weggetupft, bis nur die graubraune Keramikfarbe blieb, und jetzt geschieht das Wunder. Aus dem rotweißen Gemisch im Deckel des Farbkastens wird die unerreichbar helle, unwirkliche, atmende Babyhaut.
Das Baby darf auf der Matte der Krippenfrau trocknen, damit sie noch das blonde Haar und die Gesichtszüge auftragen kann. Die Frau zieht eine feine Augenbraue über das linke Auge und schaut María ins Gesicht.
"Das ist das Christkind aus der Marktkrippe, nicht wahr?" stellt sie mehr fest, als sie fragt.
María will wieder davonstürzen. Aber die Frau hält sie mit eisernem Griff fest.
"Nun renn doch nicht weg! Wir müssen doch noch das andere Auge malen und den Mund. Du bekommst das Christkind schon wieder. Da!" Sie schiebt María ein blau-rot karriertes Tuchbündel hin. "Nimm dir eine tortilla! Meinetwegen auch zwei!"
María schlägt das Tuch auseinander. Es muß der Tagesvorrat der Malerin sein. Fünf tortillas. Sie sind noch warm. María wagt nicht, zwei zu nehmen. Sie ißt eine und zieht die zweite in zwei Hälften auseinander. Die Frau besteht nicht darauf, daß sie die zweite Hälfte nimmt. Sie scheint eher erleichtert zu sein.
"Die Nonnen haben genug Christkinder", murmelt sie nur noch. So leise, daß die kauende María es nicht hört.
Sie nimmt ihren feinen Pinsel wieder auf und malt das kleine Tongesicht fertig.
"Halt! Halt! Ist doch noch gar nicht trocken!"
Sie legen es gemeinsam auf die Matte, und nach einer Weile darf María es wieder nehmen und gehen.
"Paß aber jetzt gut auf!" ruft die Frau ihr nach. "So oft kann man den kleinen Jesus nicht wieder richten."
María rennt durch die Reihen der Marktstände, auf die Straße hinaus, wo es schon einsamer ist, bis zu einem kleinen Platz zwischen niedrigen, ebenerdigen Häuserfronten, zwischen denen sich, wie sie weiß, um dieses Tageszeit kaum jemand herumtreibt. Dort kann sie sich in aller Ruhe dicht an die Plakette eines wilden Generals aus dem neunzehnten Jahrhundert drücken und das neue Gesicht des Christkinds betrachten.
Es läßt sich nicht leugnen, die Frau mit dem indianisch geschnittenen Gesicht hat dem Christkind feine Gesichtszüge gegeben, viel feinere, als es vorher besaß. Ein Gesicht aus spanischem Hochadel gewissermaßen, wenn der je so feine besessen hat. María könnte zufrieden, ja glücklich sein. Aber sie ist es nicht. Sie hatte das alte, gröbere Gesicht des Christkinds liebgewonnen. Dieses Gesicht war in den paar Stunden, in denen sie es im Arm halten konnte, ihr Kind geworden, und das ist nun endgültig verschwunden. Sie weiß, daß die Krippenmalerin nichts dafür kann, daß sie selbst das liebe Gesicht von der Krippenfigur heruntergewaschen hat, und doch regt sich Haß in ihr gegen die Frau, die ihrem Christkind ein fremdes Gesicht verpaßt hat.
Sie spuckt in die Richtung der Krippenmalerin, nicht ohne ihre ganze Verachtung und ihren Abscheu darin zum Ausdruck zu bringen. So eben, wie sie es von den Jungens auf der Straße gelernt hat. Das gehört dazu, und María wäre höchst erstaunt gewesen, hätte ihr einer gesagt, daß dieser theatralische Aufwand auf dem leeren Platz völlig umsonst sei. Nicht einmal der wilde General über ihr nimmt ihn zur Kenntnis.
Lassen wir ihr zwei Tage, um sich an das neue Gesicht des Christkinds zu gewöhnen und vielleicht auch ein bißchen an ihm zu freuen. Sie könnte ein Versteck suchen, wo sie es lassen kann, wenn sie etwas zu essen sucht oder wenn sie am Brunnen nicht weit vom wilden General Hände und am vollen Mittag einmal Gesicht oder Beine wäscht - morgens ist es zu kalt -, aber das traut sie sich nicht. Es ist nicht immer einfach, mit der einen Hand das Christkind unter der Bluse festzuhalten und mit der andern das Notwendige zu verrichten, und geben wir es zu : die große Zehe des linken Fußes und der kleine Finger an jeder Hand hat das Christkind schon am zweiten Tag verloren, rechts sogar Ring- und Mittelfinger, ohne daß María sagen könnte, wann und wo das geschah, gar nicht zu reden davon, die winzigen Stücke wiederzufinden. Und so sehr María sich auch hüten mag, das Christkind mit der bloßen Hand anzufassen, und wenn, dann nur, nachdem sie sie gewaschen und eine ganze Weile in der Sonne getrocknet hat, es zeigen sich schon wieder graue Flecken auf seiner rosigen Haut, einer sogar mitten auf der Brust. Ist Marías Glück mit dem Baby schon durch das andere Gesicht nicht mehr so groß wie am ersten Tag, so lassen die Flecken glückliche Augenblicke noch weniger aufkommen.
Der Heilige Abend rückt näher, und mit ihm überschwemmen Touristen den Markt. Sie halten sich vor allem zwischen den Ständen mit den Krippenfiguren, Kerzen und Blechsternen auf. Aber einige gehen auch zu den Garküchen am anderen Ende des Platzes, und das ist gut für María. Niemand läßt soviel Fruchtfleisch an den Schalen und soviel Gebratenes an den Knochen, und daß die Touristen ihren Abfall, anders als bei ihnen zu Hause, hier einfach auf den Boden werfen dürfen, lassen sie sich nicht zweimal sagen. María hat Angst vor ihnen, vor der gräßlichen Sprache, die klingt wie das Gekreisch der schwarzen Geier, die nicht selten einen Knochen wegtragen, eh María oder einer der Jungens sich ihn geschnappt hat, und schlimmer noch vor der lauten Lache, die sie so oft herdenweise anstimmen. Was gibt es hier auf dem Markt bloß so viel zu lachen?
An den churrascoständen riecht es so gut. Die Roste laufen auf Hochtouren. Scharenweise stopfen Touristen das Fleisch in sich hinein, das wegen zu hoher Chemiebelastung nicht in ihr Heimatland exportiert werden durfte.
Aber die churrascos riechen so gut. Wenn bloß die vielen Leute vor den Rosten nicht wären. Eine Horde Männer fällt María besonders ins Auge. Sie stopfen nicht nur kiloweise das fette Fleisch in sich hinein. Sie sind auch selber fett. Manche bekommen ihr buntes Hawaiihemd offenbar nicht mehr zu. Die Brust- und Bauchwülste schwabbeln zwischen Knopf und Knopfloch auf und ab. Wenn nicht davon, daß die Männer mit ihren Zähnen gigantische Stücke von den churrascos abreißen, dann davon, daß sie nach vertilgtem churrasco in gemeinsames brüllendes Gelächter ausbrechen.
Aber die churrascos riechen so gut. Und die abgenagten Knochen fallen wie Regen um die schrecklichen Lacher. Sie bilden schon einen regelrechten Ring um sie. María drückt ihr Christkind an sich und schleicht näher. Einige Jungens waren schon kecker und sind längst mit saftig klebrigen Fingern davongelaufen. Halbe churrascos lassen diese Touristen fallen. Es ist nicht zum Ansehen. Und vor allem nicht zum Warten. Die dicken Touristen kümmern sich nicht um die Jungens, die zwischen ihren Füßen nach dem Fleisch grapschen. María faßt Mut. Sie läuft zu ihnen hin.
Leider ist sie ein Mädchen. Ein unreifes noch, aber wir wissen ja alle, daß es auch für solche viele, zuviele Liebhaber gibt. María hat mit diesen noch keine Bekanntschaft gemacht, und völlig unerwartet kommt ihr, was ihr jetzt widerfährt. Alle Augen über den glänzenden, fettriefenden Kinnen wenden sich ihr zu. Ein kurzes Wort in der gräßlichen Sprache, und die ganze Herde bricht wieder in dröhendes Gelächter aus. Wirklich dröhnendes. María meint die Fußstangen der Roste im Hintergrund beben zu sehen. Ein besonders Dicker beugt sich zu ihr herunter.
"Rock hoch!" schreit er und reißt an dem schäbigen Tuch, das María sich um die Hüften geschwungen hat.
Wahrscheinlich ist das alles, was er von der Landessprache kann, und das einzige, dessentwegen er hierher gekommen ist. Der Mann am churrascorost wagt nichts zu sagen. Er braucht diese Kunden, wenn er heute abend noch in die Apotheke gehen und Medikamente für ein krankes Kind kaufen will. Und ein paar tortillas. Er preßt nur die Lippen fest zusammen und wünscht, es wäre vorüber. María aber will fort. Der Dicke hält sie fest. Er umklammert ihre Bluse mit dem Christkind darunter. Erst als sie ihm in den Arm beißt, läßt er los. Während sie davonschießt, fängt er an zu schimpfen.
"Diese miserablichten Kinder, man sollte sie alle totschlagen", sagt der Mann am Rost, um zu verbergen, wie froh er ist.
Der Dicke versteht ihn nicht. Er wiehert wieder los, um dem Spott seiner Kumpel zuvorzukommen, und die Herde fällt ein.
Wir brauchen es erst gar nicht mitzuteilen. Ein Bein des Christkinds ist bei dem Gerangel abgebrochen. Es ist irgendwo zwischen die churrascoknochen gefallen, und María wird nicht die Courage aufbringen, es zu suchen. Wozu auch? Man kann es nicht wieder ankleben.