und malt jeden Vorschlag in grausigen Einzelheiten aus. Der Druck der Zeltwand auf ihr Gesicht und ihren Unterleib wird zu unerträglichem Schmerz, der Fuß des Christkinds zu einem Messer, das in ihrem Leib hin- und hergedreht wird, der Schweiß, der ihr von der Stirn ins Auge läuft, wird ihr gleich den Atem abschneiden. Sie ist drauf und dran, aus der Spalte zwischen den beiden Buden herauszustürzen. Einen halben Augenblick bevor sie sich rührt, wird ihr klar, daß dann genau das passiert, wovor sie bodenlose Angst hat. Das Wort 'Hai' löst eine solche Panik in ihr aus, daß sich ihr Denkvermögen verflüchtigt. Gestalt und Farbe ihrer Horrorphantasmen, die Worte der Budenbesitzer, alles löst sich auf in einen Nebel. Langsam und unaufhaltsam verliert sie das Bewußtsein. Immerhin bleibt ihr soviel, daß sie sich aufrecht und still verhalten kann.
Sie kommt wieder zu sich, als es draußen still geworden ist. Unheimlich ist die Stille, wenn man in ihr nichts sieht. Langsam drückt sie sich durch die Zeltplanen ins Freie. Die Buden sind zu. Planen sind auch vor den Theken herabgelassen. Alles ist mit Schlössern gesichert. Die Leute sind fort. María hat Hunger. Reinigungswagen und Marktkehrer kommen erst früh am Morgen, das weiß sie. Sie kann beinah ungestört gehen und sehen, ob sie nicht eine schlecht ausgelöffelte Papaya findet oder einen Hühnerknochen, den ein amerikanischer Tourist halb abgenagt weggeworfen hat.
Aber vorher will sie das Christkind wieder in seine Krippe zurückbringen. Sie glaubt, was sie gehört hat. Sie weiß, sie hat sich einen Fluch mit diesem Diebstahl zugezogen. und will ihn so schnell wie möglich wieder loswerden. Vorsichtig schleicht sie sich zur Marktkrippe hin.
Sie späht in den Stall von Bethlehem hinein. Ihr Herz setzt einen Augenblick aus vor Schreck. Ein anderes Christkind liegt in der Krippe. Sie braucht nicht mehr eine Stelle im Gitter zu suchen, durch die oder über die sie in die Absperrung hineinkommt, immer in der Angst, es kommt einer und bringt sie irgendwohin, wo man all das mit ihr macht, was die Budenbesitzer sich ausgedacht haben. Sie kann, nein, sie muß ihr Christkind behalten. Das macht ihr dunkle, kaum bezwingbare Angst - und zugleich wilde Freude.
Vor der Marktkrippe wagt sie 'ihr' Christkind nicht unter der verknauschten Bluse hervorzuziehen. Ihr Hunger wächst ins Ungemessene. Sie umklammert das Christkind unter dem dünnen Stoff fest mit der linken Hand und schleicht sich davon, zu den Ständen mit den Früchten. Und da liegen sie auch schon, von den Marktfrauen am Abend aus ihren Körben und Kisten ausgelesen und achtlos auf den Boden geworfen, wie es des Landes Brauch ist. Ganze Papayas mit einer Druckstelle, Tomaten, die eine dunkle Stelle haben, braune Bananen, die doch viel besser schmecken als die, die noch gelb sind. María sieht sich um, und als sie niemand kommen sieht, legt sie das Christkind sorgsam in den Schatten unter einen Holztisch. Die Dämmerung bricht rasch herein. Selbst das rosige Christkind ist kaum zu sehen. Sie kann sich in Ruhe satt essen. Die Markthüter, das weiß sie, kommen erst gegen Mitternacht, und weil sie trotz ihrer Pistolen Angst haben, machen sie auch immer einen Lärm, den man zehn Stände weit hört.
Auch María hat Angst, so allein in der Nacht zwischen den leeren Holztischen. Aber der Hunger ist größer. Als er endlich gestillt ist, möchte sie ihr Christkind hochnehmen. Aber ihre Finger sind klebrig, und sie weiß, das tut der Farbe des Christkinds nicht gut, und gerade sie ist es doch, die es ihr so lieb und kostbar macht. Sie versucht die Hände an den steifen Zelttuchwänden abzuwischen, was aber nur den Erfolg hat, daß zum klebrigen Saft der Papaya und Bananen noch ein körniger Schmutz kommt, von dem María nicht weiß, wo er eigentlich herkommt (und wir auch nicht). Vielleicht ist es Sand. Aber das interessiert jetzt nicht weiter. Wenn man ihn und das klebrige Zeug nur von den Händen wegbekäme. Es bleibt schließlich nichts anderes übrig, als sie ganz unten am Saum des Rocks abzuwischen, der sowieso schon total verdreckt ist und von dem María ohnehin nicht weiß, wie, wann und wo sie ihn jemals waschen soll. Schon fast im Dunklen greift sie unter den Tisch - möge dort nicht inzwischen eine Spinne oder ein Skorpion wach geworden sein, die mit den Bananenständen auf den Markt gekommen sind. Nein. María ertastet ihr Christkind, legt es sich in den Arm wie ein Baby und eilt zu ihrer Schlafstätte unter dem vorspringenden Dach eines Supermarkts. Hoffentlich liegen die Zeitungen noch dort...
Und alles ist gut. Am nächsten Morgen in der Dämmerung erwacht sie und hat alle Zeit zu verschwinden, eh jemand kommt, dem es einfallen könnte, sie zu verjagen. Das Christkind liegt noch unversehrt an ihrer Seite. Es wird heller, und wie leuchtet die rosige Haut des Christkinds auf Marías braunem Arm. Es ist nicht lebendig. Es regt sich nicht. Aber wie rund und kindlich sind seine Arme und die Beinchen. Es lächelt, nicht hilflos oder etwa mit Augen, die ihre Umwelt noch nicht recht erfassen und ins Leere schauen. Dieses Kind ist eher zu bewußt mit seinem geraden Blick. María nimmt nicht weiter wahr, wie überreif dieses doch angeblich gerade auf dem Stroh geborene Baby ist. Sie dreht es solange hin und her, bis es ihr gerade in die Augen schaut, und läßt sich überfluten von seinen kindlichen Reizen. Überall tippen sie an, wo in ihr mütterliche Reflexe darauf warten, von ihnen angesprochen zu werden, frühe Stufen solcher Reflexe vielleicht, aber doch schon weit herangereifte...
María erlebt Augenblicke des Glücks. Sie steigen in ihr hoch. Sie lassen sie alles um sich her vergessen. Fast ohnmächtig werden.
Sie können nicht ewig dauern. María kommt wieder zu sich. Sie sieht die Straßenjungen vor sich, mit denen sie Markt und Schlafstelle unter dem Kaufhausvordach teilt. Sie weiß, daß sie ihr Christkind riskiert, wenn sie es nicht schleunigst wieder in ihrer Bluse versteckt, und besser wird auch sein, damit so schnell wie möglich aus der Menge zu verschwinden. Erst als sie einen etwas abgelegenen, wenn auch nicht gerade einsamen Winkel erreicht, wagt sie das Christkind wieder hervorzuziehen. Der Rausch mütterlicher Gefühle hat nachgelassen, und sie bemerkt, daß die rosige Haut des Christkinds Fingerabdrücke abträgt. Papayafarbene und bananenfarbene. Einen häßlichen Daumenabdruck auf dem Bauch, und die vier anderen Finger sind deutlich auf dem Rücken und den beiden runden Bäckchen darunter zu sehen. María versucht sie mit einem Blusenzipfel abzuwischen. Ihre Konturen verschwinden. Aber statt ihrer breiten sich große graue Flecken aus. María hat es offensichtlich geschafft, mit den Abdrücken die rosige Farbe abzureiben. Das Grau freilich, das Grau kommt wohl daher, daß sie die Bluse so lange nicht gewaschen hat.
María eilt zum Brunnen in der Mitte des Marktplatzes. Sie taucht einen Finger ins Wasser und versucht mit ihm den Dreck wegzutupfen. Auf dem Babypo zunächst. Aber o weh, das Wasser läuft am Körper des Christkinds entlang, vorn und hinten. Es zieht überall lange Strähnen in die Wasserfarbe. Ehe María es verhindern kann, hat ein Tropfen das Gesicht erreicht. Auge, Braue, Mund, alles löst sich auf in ein paar Schlieren.
Weit fort sind die Momente des Glücks.
Durch ihren Tränenschleier bemerkt María eine Frau, die nicht weit vom Brunnen mit einer Heerschaar von Krippenfiguren am Boden sitzt. Streng militärisch stehen die Figuren da, auf Vordermann gebracht gewissermaßen. Mehrere Dutzend Josephs, daneben mehrere Dutzend Marias, eine Reihe Ochsen, eine Reihe Esel, Reihen von Schafen, Hirten, Heiligen Königen und manches andere, immer eine Reihe schön neben der andern. Die Frau schaut María zu, wie sie ihr Christkind zu waschen versucht. Sie ist dunkelhäutig wie María. Schräge Augen hat sie, hohe, knochige Wangen und breite Lippen mit scharf abgesetztem Rand. Sie könnte eine reine Indianerin sein.
Sie amüsiert sich über María. María ist verzweifelt. Immer mehr Farbe geht ab von ihrem Christkind oder verwandelt sich in eine häßliche Tunke. Die Frau lacht.
"Komm her! Ich male deinem Christkind ein neues Gesicht", sagt sie.
María schaut die Frau voller Panik an. Sie ist drauf und dran, davonzulaufen.
"Ich nehm' dir das Christkind nicht weg", sagt die Frau. "Schau, hier ist Rot, hier ist Weiß, und hier das Schwarz für die Augen. Du holst mir Wasser am Brunnen, und dann machen wir dein Christkind wieder schön." Damit streckt sie María eine verbeulte Konservendose hin.
"Kannst dein Christkind hier hinlegen oder nimm's mit." Kopfschüttelnd sieht die Frau María nach, wie sie zum Brunnen geht, ihr Christkind fest in der Hand.
Zehn Minuten sitzen die beiden nebeneinander hinter dem Heer der Krippenfigürchen und María schaut zu, wie die Frau Rot und Weiß mischt. Sie hat das Christkind