Hazel McNellis

Gefangene der Welten


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warum hatte sich niemand bemüht, herauszufinden, was sie zuvor für ein Leben geführt hatte? Dabei zusehen zu müssen, wie die Auserwählte, seine Braut, seinem loyalsten Freund die Arme um den Hals warf, erschütterte ihn zutiefst.

      War sie womöglich ein leichtes Mädchen?

      Ihr Umgang mit Richard ließ diese Vermutung zu. Ob Lan’tash wusste, wie ihr Leben auf der anderen Seite aussah?

      Er wandte den Blick ab.

      Es wurde Zeit, dass sie weiterritten.

      Am späten Nachmittag zogen schwere, dunkelgraue Wolken über ihren Köpfen auf und feiner Regen benetzte ihre Haut. Sydney fröstelte und schlang Damians Umhang, den er um sie beide gewickelt hatte, enger um ihren Körper.

      Sie saß vor Damian im Sattel und fragte sich, wohin er sie bringen würde. Das Geräusch des Regens, der auf das Laub prasselte, erfüllte die Luft um sie herum. Sämtliche Vögel schwiegen und Damian schien ganz in seinen eigenen Gedanken versunken.

      Sydney dagegen wälzte einen Gedanken nach dem anderen in ihrem Kopf und kam doch zu keinem sinnvollen Schluss. Zum dutzendsten Mal fasste sie die Erlebnisse zusammen, stets der Hoffnung folgend, eine wertvolle Information übersehen zu haben.

      Damian hatte sie überfallen und entführt. Ohne ihr mitzuteilen, was er bezweckte. Zu Beginn glaubte sie, er habe sie entführt, um ein Lösegeld zu erpressen, doch die Begegnung mit Richard hatte sie verwirrt. Er hatte sie die Auserwählte genannt. Doch auserwählt wozu? Es nagte an ihr, nicht zu wissen, was er gemeint hatte. Außerdem war da noch die verwirrende Tatsache, dass Damian jemanden – eine Frau – suchte.

      Der Moment am See schlich sich in ihre Gedanken. Damian hatte derart dicht vor ihr gestanden, dass sie die Hitze seines Körpers durch die Kleidung hindurch spüren konnte. Die Erinnerung ließ ihr Herz aufgeregt in der Brust schlagen. Er hatte sie küssen wollen, dessen war sie sich sicher. Doch warum? Was ging in diesem verwirrend gutaussehenden und verschwiegenen Mann vor?

      Sie hatte vorgehabt, schon längst wieder auf dem Weg nach Hause zu sein, doch er bewachte sie ständig mit Argusaugen. Zwar fesselte er sie nicht länger, doch dafür folgte er ihr auf Schritt und Tritt. Musste sie ein dringendes Bedürfnis stillen, so konnte sie sicher sein, dass Damian genau mitbekam, ob sie ihn nur anschwindelte oder nicht.

      Nachdem Richard sie verlassen hatte und sie sich ihrer einzigen Hilfe zur Flucht beraubt sah, hatte sie beschlossen, die Sache voranzutreiben und so schnell wie möglich von Damian fortzukommen. Es konnte nicht sein, dass er sie immer weiter von der silbrigen Wand, Jack und ihrem Zuhause fortbrachte und sie tatenlos dabei zusah.

      Sie musste fliehen.

      Daher hatte sie nicht länger gezögert und zu Damian gesagt, dass sie kurz in die Büsche müsse. Zunächst lief es ganz genau so, wie sie es erwartet hatte. Er hatte genickt und war ihr gefolgt, ehe sie ihn darum bat, sich umzudrehen, was er schweigend getan hatte. Sydney hatte seinen breiten Rücken für einen kurzen Moment angeblickt und sich ihrerseits schließlich umgedreht. So schnell sie konnte und es die Bäume und Büsche zuließen, lief sie durch den Wald.

      Sie rannte noch immer, als seine Gestalt plötzlich vor ihr aus dem Unterholz schoss. Sie konnte ihm nicht ausweichen und prallte prompt gegen seine breite Brust. Seine Hände umfingen sie, kaum dass sie zurücktaumelte, und ehe sie sich versah, hatte er sie bereits so fest an sich gezogen, dass sie vollkommen bewegungsunfähig war.

      „Das war eine törichte Idee, Mädchen. Ich habe Euch vorgewarnt, dass eine Flucht zwecklos wäre. Doch ich hätte wissen müssen, dass Ihr dem keine Beachtung schenkt…“

      Sein scharfer Tonfall durchschnitt die Luft zwischen ihnen wie ein Messer und seine dunklen Augen blickten hart auf sie herab. Sydney schluckte. Eine hitzige Antwort lag ihr auf den Lippen. Sie öffnete den Mund, um zu sagen, was sie von ihm hielt, als sich seine Lippen auf ihren Mund pressten und er sie küsste.

      Mit unnachgiebiger Härte zwang er ihre Lippen auseinander und plünderte ihre Mundhöhle, als sei es eine Schatzkammer. Vollkommen überrascht, erstarrte Sydney in seinen Armen. Unerbittlich rieben seine Lippen über ihre. Sie spürte bereits, wie der anfängliche Widerstand zu schwinden begann. Ein kleiner Teil in ihr flehte, dass sie sich doch wehren möge. Doch da war noch ein anderer Teil in ihr, größer und mächtiger, der in den Armen ihres Entführers lag und kaum wusste, wie ihr geschah. Ihre Seele schmolz unter seiner ungestümen Berührung. Erst als ihr Widerstand vollends bröckelte und sie ein Stöhnen nicht mehr unterdrücken konnte, löste Damian seine Lippen von ihr und starrte sie nachdenklich an. Ganz so, als wäre er selbst von der Kraft ihrer beider Emotionen überrascht. Eine seiner Hände lag an ihrer Wange, während die andere Hand ihre Taille umschlang. Seine Augen hatten die Farbe dunkler Schokolade angenommen und der Ausdruck der Härte und Gewalt war etwas Anderem gewichen. Etwas Natürlicheres und Instinktives lag in seinem Blick.

      Sydney bemerkte, wie etwas tief in ihrem Innern zu flattern begann. Ihre Hände lagen flach auf seinem Brustkorb und der verwirrende Drang, ihre Finger unter den zarten Stoff seines Hemdes gleiten zu lassen, ließ ihre Fingerspitzen kribbeln. Unsicher und über alle Maßen verwirrt, starrte sie ihn an.

      „Ich hoffe, Euch ist klar, was Ihr mit Euren Dummheiten heraufbeschwört“, raunte er. Der heisere Klang seiner Stimme und sein Atem, der heiß über ihr Gesicht strich, berauschte sie. Sydney bemühte sich nach Kräften ihre Gefühle zu sortieren und nickte hastig. Damian trat einen Schritt zurück und führte sie zurück zu Schara’k, wo er sie vor sich auf den Sattel zog und sie ohne ein weiteres Wort losritten.

      Und nun saß sie hier in seinem Umhang gehüllt, dicht an ihn gepresst mit tausend kleinen Schmetterlingen in ihrer Magengrube, und wusste nicht, wohin mit ihren Gedanken. Sobald sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, landete sie doch nur wieder bei dem Kuss und der verwirrenden Nähe zu Damian.

      Sydney hatte keine Ahnung, ob Damian auch daran dachte. Sie für ihren Teil war dermaßen verwirrt, dass sie kaum mehr wusste, was sie tun oder denken, geschweige denn fühlen sollte. Ununterbrochen klopfte ihr Herz aufgeregt gegen ihre Rippen und das Gefühl von Damians Armen, die sie umfingen, verbesserte ihr Gefühlschaos in keiner Weise. Sie wünschte sich, er würde ihr einen Moment der Einsamkeit gönnen, sodass sie ihre Gefühle neu ordnen konnte.

      Sein verwegener Kuss, so ganz anders als Jacks sanfte Annäherung in der Hütte, basierend auf gegenseitigem Einverständnis, hatte sie vollkommen aus der Bahn geworfen. Er hatte sie nicht zu irgendetwas zu überzeugen versucht. Sein Kuss war nicht als sanfte Verführung zu verstehen gewesen.

      Nein.

      Der Kuss ihres Entführers, dieses Fremden, war ein Raubzug gewesen. Ein gewalttätiger Überfall.

      Und dennoch… dennoch lag etwas in seinen Augen, was Sydney dermaßen verwirrte, dass sie mit einem Mal nicht mehr sicher war, was das Richtige für sie war.

      8.

      Jack stolperte. Sie waren seit Stunden ohne Pause unterwegs. Seine Füße schmerzten und er war sich keineswegs sicher, ob er diese Tortur noch länger durchhielt.

      Plötzlich zügelte der Mann vor ihm sein Pferd. Sogleich blieb auch Petes Stute stehen und Jack war versucht, sich einfach soweit gen Boden sinken zu lassen, wie es die Fesseln zuließen. Doch er fürchtete sich vor die Reaktion dieser Kriminellen. Womöglich würden sie ihn noch weiter verprügeln, wenn er sich nicht still verhielt – und das wäre noch das bessere Schicksal. Seine aufgeplatzte Lippe war mittlerweile zu doppelter Größe angeschwollen. Er hatte Durst und hoffte, sie würden endlich diesen Ort erreichen, von dem der Mann gesprochen hatte. Dort würde er sich hoffentlich hinsetzen und ausruhen können. Vorsichtig fuhr er sich mit der Zunge über die geschundenen Lippen, zuckte jedoch sogleich vor Schmerz zusammen.

      Sie standen auf einer Anhöhe und konnten in ein Tal herabblicken. Von seiner Position aus, konnte Jack einzelne Holzhütten erkennen, aus denen Rauchwolken aufstiegen.

      „Pete, ich will, dass du mit unserem Gast hier wartest, bis ich dir ein Zeichen gebe. Ich werde ins Dorf reiten und sicherstellen, dass man uns freundlich