Friedrich von Bonin

Die Wahrheit ist immer anders


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nicht, wo du bist.“

      „Entschuldige bitte, Hanna, dass ich erst jetzt komme, aber ich war bei Dr. Dragon, das weißt du, und dann musste ich mich erst einmal erholen, ich habe bis jetzt im Kaffeehaus gesessen und gegrübelt, darüber habe ich die Zeit verloren.“

      „Ist es denn so schlimm, was Dr. Dragon dir gesagt hat?“

      „Ich weiß nicht, ich habe die Anklageschrift zwar mit, aber noch nicht gelesen, ich werde das heute Abend machen. Aber der Anwalt sagte, dass der Staatsanwalt sich auf mich als Hauptbeschuldigten eingeschossen hat. Sie wollen anscheinend eine Riesenaffäre daraus machen, sieh mal hier.“

      Ich nahm die Anklageschrift aus meiner Tasche und zeigte sie ihr, sie hatte wohl hundertfünfzig Seiten, ein ganzes Päckchen.

      „Franz“, rief sie entsetzt, „darin ist immer nur von dir die Rede?“

      „Wohl nicht nur von mir, aber jedenfalls zum großen Teil. Hanna, lass mich erst einmal lesen, und dann sage ich dir meine Einschätzung.“

      „Aber dafür hast du doch den Anwalt, hat der denn nichts gesagt?“

      Hanna war einmal mit mir bei Dr. Dragon gewesen, beim ersten Mal, und hatte ihn nicht gemocht. Noch mehr als mir war ihr seine langsame Art auf die Nerven gegangen. Ich sah sie an.

      Meine Frau war immer noch eine schöne Frau, trotz oder gerade wegen ihrer fünfzig Jahre. Sie war nur drei Jahre jünger als ich, aber bisher hatte ich noch nie den Drang meiner Altersgenossen nach einer jungen Frau verspürt. Ich liebte sie immer noch, nicht mehr so wie in jungen Jahren, nicht mehr heiß und leidenschaftlich, sondern ruhig und stetig. Hanna hatte mich in mein Arbeitszimmer geleitet und mich mit den Worten „gut, Franz, dann lies erst mal“ allein gelassen.

      Ich hatte das Jurastudium in der kleinen Universitätsstadt Karlsburg begonnen, ungefähr hundert Kilometer nördlich von Königsfeld. Ich hatte nach dem Abitur keine Sonderbegabung gespürt und deshalb nicht recht gewusst, was ich studieren sollte, denn dass ich studieren würde, stand außer jeder Frage. Es lag daher nahe, dass ich mich bei Jura einschrieb, wie schon mein Vater und mein Großvater. „Dann stehen dir alle Berufe offen“ hatte mein Vater ermunternd gesagt und so hatte ich begonnen.

      Die ersten zwei Semester hatte ich mühsam zu verstehen versucht, was ich da eigentlich lernen sollte. Es waren lauter Einzelteile von abstrakten Denkgebilden, die man mir einzutrichtern versuchte, aber irgendwann fing ich an zu bemerken, dass die Einzelteile zu einem ganzen Denkgebäude gehörten, mein Ehrgeiz erwachte, die Zusammenhänge zu erkennen und zu verstehen und ab dem vierten Semester genoss ich das Lernen.

      In diesem Jahr lernte ich Hanna Janson auf einem Fest kennen, das ein Freund gab. Ich sah sie und war verliebt. So schnell ging das, dass ich erst gar nicht verstand, wie mir geschah.

      Sie war damals eine schlanke junge Frau mit einer Figur, die unter einem leichten Kleid, es war Sommer, andeutungsweise zu sehen war. Von allem Anfang an war ich aber nicht in ihre Figur verliebt, sondern in ihr Gesicht. Von leicht länglichem Schnitt war es schmal wie die ganze Frau. Über einem vollen Mund, der von zwei wunderschönen Grübchen gerahmt wurde, erhob sich eine lange gerade Nase, vielleicht etwas zu lang, und darüber, unter einer erstaunlich breiten Stirn, die Augen, von einem klaren Blau, lebendig, wie ich vorher und nachher keine gesehen habe. Sie sahen mich an und lachten, ich brauchte nicht hinzusehen, ob der Mund lachte, ihre Augen genügten. Auch später übrigens und auch, wenn sie wütend war, spiegelten sich in ihren Augen ihre Stimmung, ihr Gemüt und die ganze Frau. Das Gesicht wurde von braunen Haaren, die sie lang trug, umrahmt, das dunkle Braun ihrer Haare kontrastierte auffällig mit ihren blauen Augen.

      Sie lachte, als mein Freund mich zu ihr führte und uns vorstellte.

      „Wie schön, dich endlich einmal kennenzulernen“, sagte sie und strahlte mich an, „Hermann, unser Freund, hat mir immer von dir erzählt. Er sagt, dass du der Einzige bist, der wirklich Freude an Jura hat.“

      „Tatsächlich?“ Mehr brachte ich nicht hervor. Zum ersten Mal störte mich auch nicht, dass sie mich, obwohl wir uns nicht kannten, sofort duzte, eine damals übliche Unart, die ich anderen immer verwies.

      Es stellte sich heraus, dass sie Literatur und Germanistik studierte, und schnell überwand sie meine Schüchternheit, indem sie mich in ein Gespräch über Bücher verwickelte. Sie war ebenso wie ich eine Liebhaberin von Literatur, natürlich auch der modernen, wie sie sagte. Fasziniert sei sie aber von den Klassikern, und zwar sowohl von den alten als auch den neueren. Sie hatte wie ich gerade die Werke gelesen, die sonst kaum einer mehr kannte, wie die Wahlverwandtschaften von Goethe, Joseph und seine Brüder von Mann und die Geschichte des Josephus Flavius von Feuchtwanger. Selten habe ich mich mit einem Menschen so ausführlich über Bücher unterhalten.

      „Das war ein schöner Abend“, sagte sie, als sie ging, „aber leider ist es nur über mein Fach, die Bücher, gegangen. Wenn du willst, treffen wir uns an einem anderen Abend und reden über Rechtswissenschaften.“

      „Nein, auf keinen Fall“, wehrte ich lachend ab, „treffen will ich mich sobald wie möglich mit dir, aber nicht über Jura reden, über alles andere gerne.“

      Ich war zu schüchtern, sie zu fragen, ob ich sie begleiten durfte und so verabredeten wir uns am nächsten Tag, gingen zusammen essen, redeten, sie fragte mich aus, nach meinen Eltern, nach meinem Großvater, von dem ich viel erzählte.

      Sie selbst war skandinavischer Abstammung, aus Schweden, ihre Eltern lebten schon vor ihrer Geburt in Hamburg. Ihr Vater war Wissenschaftler, Physiker, eine Wissenschaft, wie sie lachend erzählte, die sie genau so wenig verstand wie Jura. Sie liebte ihre Mutter sehr, der sie auch ähnlich war.

      Zwei Monate lang trafen wir uns, redeten wir, gingen spazieren.

      „Hanna scheint ganz schön verliebt in dich zu sein“, sagte Hermann nach einiger Zeit, als wir uns trafen, „so lange ist sie noch nie mit einem ausgegangen und sie hat alle anderen abgewimmelt.“

      „Wieso alle anderen abgewimmelt?“ fragte ich erstaunt.

      „Weißt du das denn nicht? Sie hat einen Haufen Verehrer, aber sie will von keinem etwas wissen, hat für niemanden Zeit, nur für dich.“

      Am nächsten Tag hatte ich mich mit Hanna wieder verabredet, wir wollten einen Bummel durch die Stadt machen, einkaufen, wie sie sagte. Was sie denn einkaufen wolle, fragte ich. „Du wirst schon sehen“, antwortete sie.

      Wir schlenderten nebeneinander her, nah, aber berührten uns nicht, wie immer.

      „Au ja, lass uns in das Kaufhaus gehen“, sagte sie, nahm mich beim Arm und führte mich durch die Drehtür. Und sie führte mich durch die Warenreihen von Karstadt, wir betrachteten hier ein paar Tücher, dort ein Parfüm und hielten uns in der Schuhabteilung auf.

      „Ich erkenne jeden Hausdetektiv, wenn ich ihn sehe“, flüsterte sie mir zu und ihre Augen strahlten unternehmungslustig.

      „Und wieso ist das wichtig?“, fragte ich zurück.

      „Komm, du wirst schon sehen“, sagte sie wieder, nahm meine Hand und führte mich an den Stand, auf dem Baumwoll- und Seidentücher durcheinanderlagen und angeboten wurden.

      „Guten Tag“, sprach sie einen ungefähr dreißigjährigen Mann an, der in der Nähe des Tisches stand, „mein Freund hier will nicht glauben, dass ich einen Detektiv erkennen kann, wenn ich ihn sehe. Sie sind doch ein Detektiv?“

      Der Mann nickte freundlich. „Ja, aber woran haben Sie das erkannt?“

      Ich achtete nicht auf ihre Antwort, weil ich mit Entsetzen sah, wie sie, mit dem Rücken zu den Tüchern stehend, ein Tuch herauszog, es in ihrer Hand zusammenknüllte und dann die Hand in die Tasche ihrer Jacke steckte. Ich brachte kein Wort hervor und schwitzte vor Angst.

      „Ja und dann Tschüs“, sagte sie, nahm mich wieder bei der Hand und führte mich hinaus.

      „Warum hast du das getan?“, fragte ich entsetzt, aber sie lachte wieder.

      „Ich wollte dir imponieren, dass ich ein Tuch klauen