Oder wenigstens so ein rosiges Baby in den Armen hätte.
Schwester Cecilia spricht das Mädchen an.
"Wie heißt du?"
"María."
Natürlich. Welches weibliche Wesen in diesem Land heißt nicht nach der Himmelskönigin?
"Wo wohnst du?"
Das Mädchen gibt einen unverständlichen Laut von sich.
"Bei deinem Vater?"
"Hab' keinen Vater."
Schwester Cecilia zuckt zusammen. Sie ahnt die Profession der Mutter, so unklare Vorstellungen sie auch davon hat. Sie stammen noch aus dem Elternhaus, bevor sie in den Konvent eintrat.
"Bei deiner Mutter also?"
Das Kind schaut nur das Christkind an und gibt keine Antwort.
"Lebst du bei deiner Mutter?", fragt Schwester Cecilia lauter.
"Hab' keine Mutter mehr." Die Stimme das kleinen Mädchens klingt gleichgültig.
"Wie?" Schwester Cecilia ist entsetzt.
"Krank geworden und gestorben."
"Oh!"
"Wurde immer dünner und ist gestorben."
Schwester Cecilia hat immerhin etwas von AIDS gehört, auch das noch im Elternhaus. Hilflos schaut sie das Mädchen an.
"Die Frau neben uns, die Amalia, ist auch gestorben", sagt das Mädchen.
Schwester Cecilia will der kleinen Waise etwas Gutes tun, ihr Trost spenden, erreichen, daß sie sich auch einmal freut.
"Willst du reinkommen und den kleinen Jesus richtig anschauen? Von nahem?"
Das Mädchen schaut Schwester Cecilia unsicher an. Man sieht, sie denkt, das kann doch wohl nicht wahr sein? Wortlos zwängt sie sich durch die Gitterspalte, die Schwester Cecilia ihr geöffnethat. Blitzschnell schnappt es sich das Christkind, kann plötzlich in höchster Geschwindigkeit zwischen zwei Gitterrahmen durchschlüpfen und ist zwischen den Marktständen verschwunden. Die Nonnen schreien auf. Ein paar Männer jagen dem Mädchen nach. Es ist bereits unauffindbar. Schwester Eulalia, die älteste der vier Nonnen, schaut Schwester Cecilia mit schwer zu deutendem Blick an. Ein guter Blick ist es nicht. Sie schickt Schwester Cecilia zunächst einmal mit einer anderen Schwester in den Konvent, um ein Reservechristkind zu holen. Was ihr sonst noch für die Regung ihres Herzens blüht - war sie christlich oder einfach nur jung? - wollen wir uns besser nicht ausdenken.
Wir gehen lieber dem Christkind nach und mit ihm der kleinen María. Wir finden sie nicht weit von den Nonnen. Die brüllenden Männer sind an ihr vorbeigestürmt und in der Tiefe des Marktes verschwunden. María hat sich zwischen die Zeltwände der nächsten beiden Buden geklemmt, das Christkind fest an sich gepreßt. Freilich gibt sie acht, daß Arme, Beine und Kopf des Christkinds nicht in Gefahr kommen, abzubrechen. Sie weiß, wie empfindlich diese Tonfigürchen sind. Sehen kann sie das Kind nicht, denn die eine Zeltwand liegt ihr direkt auf dem Gesicht. Sie benimmt ihr fast den Atem. Aber María wagt sich nicht zu rühren. Die Budenbesitzer vor und hinter ihr würden sie sofort entdecken. Es ist schon ein Glück, daß sie über dem Geschrei der Nonnen und dem Gebrüll der Verfolger nicht gemerkt haben, wie sie zwischen die Zelttücher geschlüpft ist. María hört, wie sie sich aufgeregt unterhalten.
"Eine Schande ist es, wie es heute zugeht", sagt eine Männerstimme hinter ihr.
"Man ist seines Lebens nicht mehr sicher", ergänzt eine klagende Frauenstimme.
"Naja", meint die Männerstimme wegwerfend, "ein Dieb ist nicht gleich ein Mörder."
"Das sagst du", fällt die Frau über diesen Satz her. "Ich will schon lange nicht mehr hier verkaufen. Ist doch viel zu gefährlich. Und die paar Kröten, die es einbringt. Dafür bringst du mich jedes
Jahr wieder in Gefahr. Die bringen mich noch um. Vor Weihnachten, ausgerechnet vor Weihnachten, bringen die mich noch um, und bloß, weil du so geldgierig bist. Fürs Geld tust du alles. Fürs Geld stellst du deine Frau hier auf den Markt. Hier bitte, eine Frau zum Totschlagen!"
Die Männerstimme bleibt aus. María hört aus der andern Bude, der vor ihr, leises Kichern, auch hier ein männliches und ein weibliches. Solche Querelen kennt sie, von Zuhause, von den Nachbarn, die sie aus dem Kanisterverschlag ihrer Mutter vertrieben haben, und aus Gesprächen, die sie seitdem in der Stadt belauscht hat, immer in der Hoffnung auf ein Geldstück oder etwas zum Essen. Sie schaltet ab. Sie wird erst wieder aufmerksam, als die beiden Paare sich in Phantasien ergehen, was man mit dem Dieb des Christkinds alles machen sollte.
"Eine Schande ist es", leitet eine Frauenstimme diesen Abschnitt der Unterhaltung ein.
"Totschlagen müßte man diese Kerle", sagt einer.
"Aufhängen", empfiehlt ein anderer.
"Sich ausgerechnet an dem heiligen Kind vergreifen."
"Kommt in die Hölle dafür."
"Früher hätte man den Kerl verbrannt."
"Und ganz langsam."
"Ertränken wär' auch eine gute Methode."
"Wenn's ein bißchen dauert, meinetwegen."
"Immer wieder hochziehen und dann wieder runter."
"Warten, bis es genug Haie hat."
María hört die drei anderen lachen. Es klingt gutmütig, ein wenig träge, dieses Lachen. Es hat direkt etwas Gemütliches. Sie mögen am Anfang des Gesprächs empört und verunsichert gewesen sein, voller Haß auf die Straßenkinder, deretwegen sie ständig auf ihr Hab und Gut aufpassen müssen und nicht friedlich vor sich hindösen können, wenn keine Kunden kommen. Jetzt sind die sadistischen Einfälle nur noch dazu gut, sich mit den Nachbarn einig zu sein über die Verkommenheit dieser Welt.
"Ich bin für's Erschießen. Einfach erschießen," nimmt eine Männerstimme den Faden wieder auf. "Das ganze Kroppzeug erschießen, was da zwischen den Marktständen herumläuft."
"Vergasen müßte man sie. Vergasen."
"Oder 'ne Spritze."
"Für das ganze Kroppzeug. Sammelt die Pest ein, bringt sie ins Krankenhaus und jedem seine Spritze."
"Ach, das tut doch gar nicht weh genug."
"Da ist schon wieder so'n Kerl. Mistzwerg, ich sage dir, verschwinde!"
"Der wird's gewesen sein."
"War's nicht ein Mädchen? Ich mein', es wär' ein Mädchen gewesen."
"Bist du verrückt geworden? Ein Mädchen tut sowas nicht. Keine Frau tut sowas. Kann ich Ihnen behilflich sein, gnädige Frau?"
"Nein, nein", sagt eine Stimme mit starkem US-Akzent. "Ich schaue nur."
"Heuer ist aber auch gar nichts los", sagt eine verdrossene Männerstimme nach einer Weile. "Nicht einmal die Touristen kaufen mehr was."
Dieb und Christkind scheinen vergessen.
María war oft Zeuge von dergleichen Gesprächen. Geduldig hat sie die Ausschüttung solch sadistischer Phantasien abgewartet, in der Hoffnung, danach ein Geldstück, ein paar tortillas und vielleicht sogar ein überbratenes, hart gewordenes Stück churrasco zu bekommen. Die halbgares Fleisch verzehrenden Kunden der churrascostände schienen einen besonderen Hang zu derartigen Gedankenspielen zu haben. Die verschiedenen Mord- und Todesarten glitten an María ab wie Wasser an einer Ölhaut.
Aber jetzt, wo sich das alles auf sie bezieht, wird ihr klar,