Frank Hille

Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte - Band 2


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gehabt.“

      „Ach i wo. Dort kommen immer Leute vorbei und die hätten dir sicher geholfen, morgen werde ich wohl Muskelkater haben obwohl du ja eigentlich leicht bist aber man kommt schnell aus der Form wenn man mit dem Training nicht dranbleibt. Das mit dem Gewichtheben musste ich aufgeben weil dieser Sport sehr auf die Knie geht und ich hätte es ohnehin nicht weit gebracht. Jetzt laufe ich ab und zu noch ein bisschen aber nur hobbymäßig, wenn man den ganzen Tag sitzt muss man einfach was tun. Ich lasse jetzt das Taxi rufen, dann bringe ich dich noch nach Hause und ich schaue morgen Vormittag noch mal bei dir vorbei ob du eventuell noch Hilfe brauchst. Telefon habe ich keins.“

      In der Stadt half er ihr noch die Treppen hoch, machte ihr einen kalten Umschlag, kochte Tee, dann fragte er danach was sie im Keller hätte, ließ sich den Schlüssel geben und kam nach einer Weile mit einer improvisierten Krücke wieder, so dass sie sich wenigstens etwas in der Wohnung bewegen konnte. Kurz darauf ging er und als die Tür zuschlug wünschte sie sich, dass er da geblieben wäre.

      So hatte sie ihren Vater noch nie erlebt, der cholerische Mann brüllte wie enthemmt.

      „Blöd, und noch eine Schlampe dazu, bist du denn verrückt geworden? Was erlaubst du dir? Warum hast du denn nicht aufgepasst?“

      Hanna Becker stand vor ihrem Vater, ihre Mutter saß auf dem Sofa und weinte leise, sie selbst schaute den tobenden Mann ungerührt an.

      „Was geht das dich denn an“ sagte sie emotionslos.

      „Was mich das angeht, schließlich bin ich dein Vater, hier bestimme immer noch ich solange du deine Füße unter meinen Tisch steckst, verstanden?“

      „Nicht mehr lange“ antwortete das Mädchen ruhig „mein Freund war beim Rat des Stadtbezirks, wir können eine unsanierte Wohnung bekommen. Er verdient Geld als Kraftfahrer und ich fange in drei Wochen als Küchenhilfe an, ich brauche deine Hilfe nicht mehr.“

      „Da hast du es ja weit gebracht“ schrie Peter Becker seine Tochter an „als Küchenhilfe, da wirst du deine Familie ja ganz hervorragend ernähren können.“

      „Das lass mal meine Sorge sein, du musst mich nur noch kurze Zeit ertragen, dann verschwinde ich aus deinem Leben. Nicht aus dem Leben meiner Mutter, die hat immer zu mir gestanden, aber du hast mich nur getriezt. Vielleicht hast du mehr Freude an Dieter, der wird ja mal groß rauskommen, auf den kannst du dann stolz sein.“

      Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Raum und gleich darauf die Wohnung, sie würde heute bei Frank übernachten. Auf der Straße überfiel sie ein Gefühl der Verlassenheit aber es stahl sich auch Hoffnung in ihre Gedanken. Frank hatte ihr sofort zugestimmt, dass sie das Kind bekommen sollte. Als ihre Regel ausblieb hatte sie zuerst mit ihrer Mutter geredet, die hatte ihr zu bedenken gegeben, dass sie noch sehr jung wäre und möglicherweise mit der Erziehung des Kindes nicht zurecht kommen könnte, sie hätte auch später noch alle Zeit der Welt dafür. Hanna fühlte sich selbst noch wie ein halbes Kind aber es war vor allem der Trotz ihrem Vater gegenüber, sich nicht auf die Vernunftgründe ihrer Mutter einzulassen. Diesmal würde sie ganz allein entscheiden und sie war fest entschlossen, sich von ihrer Entscheidung von nichts und niemandem mehr abbringen zu lassen. Wie sie aber ihren Lebensunterhalt sichern sollte wusste sie noch nicht, die Arbeit als Küchenhilfe würde sicher nicht viel einbringen.

      Auch nach einem Jahr war sich Petra Becker über ihre Gefühle für Bernd Fühmann nicht sicher, es hatte sich so etwas wie eine lose Beziehung eingestellt, die über gemeinsame Unternehmungen, Theater- oder Ausstellungsbesuche und gelegentliche Abendessen nicht hinausging und diese auch recht sporadisch angelegt waren. Beide schätzten und respektierten einander, unabgesprochen klammerten sie bei ihren Begegnungen Arbeitsthemen aus und unterhielten sich lieber über Bücher oder Filme, auf dieser Ebene verfolgten sie gleiche Interessen. Sie hatte von ihm erfahren, dass er sich von seiner Frau getrennt hatte, weil er nach einigen Jahren merkte, dass ihre Ansichten über viele Dinge weit auseinander gingen und letztlich nur noch Streit den Alltag dominierte. Seine beiden Töchter sah er nur selten und sie spürte, dass diese Sache ihn bedrückte, aber mit seiner ruhigen Art versuchte er dieses Thema abzuwiegeln. Bernd Fühmann schien es nichts auszumachen, dass es keine weitere Annäherung zwischen ihnen gab, zumindest unternahm er keinen Versuch sie zu berühren oder sie etwa danach auszufragen, warum sie ohne Mann lebte. Insgeheim hatte sie Angst davor, dass er dieses Thema ansprechen könnte, und sie legte sich aus ihrer Sicht plausible Antworten zurecht, etwa die Anforderungen der Arbeit und die damit fehlende Zeit für eine Familie. Eigentlich wusste sie, dass er ihr das nicht abnehmen würde und möglicherweise genug Schlüsse über ihr Verhalten aus ihren spärlichen Informationen über ihre Kindheit und Jugend ziehen könnte. Als er sie im Frühjahr des Jahres bei einem Gaststättenbesuch vorsichtig über ihre Urlaubspläne befragte schaute sie ihn erstaunt an und sagte dann leichthin, dass sie noch nichts Konkretes im Blick hätte.

      „Wollen wir nicht mal gemeinsam irgendwo hin fahren“ sagte er sie vorsichtig.

      „Darauf kann ich dir heute noch keine Antwort geben“ erwiderte sie ausweichend „die letzten Jahre bin ich immer an die Ostsee gefahren. Ich habe da einen Vermieter der mir ein Zimmer reserviert, für zwei ist das viel zu klein und eigentlich will ich im Urlaub auch total abschalten und für mich alleine sein. Nur am Strand entlang wandern und mich ausruhen, deswegen bin ich immer erst im Herbst dort, dann ist dort weniger Trubel.“

      „Aber dann wird es doch Zeit für einen Tapetenwechsel“ sagte Bernd „wir können mit dem Zelt zu den Tschechen fahren, dort geht es urig zu, man kann Lagerfeuer machen, das Leben kostet nicht viel und wenn man ins Gebirge fährt kann man gut wandern gehen, überlege es dir.“

      „Wir sind doch keine Abiturienten mehr, meinst du nicht, dass man uns da auslachen würde, so als ältere Semester?“

      „Quatsch“ antwortete er bestimmt „ich bin das letzte Mal vor drei Jahren, kurz vor meiner Scheidung, dort gewesen, da tummeln sich alle Altersgruppen.“

      Nach dem Essen brachte er sie nach Hause, als er versuchte sie zu küssen schob sie ihn weg. Als er sich abwandte sah sie, dass er den Kopf zwischen die Schultern gezogen hatte, so als würde er Schutz vor dem böigen Wind suchen.

      Wie alle anderen auch hatte sich Dieter Becker ein Bandmaß gebastelt, je kürzer es wurde desto langsamer vergingen die Tage. Die jungen Männer hatten viel Phantasie und Geschick investiert um diese Statuszeichen herzustellen, aber diese halfen wenig gegen das eigenartige Gefühl das sie alle überkam. Irgendwie hatten sie sich dennoch an die routinemäßig verlaufenden Tage gewöhnt und sich in den Trott gefügt, selber wieder Entschlüsse treffen zu müssen würde anfangs schwer fallen, keiner ihnen mehr sagen was man zu tun hatte. Eine gereizte Stimmung lag über der Gruppe und es kam schnell vor, dass einer die Nerven verlor und die anderen anbrüllte. Eigentlich war der Grund dafür, dass sie als EK jetzt alle - wirklich alle - Aufgaben auf die später gekommenen Soldaten abwimmelten und so faktisch nach dem Frühsport nur in ihrer Stube rumhingen und ab und an gelangweilt in die Fahrzeughalle gingen um Ablenkung zu finden. Einige der Fahrzeuge waren ständig defekt (besonders die russischen, für die Ersatzteile fehlten) und so konnten sie, selbst wenn sie es gewollt hätten, nichts ausrichten.

      Die Tage schlichen dahin und Dieter Becker hatte selbst zum Lesen keine Lust mehr, jetzt lag er oft nur apathisch auf dem Bett und starrte an die Decke, die anderen droschen Skat. Er stellte sich vor, dass es den jungen Männer auf der anderen Seite der Grenze genau so ging, es war einfach eine Verschwendung von Lebenszeit und viel Geld. Falls mal einer der Ural Laster aus der Halle rollte konnte man förmlich sehen, wie der Diesel in Massen verbrannt wurde, bei den Panzern musste es noch schlimmer sein. Wenige Tage vor der Entlassung fing er an zu resümieren: er hatte gelernt die Schreibmaschine ganz gut zu bedienen, sich eine gewisse Ordnung angewöhnt, Speck auf den Hüften angesetzt, niveaulose Diskussionen erlebt, sich öfter anbrüllen lassen müssen, alles Dinge, die ihn nicht