünsche leise Guten Appetit, so leise, dass meine Stimme in dem Geklirr und dem Getuschel untergeht, dann senke ich meinen Kopf über den Teller und verschlinge hungrig das Putenragout mit Kartoffelpüree.

      Das Essen bringt ein Flitzer aus der nicht weit entfernten Küche, an der man auf dem Weg zum bizarren, weiß schimmernden Berg vorbeiläuft. Ich hätte diesen Hügel in mich hineinstopfen können, so groß ist mein plötzlicher Hunger. Nichts auf der Welt kann ihn stillen, diesen Hunger oder eher eine unersättliche Sehnsucht… Wonach?

      Das Geschirr stelle ich, wie die anderen es tun, in die Spülmaschine und verschwinde schleunigst im Zimmer, was nach einer Flucht aussieht. Und es ist tatsächlich eine. Zwischen dem Leid draußen und meinem eigenen zu differenzieren schaffe ich genauso wenig, wie meine Empfindungen zu verstehen. Ich löse mich im Schmerz auf und vermute, dass mein Gesicht diese Qual offenlegt. Keine dumme Maske ist so peinlich, wie der nackte Schmerz. Nackter kann man nicht sein. Der Schmerz entblößt die tiefst versteckten Schwächen. Er legt sie offen und liefert uns der Welt aus, einer Welt, die über uns herfällt und uns wie ein wildes Tier zerfetzt.

      Ich verkrieche mich in meiner Zuflucht, auf dem einzigen Fleck, den ich vorübergehend als meinen betrachten darf, in meiner winzigen Sicherheitszone auf meinem Bett.

      Das Klopfen an der Tür zwingt mich aufzustehen. Ich nehme einen Stapel von Formularen aus den Händen der Schwester entgegen. Sie stellt sich vor, Tina Koch, und erklärt kurz, worum es geht, ehe sie die Tür hinter sich schließt. Ich soll meine letzten zwei Wochen reflektieren, ob ich traurig war und wie sehr, ob ich an einen Selbstmord lediglich dachte, oder es auch tun wollte, und wie schlecht ich mich fühlte, wie wertlos…

      Die Fragen ziehen mich herunter. Ich muss in den frischen Wunden wühlen. Das verdunkelt