Friedrich von Bonin

Die Wahrheit ist immer anders


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gegeben, für uns beide.“

      Atemlos und staunend hörte ich zu. Gerade in der vorigen Woche hatte ich von meinem Vater, dem Oberstaatsanwalt, eine Standpauke über mich ergehen lassen. Der Nachbar hatte sich beschwert, weil ich über die Grenze des Grundstückes an seinen Apfelbaum gegriffen und mehrere Äpfel geklaut hatte.

      „Mein Sohn ein Dieb“, hatte er ausgerufen, „was muss ich mit dir erleben! Klaust du heute die Äpfel aus Nachbars Garten, gehst du morgen an Mutters Portemonnaie und übermorgen stiehlst du Schokolade im Supermarkt. Wo soll das enden, mein Sohn?“

      Er hatte mir ein wirklich schlechtes Gewissen gemacht, die Äpfel aus Nachbars Garten quälten mich nicht, aber Mutters Geld, ob er das wusste? Tatsächlich hatte ich schon zweimal aus der Geldbörse meiner Mutter, die sie hatte liegen lassen, je einen Zwanzigmarkschein genommen. Ich kam nun einmal mit dem spärlichen Taschengeld, das mein Vater mir zugestand, auf keinen Fall aus. Beide Male hatte ich bittere Gewissensbisse empfunden und tatsächlich auch selbst schon gedacht, aus mir würde einer der Kriminellen werden, denen mein Vater täglich begegnete und von denen er ab und zu erzählte.

      Und nun gestand ich dem Großvater, auch ich hätte gestohlen, wie er nach dem Krieg und erzählte ihm von den Gewissensbissen.

      Er sah mich ernst an.

      „Nein, ein Krimineller bist du deshalb nicht, aber an das Geld deiner Mutter darfst du nicht wieder gehen. Sieh mal, Äpfel klauen vom Baum des Nachbarn, das finde ich nicht schlimm. Du bist ein Junge, die Aufgabe der Jungen im Leben ist es, Dummheiten zu machen, Grenzen auszutesten, aber die Aufgabe deines Vaters ist es, dich dafür zu bestrafen. Später einmal, wenn du selbst Kinder hast, wirst du das einsehen und sie selbst tadeln. Aber Geld von deiner Mutter nehmen, das ist keine einfache Dummheit, gut, dass du mir das erzählt hast, aber tu es nicht wieder. Wenn du wirklich so dringend Geld brauchst, dass du meinst, du müsstest es stehlen, komm zu mir. Das ist etwas umständlicher, weil du mir erklären musst, was du damit willst, aber du hast später kein schlechtes Gewissen.“

      Lange dachte ich darüber nach. Ich verstand damals den Unterschied zwischen dem Klauen von Äpfeln und dem von Geld nicht und, dachte ich, ich konnte zum Großvater gehen und ihn bitten, aber was machten die armen Kinder?

      3.

      Königsfeld hieß die Stadt, in der ich seit meiner Geburt lebte und meine Vorfahren vor mir. Die Stadt war und ist Hauptstadt des Bundeslandes und beherbergt also nicht nur die Behörden der Stadtregierung, sondern auch der Landesregierung und die damit verbundenen Institutionen. Sie liegt als einzige Großstadt in weitem Umkreis, umgeben von ländlichen Gebieten. Ihre Gewerbetreibenden haben daher einen weiten Einzugsbereich und eigentlich hätte man meinen sollen, sie sei aufgrund ihrer Lage und Funktion eine wohlhabende Stadt, die sich und ihre mehr als 550.000 Einwohner wohl zu ernähren verstünde.

      Indessen, die Stadt ist arm und überschuldet. Erst vor einem Monat gab die Stadtregierung den geplanten Etat für das nächste Jahr bekannt, die Behörden gehen von Einnahmen der Stadt von rund 2,1 Milliarden Euro aus, dagegen stehen aber notwendige, und, wie der Finanzstadtrat nicht müde wurde zu betonen, nicht zu kürzende Ausgaben von rund 2,3 Milliarden Euro, so dass im nächsten Jahr die Stadt ihre schon bestehenden Verbindlichkeiten von über 600 Millionen Euro um 200 Millionen Euro erhöhen werde. Mir hatte geschwindelt, als ich diese Zahlen hörte. Ich bin zwar Jurist, kann aber auch rechnen: Die Stadt trägt dann Schulden von 800 Millionen Euro. Bei dieser Summe und bei den derzeit äußerst günstigen Kreditbedingungen von 4 % Zinsen fallen jährlich allein Zinszahlungen von 32 Millionen Euro an, schon das eine unvorstellbare Summe. Ich wage nicht an Zinserhöhungen zu denken, bei 5 % Zinsen müsste die Stadt 40 Millionen jährlich aufbringen, ohne ihre Schuldenlast auch nur um einen Cent getilgt zu haben.

      Aber schön ist die Stadt, wenigstens in einigen Bezirken. Wir, das heißt meine Frau Hanna, meine Tochter Mara und ich, wohnen an ihrem Rande, weit im Westen, da, wo ausgedehnte Grünanlagen, die das Gartenbauamt als Erholungsgebiet für die Einwohner pflegt, den Übergang von der Stadt auf das flache Land bilden. Hinter diesen Grünanlagen gibt es weite Ackerflächen. Wenn man den Wald des Grüngürtels hinter sich lässt, sieht man die Landschaft ganz leicht abfallen und dahinter ebenso sanft ansteigen. Im Tal und auf der Anhöhe liegen kleine Dörfer, in denen die Bauern wohnen, die die Äcker bewirtschaften. Oft bin ich mit meiner Familie von unserem Haus durch den Wald hinausgefahren, geruhsam, mit dem Fahrrad. In fünf Minuten hatten wir die Stadt hinter uns gelassen und konnten die frische Luft da draußen genießen.

      Wir wohnen seit dem Tode meiner Mutter vor fünf Jahren in der Villa, in der ich aufgewachsen bin. Mein Bruder hatte kein Interesse an dem Haus, er wohnte in Süddeutschland. Mein Vater zog, als er Witwer geworden war, in die Wohnung, die vor ihm mein Großvater innehatte und die seit seinem Tod leer stand. Er lebte dort allein, ohne wirkliche Beschäftigung, er war in den neunziger Jahren pensioniert worden. Mittlerweile war er einundachtzig Jahre alt, aber immer noch hart, klar und streng, die blauen Augen blickten durchdringend wie eh und je. Hanna und Mara fürchteten ihn geradezu, und auch ich ging ihm aus dem Weg, wenn ich konnte.

      In die Innenstadt war es von uns aus weit. Wir konnten entweder mit dem Auto zur gut ausgebauten Bundesstraße und auf ihr in die Stadt fahren oder mit der Straßenbahn, deren Haltestelle allerdings erst in guten fünf Minuten zu Fuß zu erreichen ist.

      Dennoch empfiehlt sich die Straßenbahn, wenn man zu unglücklichen Zeiten die Stadt erreichen muss. Morgens um halb neun ist die Bundesstraße von uns bis zur Innenstadt fast durchgehend verstopft, lange Staus lassen einem die Fahrt zur Qual werden, die mehr als eine Stunde dauert. Ich pflege daher meine Arbeitstermine in der Stadt so zu legen, dass ich nicht gerade um neun dort sein muss, sondern um zehn, dann ist die Bundesstraße frei.

      Auf dem Weg in die Innenstadt sind dann deutlich die Unterschiede zu erkennen, die die einzelnen Stadtteile voneinander trennen. Zuerst fährt man durch eine Villenvorstadt, die der unseren ähnelt, dann beginnt ein kurzer Gürtel mit Einfamilienhäusern auf kleineren Grundstücken und schließlich erreicht man den Ring um die Innenstadt, mit langen Zeilen von Hochhäusern, die hier gepflegt und gleichmäßig stehen, offenbar mit geräumigen Wohnungen und weit von der Straße weg gebaut, damit die Bewohner möglichst wenig von Straßenlärm belästigt werden. Hier gibt es kaum Gewerbe, die Bürgersteige sind breit und der Übergang vom Bürgersteig zu den Häusern ist mit weiten Hecken oder gar Bäumen bestanden.

      Erst danach beginnt der eigentlich geschäftige Teil der Stadt. Die Häuser kommen näher an die Straße heran, die hier inzwischen sechsspurig ausgebaut ist. In den Mietshäusern fristen unten Läden aller Art ihr Dasein, schäbige Geschäfte, in denen allerlei Trödel angeboten wird. Ich bin noch in keinem dieser Läden gewesen, habe nur im Vorbeifahren oder, wenn ich im Stau stand, die Auslagen angesehen. Dazwischen reine Gewerbegrundstücke, in denen Kraftfahrzeuge angeboten werden. Die Vertretungen der großen Marken haben sich hier angesiedelt, daneben Geschäfte, die auf viel Parkraum angewiesen sind, den sie in der Innenstadt nicht finden.

      Und dann ist auch schon das Zentrum erreicht, mit Hochhäusern, die vor allem Banken und Versicherungen beherbergen, mit dem Bahnhof, der im Stil des endenden neunzehnten Jahrhunderts gebaut ist, ein Verkehrsknotenpunkt, und dem Gebäude im alten Teil der Innenstadt, in dem sich auch die Räume befinden, in denen ich mein Büro habe.

      Lediglich der Vollständigkeit halber: Natürlich hat die Stadt auch, wie alle anderen Großstädte, ihre Slums, weite Hochhaussiedlungen, für den sozialen Wohnungsbau errichtet, am andere Ende, im Osten gelegen, in denen überwiegend Empfänger staatlicher Alimentationsleistungen wohnen, Menschen, die keine Arbeit haben, aus welchen Gründen auch immer, und die dann häufig dem Alkohol verfallen. Ich bin dort noch nicht gewesen, habe dort auch nichts zu suchen.

      4.

      Es war dunkel, als ich endlich die schützende Stille des Cafés verließ und mich auf den Weg zu meinem Auto machte, um nach Hause zu fahren. Meine Frau würde schon beunruhigt sein, deshalb beeilte ich mich. Draußen war es kalt, immer noch keine Spur von Tauwetter, die wenigen Bäume, die hier in der Innenstadt wuchsen, reckten ihre kahlen Äste hilfesuchend in den Himmel, als wollten sie wie ich um Wärme bitten. Ich holte den Wagen aus der Garage und fuhr heim.

      Meine