Friedrich von Bonin

Die Wahrheit ist immer anders


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eigentlich hast du recht, das ist nicht in Ordnung, also komm.“ Hanna nahm mich wieder bei der Hand, drehte sich um, zog mich zurück in das Kaufhaus und an den Tisch mit den Tüchern. Der Detektiv war nirgends zu sehen und mit einer selbstverständlichen Geste nahm sie das Tuch aus der Tasche und legte es wieder zurück.

      Als wir Karstadt verließen, lag ihre Hand in meiner. Schweigend gingen wir, ich war immer noch erschrocken und ließ mich führen, bis wir vor dem Haus ankamen, in dem sie ihre winzige Wohnung hatte.

      “Komm mit rauf“, flüsterte sie und schloss auf.

      In ihrem Wohnzimmer standen wir einander gegenüber. Ihre Augen hatten mich noch nie so intensiv angesehen, mit einem fast finsteren Ernst. Ich nahm ihre Hand und zog sie an mich, sie folgte leicht und willig und lag in meinem Arm. Ich beugte mich nieder und berührte mit den Lippen ihre Haare, die Stirn und, als sie das Gesicht zu mir hob, ihre Wangen, langsam, sorgfältig liebkoste ich sie und ebenso langsam erwiderte sie den Kuss, auf die Wangen, in den Mundwinkel und dann küssten wir uns, erst leicht und vorsichtig, dann fester und immer fester und fordernd. Leicht öffnete sie ihren Mund, ich suchte ihre Zunge und dann plötzlich leidenschaftlich, stark und süß schmeckte ich sie, immer wieder, immer weiter, drängten unsere Körper aneinander, rieben sich, ich spürte, wie ihre Hände unter meinen Pullover glitten und über meinen Rücken strichen, Gänsehaut erzeugend.

      „Komm“, flüsterte ich und Arm in Arm, uns aneinander drückend, gingen wir zu ihrem Bett. Langsam und behutsam begann sie mich und ich sie auszuziehen, bis wir nackt voreinander standen und uns betrachteten.

      Wieder nahm ich sie in den Arm, wieder spürte ich sie, diesmal aber ihren nackten Körper und eine Lust überfiel mich, eine Lust, sie zu lieben, ich wusste, dass sie die Lust erwiderte und dann lagen wir auf dem Bett und sie saß aufrecht über mir und schaukelte mich und sich zu unserem ersten Höhepunkt und dann lag ich auf ihr und wiegte sie und mich und schaukelte sie und mich zu einem weiteren Höhepunkt.

      Die ganze Nacht liebten wir uns, wieder und wieder und schliefen und erwachten und liebten uns.

      Am Morgen wachte ich auf, sie hatte sich in meinen Arm gekuschelt, ich konnte sie ausgiebig betrachten.

      Seit dieser Zeit waren wir ein Paar, am Anfang leidenschaftlich, dann ruhiger, aber immer mit Liebe.

      5.

      Ich saß in meinem Arbeitszimmer und hatte die Anklageschrift immer noch nicht gelesen. Stattdessen erinnerte ich mich, wie ich Hanna meinen Eltern vorstellte. Ich hatte darauf bestanden, dass sie sich kennen lernten und so waren wir nach Königsfeld gefahren, wo wir mittags ankamen. Mein Vater war noch nicht zu Hause, so dass es meine Mutter war, die uns in der großen Villa in der Küche empfing.

      Meine Mutter ist Sybille Eschenburg, geborene Arndt. Ich habe in meinem Elternhaus meinen Vater Richard als strenge Autorität wahrgenommen, meinen Großvater als liebevoll, während meine Mutter in unserer Familie eine sehr untergeordnete Rolle spielte. Sie hatte nichts zu bestimmen, wenn mein Vater da war, sie versuchte es auch nie. Klein, unscheinbar, stammt sie aus einer Beamtenfamilie in Königsfeld. Meine Eltern haben sich in der Universität kennen gelernt, weil auch meine Mutter Jura studierte. Sie hat das Studium aber abgebrochen, als sie meinen Vater heiratete.

      Meine Mutter empfing Hanna in ihrer stillen Art, nicht feindselig, aber auch nicht so, als freute sie sich, die Freundin ihres Sohnes kennen zu lernen. Mühsam hielt ich ein Gespräch in Gang, bis sie Kaffee und Kuchen servierte und etwas auftaute, als Hanna sie nach dem Rezept fragte. Dann kam mein Vater, groß, aufrecht, laut, er sah Hanna und bewunderte lärmend ihre Schönheit, nicht merkend, wie er meine Mutter verletzte und Hanna in eine peinliche Situation brachte. An diesem Tage fuhren wir beide, Hanna und ich, bedrückt zurück in unsere Universität. Unserer Liebe aber tat das schwierige Verhältnis zu meinen Eltern keinen Abbruch. Nach vier Wochen, als wir uns von diesem Besuch in Königsfeld einigermaßen erholt hatten, besuchten wir auch ihre Eltern, ein freundliches älteres Ehepaar, einsam, zwei Menschen, die sich freuten, dass wir kamen und uns freundlich aufnahmen. Zu ihnen hatten wir Zeit ihres Lebens ein herzlicheres Verhältnis.

      Wir setzten unsere Studien fort, sie las weiter die deutschen Klassiker und ich plagte mich mit dem Eigentümer-Besitzer-Verhältnis des BGB herum. Allerdings beschlossen wir nach kurzer Zeit, unsere einzelnen Wohnungen aufzugeben und in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Bis heute liebe ich Hanna, obwohl wir schon so lange ein Paar sind. Nicht ganz unangefochten ist meine Liebe, ich denke vor allem an eine sehr attraktive jüngere Frau, die sich in meinem Büro vor fünf Jahren bewarb, im Vorstellungsgespräch anregend mit mir flirtete und damit in mir angenehme Phantasien von einem kleinen Seitensprung weckte, die ich aber nie zu verwirklichen mich entschließen konnte. Zu tief fühlte ich mich Hanna verbunden, als dass ich meine Beziehung zu ihr mit einer kleinen Affäre hätte gefährden wollen.

      Hanna, wie sie mich fragend und erwartungsvoll angesehen hatte, als ich vorhin nach Hause kam und wie ich sie enttäuscht hatte. Ich konnte ihr nichts sagen, ich kannte nicht einmal die Anklageschrift. Natürlich hatte ich ihr erzählt, dass man mich der Korruption beschuldigte, ich hatte ihr das aber immer in einem leichten Plauderton, als gelte es den alltäglichen Ärger, erzählt, nicht als ernsthaftes Problem, das nicht nur mich, auch meine Familie und unsere Situation gefährden konnte. Und nun musste ich ihr vorgestern sagen, der Anwalt, den ich beauftragt hatte, habe eine Anklageschrift bekommen. Ich war also nun angeklagt! Und nun nahm ich sie zur Hand:

      „Franz Eschenburg, geboren am 30. September 1959, nicht bestraft, wird angeklagt, 1. einem Amtsträger eine Gegenleistung dafür angeboten zu haben, dass er eine Diensthandlung vornimmt, und dadurch seine Dienstpflichten verletzt, indem er. . .“ Weiter konnte ich nicht lesen. Wie lange war es her, dass ich mich mit diesem Juristenkauderwelsch hatte beschäftigen müssen? Und schon gar mit dem entsetzlichen Deutsch, das die Staatsanwälte zu schreiben gezwungen waren, weil es ihren Dienstpflichten entsprach? Schon ewig.

      Und doch, so sehr es mich graute, ich musste mich natürlich damit auseinandersetzen. Ich würde in nächster Zeit ständig mit diesen Juristen zu tun bekommen, die mich beschuldigen und verurteilen wollten.

      Bestochen sollte ich haben, Vorteile gekauft haben, nicht von einzelnen Amtsträgern, sondern im großen Stil, und nicht von subalternen Beamten, sondern Politiker bis in die höchsten Kreise sollte ich bestochen haben, ich, Franz Eschenburg, aus guter, traditionsreicher Familie, aus einer wohlhabenden Familie. Hatte ich das nötig? Aber, wie mein Anwalt mir versichert hat, war das kein Argument.

      „Sie würden sich wundern“, hatte Dr. Dragon in seiner aufreizenden Langsamkeit gesagt, „wer alles Straftaten begeht, die er keinesfalls nötig hat.“

      Aber meine Familie? Mein Vater, der Oberstaatsanwalt, der lange pensioniert war, über achtzig Jahre alt, mit seiner untadeligen Laufbahn und seinem beanstandungsfreien Leben. Mein Großvater musste, dem Himmel sei Dank, nicht mehr erfahren, welche Vorwürfe man gegen seinen Enkel erhob, seinen Enkel, der nie auch nur schwarz mit dem Zug zu fahren sich getraut hatte.

      Ich erinnerte mich genau, Hanna und ich hatten lange nicht über ihre Aktion bei Karstadt gesprochen, obwohl es mich manchmal gedrängt hatte. Aber irgendwann, wir wohnten schon in einer gemeinsamen Wohnung und studierten noch, kamen wir aus dem Reformhaus.

      „Sieh mal, Franz, was ich hier habe“, lachte sie triumphierend und zog aus ihrer Manteltasche ein Fläschchen mit Duftöl.

      „Wo hast du das denn her?“, fragte ich neugierig.

      „Gerade im Reformhaus, habe ich mitgehen lassen.“

      „Mitgehen lassen? Du meinst geklaut?“ Ich war entgeistert, „du hast wirklich das Fläschchen geklaut? Und wenn du erwischt worden wärst, was wäre dann gewesen?“

      „Was hätte sein sollen? Die hätten uns rausgeschmissen, aber Franz, keine Angst, ich werde nicht erwischt.“

      Das war der erste größere Streit, den wir miteinander hatten. Ich fragte sie erbost, ob sie denn nicht meinte, wir hätten uns das Fläschchen doch ohne weiteres leisten können. Darum gehe es nicht, hielt sie dagegen, nun auch zornig, weil ich sie nicht verstand, sie liebe dieses prickelnde Gefühl, etwas Verbotenes