Friedrich von Bonin

Die Wahrheit ist immer anders


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dem Hauptbahnhof ankamen und in die Straßenbahn stiegen. Natürlich wollte ich vorher eine Fahrkarte bei dem Fahrer lösen, aber sie zog mich zu dem hinteren Eingang des Zuges.

      „Das Geld können wir sparen“, flüsterte sie mir zu, „es sind doch nur drei Stationen.“ Dieses Mal, was blieb mir übrig, stieg ich mit ihr ein, aber die drei Stationen waren die längste Fahrt mit der Bahn, die ich je gemacht habe. Jeden, der einstieg, betrachtete ich ängstlich, ob er vielleicht ein Kontrolleur sein könnte. Welche Schande, ich würde erwischt werden. Aber es kam kein Kontrolleur und wieder triumphierte sie.

      „Siehst du? Drei Mark gespart, davon können wir uns was Anderes kaufen“, lächelte sie mich an.

      „Ja, wenn du es nicht vorher klaust“, murrte ich zurück.

      6.

      Ich konnte mich mit dieser Schrift, die mich anklagte, nicht beschäftigen, nicht jetzt, deshalb flüchtete ich mich erneut in Erinnerungen.

      Seit meiner frühesten Kindheit wurde ich eingedeckt mit Sprüchen der Ehrbarkeit und Frömmigkeit.

      „Unrecht Gut gedeihet nicht“, war einer der Lieblingssprüche meines Vaters und „Ehrlich währt am längsten“ und viele andere Sprüche mehr. Er kannte unzählige davon, ich habe sie nicht alle im Kopf behalten.

      Mein Großvater hatte mir eines Tages erklärt, dass es für ihn im Leben nicht immer leicht gewesen sei, das Gefühl für richtig und falsch zu bewahren.

      „Ich wurde Kämmerer in dieser Stadt, als ich gerade zweiunddreißig Jahre alt war, der jüngste Kämmerer, den die Stadt je hatte. Ich war in der richtigen Partei, Zentrumspartei, ich hatte die richtige Ausbildung und kannte die richtigen Leute, und da wählten sie mich eben“, erzählte er. „Fünf Jahre hatte ich diesen Posten, dann wurden die Nazis gewählt, nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei nannten sie sich. Wenn ich meinen Posten behalten wollte, musste ich dort Mitglied werden. Weil ich innerlich nie an einer und schon gar nicht an meiner Partei gehangen hatte, wechselte ich. Fünf Jahre war ich noch Kämmerer unter ihrer Herrschaft und in der Partei. Das ging so lange gut, bis ich nach den fünf Jahren eines Nachmittags, es war am 30. Januar, dem Jahrestag der von ihnen so genannten Machtergreifung, die Stiefel vor meinem Fenster hörte. Ich wollte den Lärm erst nicht hören, ich wollte keine Probleme, zu sehr hatte ich gekämpft um diese Karriere, seit ich im ersten Nachkriegssommer mit meiner Schwester durch den Wald gegangen war.“

      II.

      1.

      Langsam ging Eduard Eschenburg durch den Sommerwald. Er hatte seine kleine Schwester Kathrin an der Hand, sie war zehn Jahre jünger als er. Eduard trug einen leeren Sack auf dem Rücken, der hoffentlich bei ihrer Rückkehr prall gefüllt sein würde. Vögel zwitscherten durch das grüne Laub des Mischwaldes, als gäbe es keine Menschen, keine jagenden Tiere und keinen Krieg.

      Im Winter war er nach Königsfeld zurückgekehrt, zwei Monate nach der Kapitulation. Er war zu Fuß gegangen, den weiten Weg von der französischen Grenze, wo ihn die Nachricht von der Aufgabe der deutschen Truppen und der Flucht des Kaisers erreicht hatte. Er hatte sich durchschlagen müssen in seiner zerfetzten Uniform, dem grauen, strapazierten Wintermantel darüber, mit Stiefeln, deren Sohlen abgelaufen waren. Strümpfe hatte er nicht mehr gehabt, er hatte ein Unterhemd zerrissen und sich um die Füße gewickelt und war dann immer Richtung Königsfeld gelaufen, seiner Heimat, unruhig, was er zu Hause vorfinden werde, er hatte seit Monaten keine Nachricht gehabt. Ernährt hatte er sich von dem, was er auf den Feldern gefunden hatte, altes gefrorenes Kartoffellaub, einmal hatte er ein krankes Kaninchen erwischt, es gefangen, getötet und an einem improvisierten Feuer gebraten. Zweimal war er in kleine Dörfer gegangen, wenn der Hunger ihn getrieben hatte, und hatte um Essen gebettelt, auch welches erhalten. Seine Achselstücke an der Uniform, die seinen Dienstgrad als Major verrieten, hatte er vorher abgerissen, damit sie ihn nicht abwiesen.

      Mit Begeisterung war er als achtzehnjähriger Fähnrich der Infanterie in den Krieg gezogen, als einjährig Freiwilliger, um die Chance zu haben, zum Offizier befördert zu werden. Mit seiner Schulbildung, er hatte das Gymnasium mit dem Abitur abgeschlossen, war ihm die Offizierslaufbahn vorgegeben. Sie waren nach Westen gezogen, Richtung Frankreich, aber nicht auf dem direkten Weg.

      „Meine Herren“, hatte ihr Bataillonskommandeur, General von Halpern, vor dem versammelten Bataillon gesagt, „wir werden nicht über Elsass-Lothringen marschieren, wir werden die Franzosen, wie Schlieffen das geplant hat, von Belgien aus überrennen und bis nach Paris marschieren. Sie haben ihre Städte befestigt, aber sie rechnen nicht damit, dass wir von Norden kommen. Bevor die Russen sich sammeln können, haben wir Frankreich besiegt und werden uns nach Osten wenden.“

      Und begeistert hatten sie Beifall geschrien, auch er, und waren losmarschiert, erst zu Fuß, dann in Eisenbahnwaggons eingepfercht, und dann wieder zu Fuß, immer singend.

      Der Gesang war brutal unterbrochen worden, als sie die erste Berührung mit dem Feind hatten, sie waren beschossen worden, hatten sich formiert, angegriffen.

      Eduards Gedankenflug stoppte abrupt. Eine Sperre in seinem Gehirn hinderte ihn, an diesen ersten Angriff zu denken, weil er sich dann an den ersten Menschen hätte erinnern müssen, den er getötet hatte. Mit Gewalt konzentrierte er sich auf die Hand seiner Schwester neben ihm, auf den Gesang der Vögel, auf das frische Laub an den Bäumen, das später zu einem dunkleren Grün wechseln würde, jetzt aber eine helle, frische Farbe zeigte, die den Beginn von Leben anzeigte, Hoffnung auf ein besseres Leben, in dem es dieses Töten nicht mehr gab.

      „Wohin gehen wir?“ fragte ihn Kathrin und holte ihn in die Gegenwart zurück.

      „Wir wollen sehen, ob wir auf den Feldern hinter diesem Wald nicht ein bisschen Gemüse ernten können, damit wir heute Abend und morgen etwas zu essen haben“, antwortete er, „sieh mal, wenn dieser Sack halb voll ist, gehen wir zurück, dann haben wir sogar auch für übermorgen zu essen. Aber“, schärfte er ihr zum zehnten Male ein, „wenn wir erwischt werden, wenn der Bauer kommt, dann achtest du nicht auf mich, dann läufst du weg, so schnell du kannst, nach Hause, hast du das verstanden?“

      Sie lachte ihn an: „Eduard, ich habe das schon beim ersten Mal verstanden, du brauchst es mir nicht dauernd neu zu sagen, sei ganz ruhig, ich kann sehr schnell laufen.“

      Kathrin war für ihre dreizehn Jahre weit entwickelt, war dünn, schlaksig und sehr sportlich. Wenn sie zum Spaß um die Wette liefen, kam sie auf ihren spindeldürren Beinen fast so schnell voran wie er. Sie hatte gelernt, auf sich selbst aufzupassen. Und wieder verdunkelte sich Eduards Stirn.

      Ende Januar war er nach Hause gekommen in die Villa, wie sie das Haus nannten, das sein Vater gebaut hatte. Der hatte seit der Jahrhundertwende ein florierendes Bauunternehmen geführt und sich ein Haus am Rande Königsfelds errichten lassen, eben die Villa. Am Anfang war die Familie in dem vornehmen Viertel nicht sehr wohl gelitten gewesen, „diese neureichen Eschenburgs“, so hatte man sie genannt, sich aber dann mit der Zeit an sie gewöhnt. Ihn, Eduard, hatte der Vater auf das Gymnasium geschickt, damit er nicht als Bauunternehmer sein Brot verdienen musste, sondern „etwas Gescheites lernte“, wie er sagte. Dennoch, Eduard konnte seine Hände gebrauchen, er konnte mauern, putzen, er hätte ein Haus bauen können, meinte er. Er war in die Villa zurückgekommen und hatte seine Schwester Kathrin mit einer älteren Frau angetroffen, mit aufgequollenem Gesicht, schwärzlich von dem Staub der Ruinen der Stadt, weinend, immer weinend, in den Armen der älteren Frau, die sich als ihr früheres Kindermädchen herausstellte. Eduard hätte sie nicht wiedererkannt, schlohweiß ihre Haare, zerknittert ihr Gesicht. Bei Kriegsanfang war sie vielleicht vierundzwanzig Jahre alt gewesen.

      „Deine Eltern sind beide tot, Eduard“, schluchzte Annie, jetzt erinnerte er sich an den Namen, „sie sind in der Stadt gewesen, als die Flieger kamen und Bomben abwarfen, sie sind in dem Feuer verbrannt, warum mussten sie auch in die Stadt gehen.“ Annie und Kathrin weinten herzzerreißend, er nahm beide in den Arm und tröstete sie, darüber seinen eigenen Schmerz für eine Weile vergessend.

      Seine Eltern waren nicht die einzigen, die in diesem verheerenden Krieg umgekommen waren, so begriff er allmählich, Königsfeld hatte wohl die Hälfte seiner