Friedrich von Bonin

Die Wahrheit ist immer anders


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wieder zum Schlag erhoben und hinter ihm den Sohn, jünger, aber nicht weniger drohend. Da drehte Eduard Eschenburg sich um und lief, den Sack im Stich lassend, davon, so schnell er konnte. Er hörte hinter sich die trampelnden Stiefel der Verfolger, die aber immer weiter entfernt klangen. Sie konnten mit dem jungen Eduard, der noch aus dem Krieg trainiert war, nicht mithalten und blieben irgendwann stehen, ihm Drohungen hinterherschreiend, deren Inhalt Eduard aber nicht verstand. Er war nur froh, als er den Waldrand erreichte und jetzt anfangen konnte, nach Kathrin Ausschau zu halten. Da vorne sah er einen roten Zipfel hinter einem Baum, das war das Kleid seiner Schwester, die sich dort versteckt hatte.

      „Kathrin, Gott sei Dank, da bist du ja, bist du schnell genug weggelaufen?“, er war aufgeregt und glücklich.

      „Ja, natürlich, Eduard, das hast du mir ja gesagt, aber was haben sie mit dir gemacht? Du hast ja lauter blaue Flecken auf dem Arm.“

      „Nicht nur auf dem Arm, ich glaube, sie haben mir den Rücken grün und blau geprügelt, aber mehr ist auch nicht passiert, nur der schöne Sack mit den Kartoffeln, der ist wohl weg.“

      „Macht nichts, einen Sack beschaffen wir schon wieder, und morgen möchte ich wieder mit dir losgehen, wir gehen dann auf ein anderes Feld, nicht?“

      „Nein, gerade nicht, jetzt gehen wir zu dem gleichen Feld zurück, aber heute geht das nicht mehr, wir haben keine Tasche oder so etwas.“

      Langsam und froh, halbwegs glimpflich davongekommen zu sein, gingen sie nach Hause.

      2.

      Am nächsten Tag und an vielen Tagen danach hatten sie mehr Glück. Eduard gelang, es, einen Vorrat von den Äckern mitzubringen, der sie durch den nächsten Winter brachte, er erlegte mit selbstgebastelten Fallen einige Hasen und Fasanen, die Anni briet und kochte und in den Einmachgläsern konservierte, die er von seinem ersten Einbruch mitgebracht hatte. Und Eduard pflanzte, er setzte Kartoffeln, Rüben, die er von den Feldern hatte, in den Garten der Villa, von dem er ein Stück umgegraben hatte, er fand in der Küche seiner Mutter alte Samen aus der Zeit vor dem Krieg, Salat, Kohlrabi und Tomaten, die er säte.

      „Sie sind zwar alt, aber vielleicht wachsen sie noch“, hatte Anni gesagt, die ihn auch beriet, wie er pflanzen und säen sollte.

      Im Sommer des nächsten Jahres stand Eduard vor dem kleinen Kartoffelacker. Dicke Blätterbüschel standen da in Reihen und Eduard zog eine Pflanze aus. Viele kleine Knollen waren da gewachsen, genug für eine ganze Mahlzeit aus zwei Stauden.

      Eduard stand da, eine der Früchte in der Hand.

      „Glück“, sinnierte er, „Glück ist relativ. Wer hätte das gedacht, dass ich einmal so glücklich sein werde nur, weil ich Kartoffeln gepflanzt und sie jetzt geerntet habe. Mein Vater war glücklich, wenn seine Firma blühte und wuchs, meine Mutter erzählte mir von dem Glück, das sie im Leben mit meinem Vater erlebte, ich hatte Glück, dass ich aus dem Krieg lebendig und unversehrt wiedergekommen bin und jetzt bin ich glücklich über einen Topf voll meinen eigenen Kartoffeln.“

      Aber er wusste, das genügte nicht. Er konnte ebenso wenig wie Kathrin sein Leben damit verbringen, Saatfrüchte zu stehlen und einzupflanzen, mit nichts weiter beschäftigt als Hunger und Durst zu stillen. Er begann, sich über seine Zukunft Gedanken zu machen.

      Eduard Eschenburg war jetzt vierundzwanzig Jahre alt, Major der Reserve in einer Armee, die es faktisch nicht mehr gab. Rund um ihn herum tobten Kämpfe zwischen den alten und den neuen Kräften, die einen wollten Revolution, die anderen den Kaiser wieder einsetzen und die Dritten wollten, ebenso wie die Kaiserlichen, die Größe des Deutschen Reiches wieder herstellen. Eduard wusste nicht, ob er mehr zu der einen oder der anderen Seite drängte. Er wusste nur, er wollte lernen, wenn möglich studieren, um dann einen Beruf zu ergreifen, der ihm ein ordentliches Leben ermöglichte, wenn dies im besiegten Deutschland jemals wieder möglich sein sollte.

      Darauf deuteten aber die Zeichen hin. Seine Landsleute hatten begonnen, das Land wieder aufzubauen, überall in der Stadt wurde gezimmert, gemauert und gehämmert, immer begleitet von den schrillen Tönen der nationalen und sozialistischen Politiker, aber unbeirrbar.

      Eduard ging zur Universität von Königsfeld, die, so hatte er gehört, ihren Betrieb wieder aufgenommen hatte.

      „Ich möchte gerne Jura studieren“, eröffnete er der Sekretärin in der juristischen Fakultät, zu der er sich durchgefragt hatte.

      „Gut, ich brauche Ihre Geburtsurkunde, Ihr Abiturzeugnis, und, wenn Sie im Krieg waren, Ihre Entlassungspapiere. Major sind Sie?“ fragte sie mit einem achtungsvollen Blick, als er seinen Dienstgrad auf ihre Frage nannte, „sind Sie nicht ein bisschen jung dafür?“

      „Klar, aber im Krieg gab es das schon“, antwortete er, „und was kostet das, wenn ich studieren will?“

      „Extra Kosten haben wir hier für das Studium noch nicht“, antwortete sie, „aber Stipendium oder ähnliches gibt es auch noch nicht. Sie müssen schon sehen, wie Sie sich ernähren.“

      „Ich werde arbeiten“, sagte er zu Hause zu Kathrin und Anni, „ich will so viel verdienen, dass du wieder zur Schule gehen kannst und ich euch beide ernähren kann. Und dann will ich Jura studieren, abends.“

      „Du bist ein guter Junge, Eduard“, sagte Anni, „aber du musst uns nicht beide allein ernähren. Ich kann doch vormittags, wenn Kathrin in der Schule ist, arbeiten gehen, ich glaube sicher, dass es schon wieder reiche Leute gibt, die ein Hausmädchen brauchen.“

      „Aber warum nur vormittags?“ wandte Kathrin ein, „du musst nachmittags nicht zu Hause sein, um auf mich aufzupassen, ich bin jetzt alt genug, um allein zu sein. Ich gehe morgens zur Schule und sehe zu, ob ich nicht auch ein bisschen dazu verdienen kann.“

      Und so meldete sich Eduard zum Studium an, froh, dass ein Leben endlich eine Richtung bekam, die ihm und seiner Schwester Zukunft versprach.

      Er hatte auch keinerlei Schwierigkeiten, sich in einer Baufirma neben dem Studium als Maurer zu verdingen.

      „Was kannst du denn?“ fragte ihn Herr Altenhaus, der Chef der gleichnamigen Firma, ein dicker, grober Mann mit einem glatzköpfigen Quadratschädel, aus dem ihn kleine Augen verschlagen musterten. „Mauern kannst du? Egon“, brüllte er und ein kleiner drahtiger Mann in mittlerem Alter im Maurerkittel trat ein. „Egon, hier, der Junge meint, er kann mauern. Nimm ihn mit und lass ihn eine Ecke an unserer Probewand mauern und verputzen und dann komm wieder.“

      Egon nickte Eduard zu und ging vor ihm her auf den Hof der Firma. In einer Ecke stand eine halbfertige Mauer, davor ein Haufen Sand, ein Sack Zement, Wasser und eine Wanne zum Mischen.

      „Hier, mauer ein Stück und verputz“, wies ihn Egon an, „komm‘ viele her, die mein‘, sie könn‘ mauern, deswegen ham‘ wir die Ecke.“

      Eduard gab Zement, Sand und Wasser in die Wanne, mischte sie geübt zu Mörtel und begann, Stein auf Stein zu mauern. Nach einem halben Meter, den er in einer halben Stunde schaffte, stoppte Egon ihn.

      „Mauern kannste ja“, sagte er, „aber auch putzen? Putz jetzt die Stelle.“

      „Nein“, sagte Eduard, von Egons kurzer Sprechweise angesteckt, „geht nicht, ist noch zu feucht.“

      „Gut, hier ist noch ein altes gemauertes Stück, kannste das verputzen?“

      „Klar“, und Eduard verputzte die Mauer, die Egon ihm zeigte.

      „Mauern und putzen kann er“, meldete Egon dem Chef.

      „Gut, Eduard, wie heißt du, Eschenburg? Bist mit dem alten Eschenburg verwandt, dem Bauunternehmer? Dein Vater? Gut, bist eingestellt, kriegst den Lohn, den alle Maurer bei uns kriegen, das ist bei uns so.“

      Und so fing Eduard Eschenburg an, froh, dass er bei seinem Vater die Grundlagen des Maurerhandwerks gelernt hatte. Morgens um sieben war er auf der Baustelle, bekam um fünf seinen Tagelohn ausgezahlt und ging dann nach Hause, um sich über die Bücher herzumachen, die er für das Studium lesen musste.

      Gleichzeitig hatte sich Kathrin