María aber gewinnt das einbeinige Christkind wieder lieb. Es ist, als ob das fehlende Bein die Fremdheit des Gesichts auslösche. So etwas wie Mitleid und Erbarmen mit dem kleinen Krüppel regt sich in ihr. Stundenlang sitzt sie unter dem wilden General und versucht das Baby über den Verlust hinwegzutrösten. Sie zeigt ihm, was es ihrer Ansicht nach an Sehenswerten in der Stadt gibt. Sie geht auch mit ihm in den Park, wo sich gerade eine Mariachikapelle produziert. 'Wenn sie uns lassen, werden wir uns lieben unser Leben lang', singt der Sänger...
Es geht immer schneller auf das Weihnachtsfest zu. Bald wird alles hier auf dem Markt zu Ende sein. Ein churrascobrater wird an seinem Stand bleiben, aber er wird warten müssen, bis einmal einer vorbeikommt und auf Gebratenes Lust hat, und vor allem auf das Geld dafür, manchmal stundenlang. Es werden keine schlecht ausgelöffelte Papayas herumliegen. Die Einheimischen nehmen die Früchte mit und essen sie zu Hause. María weiß es. Sie wird wieder hungern und betteln müssen. Stundenlang umsonst. Aber noch hat sie ihr Christkind, einbeinig wie es ist und nicht mehr ganz vollständig. Sie hat es lieb und teilt mit ihm ihre Gedanken und ihr Herz.
Wenn es nur nicht regnete. Ein eisiger Nieselregen fällt auf die Stadt, auch er stundenlang. Selbst unter dem Vordach des Supermarkts werden Marías dünne Kleider klamm und feucht. Ab und zu treibt sie auch der Mann, der die Einkaufswägelchen zusammenzusuchen hat, in den Regen hinaus, und bis sie hinter ihm wieder unter das Dach schlüpft, ist sie wieder ein Stück feuchter und kälter geworden. Dem Christkind kann das auch nicht gut bekommen. Hier, neben den ein- und ausströmenden Supermarktkunden, traut sich María nicht, nach ihm zu schauen. Bis sie ein 'Knack' in ihrer Hand verspürt. Da weiß sie, daß dem Christkind ein Arm oder noch ein Bein abgebrochen ist. Hoffentlich nicht der Kopf. Gerade in diesem Augenblick geht dicht vor ihr ein heftiger Regenguß nieder. Es bleibt nichts als zu warten.
Am nächsten Morgen weiß María nichts anders als zu der freundlichen Indianerin zu gehen und ihr wortlos die hoffnungslosen Trümmer des Christkinds hinzuhalten. Das heißt, so schlimm ist es vielleicht gar nicht. Nicht alles ist abgebrochen, nur eine Hand und ein Bein vom Knie ab. Das kann man vielleicht kleben. Der Regen hat freilich auch das ganze feine Gesicht wieder heruntergewaschen und das Blond der Haare mit Rot, Weiß und Schwarz des Gesichts zu einem ekligen graugelben Gemisch verschmiert. Aber das kann man abwaschen und dem Christkind ein neues Gesicht malen.
Aber María kommt an die Falsche.
"Hast du's so schnell ruiniert?" schreit die Frau. "Für dich brauch' man wirklich nix zu tun. Hau ab!"
María bleibt stehen. Einfach weil sie nicht weiß, was sie tun soll. Ihr Blick fällt auf die lange Reihe der Christkinder unten auf der Matte, die nach wie vor rosig sind und alle zwei Arme und zwei Beine haben. Die Frau interpretiert Marías Blick falsch, weil sie ihn bei anderen Straßenkindern schon so oft richtig interpretiert hat. Sie springt auf. Plötzlich hat sie eine Peitsche in der Hand.
"Ich kenn' euch", schreit sie. "Diebsgesindel, verdammtes! Du glaubst wohl, du kannst dir bei mir ein neues Jesulein stehlen. Da hast du dich geschnitten. Hau ab! Verschwinde, verdammte Kröte, oder ich schlage dich zu Brei!"
María die Peitsche sehen und davonschießen ist eins. Sie hört noch drei Reihen Stände weiter das wilde Geschimpfe der einstigen Wohltäterin, die aller Welt mitteilt, wieviele Hundert Krippenfiguren ihr auf diesem Markt durch das 'Gesindel' schon abhanden gekommen seien.
Was wird wohl aus den Trümmern des Christkinds geworden sein?
"Schaun Sie nur, was sie mit unserem Jesuskindlein machen!" hört sie die Frau in der Ferne schreien. "Alles kaputt! Schaut euch das Bein an! Und da liegt noch 'ne Hand! Soll mich nicht wundern, wenn wir noch den Kopf finden. Unser Jesulein! Vermaledeite Nuttenbrut!"
María treibt es, zurückzukehren und einzusammeln, was vom Christkind vor der keifenden Frau liegt. Aber wie soll sie das? Sie wird gar nicht bis zu der Stelle gelangen, wo Hand und Bein liegen. Sie hat auch Angst, furchtbare Angst, nicht so sehr vor ihrer ehemaligen Helferin als vor den Menschen, die sich um sie versammelt haben. Leute, die sie nicht kennt. Böse Leute. María malt sie sich dunkel aus, groß, bös und unzugänglich, und wahrscheinlich hat sie sogar recht. Dort erwartet sie nichts Gutes. Bein und Hand des Christkinds sind weit und unerreichbar. Verloren. María macht, daß sie weiterkommt, ab in die Nebenstraße, wo es zu ihrem kleinen Platz unter dem wilden General geht. Dort ist es zwar feucht und kalt, aber María kann sich hinsetzen und ungestört nachsehen, was von ihrem Christkind noch übriggeblieben ist.
Es ist nicht mehr viel, und das bißchen ist wenig ansehnlich. Beide Beine fehlen und die rechte Hand. Nun, das wußte María schon, auch, daß der anderen Hand mehrere Finger fehlen. Schlimmer ist, daß dem Christkind auch die Nase aus dem Gesicht gebrochen ist. Wo mag sie liegen? An ihrer Stelle breitet sich im Gesicht ein Fleck der Brühe aus, die den Kopf und fast die ganze Brust bedeckt. Nirgends glänzt das graugelbe Gemisch so scheußlich wie hier.
An diesem Christkind ist nicht mehr viel zu liebzuhaben. María spürt nichts mehr von der Wonne, die kleine Puppe im Arm zu halten. Sie ist nicht unglücklich. Sie fühlt sich nur leer, und in diese Leere dringen langsam die bösen Worte ein, die sie überall in den letzten Tagen gehört hat. Sünde ist ein Wort, das sie kennt, ohne ihm eine genaue Bedeutung geben zu können. Jedenfalls ist es mit Strafe verbunden, und einer Strafe, die bedrohlich ist, ungeheuer, vernichtend und endgültig, wenn man nicht schleunigst etwas dagegen tut. Jedenfalls muß sie diese Trümmer von einem Christkind loswerden. Nicht irgendwo hinschmeißen. Das wäre wahrscheinlich wieder eine Sünde und eine viel schlimmere noch als der Diebstahl.
Die Nonnen. Wenn sie ihnen das Christkind zurückbringt, kommt sie vielleicht noch einmal davon.
Und die Nonnen sind bei der Marktkrippe. Heute ist der vierundzwanzigste, und die Hirten sind bei der Krippe angekommen. Es ist den Nonnen so wichtig wie den anderen Bewohnern des Landes, daß die Weihnachtsgeschichte in allen Einzelheiten in der Krippe dargestellt wird. Die Schwestern sind wieder mit ihren Körben erschienen. Diesmal wickeln sie kniende Hirten aus den weißen Tüchern, jeden mit seiner Gabe. Käse, ein Fell - das dem Christkind gut täte, denn es ist bitter kalt, könnte man es nur von der Figur des Hirten lösen -, ein Lämmchen, das ein Hirtenknabe in Marías Alter im Arm hält, eine Flöte...
Auch Schwester Cecilia ist mitgekommen, als einzige von denen, die die Krippe vor drei Tagen aufgestellt haben. Sie muß wieder den Zugang zur Absperrung zu bewachen. Es ist eine von den vielen kleinen Strafen, die die Schwester Oberin ihr zugedacht hat. Nicht nur sie, auch andere Schwestern haben die arme Schwester Cecilia in den letzten drei Tagen wissen lassen, was für eine Sünde sie zugelassen und damit auf sich geladen hat. Für die Nonnen ist das tönerne Christkind nicht weniger der Leib des Herrn als die Hostie im Tabernakel, und Schwester Cecilia wisse doch, wie sorgfältig der Priester nach der Messe auch den geringsten Rest der Hostie entferne, damit niemand damit Mißbrauch treibe. Padre Alfonso, der Beichtvater des Klosters, hat der kleinen Cecilia zwar erklärt, das sei Blödsinn, und Krippenfiguren hätten nicht das Geringste mit der Hostie zu tun, auch wenn sie unsern Herrn selber darstellten. Richtig ärgerlich ist Padre Alfonso geworden. Aber Padre Alfonso ist ein Flame und Ausländer, und im Konvent zu bestimmen hat die Schwester Oberin.
Schwester Cecilia hat Angst vor dem Wächteramt gehabt, aber natürlich nicht gewagt, Schwester Oberin zu bitten, ihr es zu erlassen. Furchtsam und grimmig steht sie zwischen den auseindergeschobenen Drahtrahmen. Sie scheint um Jahre gealtert in den drei Tagen. Aber kaum ein Straßenjunge zeigt sich. Der kalte Nieselregen hält sie wohl ab. Plötzlich sieht Schwester Cecilia María durchnäßt und mit strähnigem Haar vor sich stehen. Sie erkennt sie sofort wieder und erstarrt vor Schreck. Ohne sich zu rühren stehen María und Schwester Cecilia sich stumm gegenüber. Beiden erscheint es eine Ewigkeit.
Dann greift María unter ihre Bluse und zieht das demolierte Christkind hervor. Wortlos reicht sie es Schwester Cecilia hin. Schwester Cecilia braucht einige Augenblicke, um zu erkennen, was dieses Stück Schmutz einmal war. Sie wird rot, vor Schreck, Angst, Empörung. Sie weiß nur eins : sie muß unter allen Umständen verhindern, daß dieses Jesuskind weiter mißhandelt wird, daß