Friedrich von Bonin

Die Wahrheit ist immer anders


Скачать книгу

würden. Meine Frau war von der Situation fast mehr beunruhigt als ich, obwohl, da machte ich mir etwas vor: Seit einem Jahr, seit diese Geschichte angefangen hatte, schlief ich nicht mehr ruhig, ich konnte auch nicht mehr konstant und konzentriert arbeiten, wie das sonst meine Gewohnheit war.

      Und natürlich sind wir beunruhigt, meine Familie und ich. Seit fünf Generationen leben wir Eschenburgs in Königsfeld, meine Vorfahren waren ursprünglich Handwerker, aber mein Großvater Eduard Eschenburg, den ich noch gekannt habe, hat die Tradition der Juristen in der Familie begründet, er war ebenso Jurist wie mein Vater und ich. Er war Finanzstadtrat in Königsfeld gewesen und zwar zu einer Zeit, als das nicht ganz einfach gewesen sein kann. Ich habe ihn als Kind sehr geliebt. Gerne saß ich auf seinem Schoß und ließ mir von ihm mit einer Stimme, zu deren Beschreibung nur das Wort „gemütlich“ in Betracht kommt, Geschichten erzählen. Großvater kannte große Teile des Werkes von Wilhelm Busch auswendig und trug mir mit unendlicher Geduld Buschs Ballade von Max und Moritz vor, immer und immer wieder, sooft ich das wünschte.

      Ich beschloss, in das nahegelegene Café Kröger zu gehen, mich dort in eine Ecke zu setzen in der Hoffnung, dass mich niemand erkannte, damit ich in Ruhe meinen Erinnerungen nachhängen könnte. Es war jetzt nach der Kaffeezeit, für die Abendgäste zu früh, so dass ich, im Café angekommen, tatsächlich keinen Bekannten dort sah. Ich setzte mich in eine dunkle Nische, bestellte mir ein Kännchen heiße Schokolade und sinnierte weiter.

      Großvater. Was hätte der jetzt wohl gesagt, wenn er mich während der Arbeitszeit in einem Kaffeehaus heiße Schokolade trinkend sehen würde. Ich wusste, er würde lächeln, wie er immer lächelte, mit der Weisheit des Alters. Er würde sich freuen, dass ich dem Müßiggang huldigte. „Du bist ein Streber, mein Enkel“, hatte er immer gesagt, wenn ich für die Schularbeiten den ganzen Nachmittag brauchte.

      Eduard Eschenburg, so hieß er, wurde 1896 geboren. Er war Anfang siebzig, als ich zehn war. Ich erinnere mich an ihn als uralten Mann, von der Warte meines kindlichen Alters aus gesehen. Er schaukelte mich, den Zehnjährigen, auf seinen Knien, ich sah ihn an: schlohweißes Haar, ein glattrasiertes faltiges Kinn mit einem tiefen Grübchen und einem freundlichen, gutmütigen Lächeln auf dem Gesicht. Dieses Lächeln blieb fast immer, ich habe ihn nie ungeduldig oder gar unwirsch erlebt. „Warum sollte ich böse werden, Franz“, fragte er, als ich ihn darauf ansprach, „die meisten Menschen tun ja, was ich möchte, und sollten sie es einmal nicht tun, kann ich immer noch energisch werden.“

      Mein Vater war da anders. Er war im Gegensatz zu Großvater hochgewachsen, ebenso wie mein Bruder Hans, während ich klein war wie mein Großvater. Bei meinem Vater war die Größe noch durch seine sehr gerade Haltung verstärkt. Vater war Oberstaatsanwalt bei dem Landgericht Königsfeld gewesen, ein Beruf, der bei ihm auch im Privatleben immer wieder durchkam. Wir fürchteten meinen Vater so, wie wir den Großvater liebten. Wenn wir sonntags beim Mittagstisch saßen, war er es immer, der das Tischgebet sprach und darauf achtete, dass wir sorgfältig die Hände falteten, die Köpfe senkten und beteten, bevor wir zu essen anfingen. Nie gab es bei meinem Vater etwas zu naschen, immer war es der Großvater, der uns kleine Stücke Schokolade oder Bonbons zusteckte, heimlich, damit sein Sohn das nicht sah, der ihn, seinen eigenen Vater, tadelte, weil er uns angeblich verwöhnte.

      Und so sah ich uns beim Tisch sitzen, meinen Vater an der Stirnseite als das Oberhaupt der Familie, neben ihm meine Mutter, daneben Großvater, mein Bruder und ich ihnen gegenüber. Streng achtete mein Vater darauf, dass wir Messer und Gabel ordentlich handhabten, dass wir die Kartoffeln nicht mit dem Messer schnitten, dass wir die Ellbogen am Körper hielten, wenn wir die Gabel an den Mund führten und aufrecht saßen. Und nicht nur wir mussten diese Sitten wahren, auch bei meiner Mutter achtete er sehr auf Haltung. Nur mein Großvater setzte sich darüber hinweg. „Habe ich dich als Kind nicht erzogen, so erziehe du mich bitte nicht im hohen Alter“, pflegte er zu sagen, wenn mein Vater ihn zu kritisieren versuchte, immer mit seinem freundlichen Lächeln.

      Wir wohnten schon damals in der alten Villa, die den Erzählungen nach mein Urgroßvater hatte errichten lassen, kurz nach der Wende in das zwanzigste Jahrhundert, einem ausladenden Gebäude mit Stuckverzierungen außen an den Fassaden und riesigen, hohen Räumen im Inneren. Im Erdgeschoss lebten wir, es enthielt Wohnzimmer, Küche und zwei kleine Räume mit Bad für meinen Großvater, dem das Treppensteigen schwerfiel. Er litt zu Zeiten an starkem Gelenkrheuma, wie er das nannte, ohne sich aber von den Schmerzen unterkriegen zu lassen. In der ersten Etage, die man über eine geräumige, weit schwingende Treppe erreichte, war das Schlafzimmer meiner Eltern und das luxuriöse Bad, das sie sich nachträglich hatten einrichten lassen. Neben dem Schlafzimmer hatte mein Vater sich ein Arbeitszimmer eingerichtet, mit dunklen, schweren Möbeln und dunkelgrünen rauschenden Seidenvorhängen vor den großen Fenstern.

      Oben unter dem Dach schliefen und arbeiteten wir, Hans und ich. Mein Bruder Hans ist zwei Jahre jünger als ich, wir gingen aber schon als Kinder meistens getrennte Wege, er ist, anders als ich, ein sehr sportlicher Mensch, der auch heute noch Marathon läuft und in seiner Altersklasse sogar Preise gewinnt. Ich konnte schon in unserer Jugend mit dieser Sportlichkeit nicht viel anfangen und heute geht es mir nicht anders. Ich saß lieber bei Großvater im Zimmer und betrachtete mit ihm alte vergilbte Fotografien, die er gerne vorzeigte. „Erzähl doch von früher, Großpapa“, sagte ich oft und nur zu gerne holte er die Bilder hervor, die ihn und meine Großmutter zeigten, die vier Jahre nach meiner Geburt gestorben war, eine schöne stolze Frau.

      „Sie war eine geborene de Hourot“, pflegte er zu sagen, „sie kam aus einer sehr vornehmen Familie, alter Hugenottenadel.“

      „Was ist das, Hugenottenadel?“ fragte ich.

      Und Großvater erzählte von den Hugenotten, wie sie in Frankreich um ihren protestantischen Glauben gekämpft hatten und nicht nur in Frankreich hatten Protestanten und Katholiken Krieg geführt, weil sie sich über den richtigen Weg zu Gott und zu Christus nicht einigen konnten.

      „In Deutschland dauerte dieser Krieg dreißig Jahre mit Unterbrechungen, nach der Dauer hat er seinen Namen, Dreißigjähriger Krieg“, erzählte er. „In Frankreich war der König sehr brutal mit den Andersgläubigen umgegangen, sie hatten abschwören müssen oder sie wurden ermordet, einen dritten Weg gab es nicht. Nun gab es aber in Deutschland in einigen Ländern Fürsten, die den gleichen Glauben hatten, dorthin konnten die französischen Protestanten, eben die Hugenotten, fliehen und waren willkommen. Und noch heute erkennt man sie bei uns an ihren französischen Namen. Sie waren tüchtig, fromm und fleißig und gewannen daher in Deutschland schnell an Ansehen und Reichtum. Und ein bisschen von diesem Blut fließt auch in dir, über deine Großmutter.“

      Viel lernte ich in diesen Tagen von meinem Großvater, Dinge, die nicht in den Schulbüchern standen und über die unsere Lehrer, wenn überhaupt, nur sehr langweilig erzählten.

      „Großvater, erzähl von früher.“

      „Ja, mein Junge, du mochtest heute die Kartoffeln nicht, die deine Mutter gekocht hat, weil sie hart waren? Es hat Zeiten gegeben, Franz, da haben wir die Kartoffeln roh gegessen, Hauptsache, wir hatten welche. Als der erste Weltkrieg zu Ende war, war ich zweiundzwanzig Jahre alt, ich habe den Krieg von Anfang an mitgemacht. Als junger Mann war ich Feuer und Flamme, ich wollte helfen, die Feinde Deutschlands zu besiegen, aber dazu kam es nicht, weil der Kaiser vorher floh und die deutsche Armee kapitulierte. Wie haben wir gehungert, in den ersten Jahren nach dem Krieg. Wir haben uns um rohe Kartoffeln geprügelt, ich und die Bauern auf den Äckern da draußen. Zum Glück war unser Haus hier unbeschädigt geblieben, wir hatten anders als die meisten wenigstens ein Dach über dem Kopf. Aber zu essen hatten wir nichts, wir nicht und unsere Nachbarn auch nicht. Kannst du dir vorstellen, dass dein alter Großvater damals ein Dieb war? Nein? Franz, ich habe damals geklaut, ich habe alles gestohlen, was auch nur irgend zum Essen geeignet war, wenn nämlich jemand so dumm war, es für mich erreichbar liegen zu lassen. Hier in der Stadt gab es nichts, wenn wir nicht die Ratten essen wollten, die es massenhaft gab, und viele haben sie gegessen. Wir, meine Schwester Kathrin und ich, sind damals aufs Land getigert, da, wo die Bauern wenigstens ihre Tiere hatten, die sie schlachten und essen konnten. Und auf den Feldern fanden wir im Herbst und im Frühjahr Früchte, Kartoffeln und Rüben. Aber wehe, wir wurden erwischt, wenn wir die spärliche Ernte ausgruben. Die Bauernsöhne waren besser