Frank Hille

Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte - Band 2


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die Abdeckung eines Heizungsstranges fachgerecht (die jungen Männer waren ja überwiegend handwerklich begabt) so präpariert, dass exakt drei Flaschen Schnaps dort hineinpassten und so oft der Spieß das Zimmer auch absuchte, dieses Versteck sollte er niemals finden.

      Der Form halber trank Dieter nur gelegentlich einen Schluck mit und auch auf Ausgang war er nicht scharf. Wenn die anderen besoffen in der Stube umhertorkelten fühlte er sich einsam und verlassen. Auch die Berufssoldaten, mit denen er in der Schreibstube zu tun hatte, waren nicht unbedingt Intelligenzbestien, wahrscheinlich wären ab einem bestimmten Dienstgrad dann andere Ansprüche zu erwarten. Oft fragte er sich nach der Motivation dieser Männer, so einen Beruf zu ergreifen. Vielleicht war da der Wunsch nach einer Struktur des Tages, nach Ordnung, danach, Entscheidungen von anderen auszuführen und sich nicht damit abgeben zu müssen selbstständig zu denken, sicher auch ein ganz ordentlicher Verdienst. Auf der anderen Seite war es auch nicht gerade erbaulich, den ganzen Tag an einer Maschine zu stehen und wie ein Automat Teile in eine Presse zu legen oder Teile zu drehen. Außerdem hatten die Berufssoldaten Macht über die Soldaten, vor den Offizieren, die vielfach jünger als sie waren, mussten sie allerdings auch strammstehen und Dieter erlebte ihre Zerrissenheit hautnah mit, wenn sie, nachdem sie ein Offizier angefahren hatte, ihren Frust direkt an die jungen Männer weitergaben.

      Sicher gab es auch väterliche Typen die in ihrem Beruf aufgingen, aber den Kern der Truppe bildeten Leute, die ihm gestört vorkamen. So in ein Korsett eingezwängt zu sein war für ihn unvorstellbar, jeden Tag die gleichen Verrichtungen abzuspulen und immer wegen der Langeweile in der Gefahr, sich den Frust wegzusaufen, das schien ihm unmöglich. Er wusste sehr wohl, dass er sich ihnen überlegen fühlte aber rief sich selbst zur Ordnung: bis auf sein Abitur hatte er noch nichts Entscheidendes geleistet. Als ein Jahr vorbei war rückte er in den Kreis der Entlassungskandidaten, der sogenannten EK auf, jetzt musste er noch sechs Monate überstehen.

      Bernd Fühmann war in guter Form, zügig stieg er vor Petra Becker die in den Stein gehauenen Stufen empor und sie hatte Mühe, ihm zu folgen. Mit der S-Bahn waren sie zur Felslandschaft gefahren, mit der Fähre über den Fluss gesetzt, dort hatte er ihr knapp die Route erläutert, sie hatten gut zehn Kilometer vor sich bevor sie eine Gaststätte erreichen würden. Der Weg wurde gangbarer und sie liefen nebeneinander her, er trug einen Rucksack und sie nur eine leichte Umhängetasche, für Verpflegung würde er sorgen war abgesprochen. Petra fragte sich, warum sie sich auf diese Begegnung eingelassen hatte und fand keine Erklärung, sie hatte einfach einer Stimmung nachgegeben und war nicht so überlegt wie sonst an die Dinge heran gegangen. Sie bereute ihre Entscheidung nicht, aber es war für sie schon eigenartig nach den Jahren ihrer Alleinausflüge jetzt mit einem Mann an der Seite zu gehen. Bernd verhielt sich ähnlich wie sie, er redete nicht viel und genoss mehr den Blick auf die malerische Umgebung, ab und zu blieb er stehen und wies sie auf etwas Besonderes hin. Wie stillschweigend vereinbart sprachen sie sich mit ihren Vornamen an, alles andere wäre ihnen albern vorgekommen. Nach einer guten Stunde erreichten sie eine Wiese, Bernd holte eine Decke aus dem Rucksack und breitete sie aus.

      „Halbzeit für den Hinweg“ sagte er und schraubte eine Thermoskanne auf, in zwei Becher aus Aluminium goss er dampfenden Kaffee ein.

      Petra ließ sich nieder und trank wortlos, von ihren Touren war sie Stille gewöhnt und auch Bernd schien zu spüren, dass sie jetzt nicht reden wollte. Beide schauten über den Fluss hinweg, weiter entfernt stieg eine weitere Bergkette an und über den fernen Gebilden zogen erste Wolken auf.

      „Wir sollten uns wieder auf den Weg machen“ fing Petra an „da hinten kündigt sich schlechtes Wetter an.“

      „Das täuscht, ich bin eigentlich regelmäßig hier, jedenfalls seit meiner Scheidung, die Wolken regnen sich da hinten ab. Hier kommt meist nichts mehr an, aber eigentlich hast du recht, wir müssen langsam weiter.“

      Wie beiläufig hatte er seine Scheidung erwähnt, sie war sich sicher, dass er es nicht unabsichtlich getan hatte und war gespannt, welche weiteren Themen er heute ansprechen würde. Sie ertappte sich dabei dass sie versuchte seine Aktionen vorauszuahnen und war überrascht, dass sie ihn wie geschäftsmäßig als ein Objekt betrachtete, dessen Verhalten man bestimmen wollte. In manchen Momenten wurde ihr schmerzhaft klar, dass sie eigentlich nur für ihre Arbeit lebte und dass sie weder Freude noch Enttäuschung mit jemanden teilen konnte. Da sie sich aber seit ihrer Jugend an klare Prämissen gesetzt hatte blieben diese Augenblicke des Selbstzweifels gering und nie lange in ihrer Erinnerung haften. Wie um einen Beweis zu führen erkundigte sich Bernd jetzt bei ihr, wie es um ihre familiären Verhältnisse stehen würde, sie hatte diese Frage erwartet.

      „Ich bin allein, sozusagen ganz allein, in einem Kinderheim aufgewachsen, meine Eltern habe ich nie richtig kennengelernt und ob ich noch andere Verwandte habe weiß ich nicht, es interessiert mich auch nicht.“

      Er schwieg auf ihre Antwort und sie wusste, dass er jetzt betont vorsichtig mit ihr umgehen würde, weil er sich sicher ausmalte, wie ihr Leben bis jetzt verlaufen war. In Gedanken achtete sie nicht auf den Weg und trat auf eine Wurzel, im selben Moment ging sie vor Schmerz zu Boden, Bernd war sofort bei ihr.

      „Ist was passiert“ fragte er besorgt.

      „Ich habe mir wahrscheinlich den Fuß vertreten“ sagte sie bleich.

      „Warte, erst muss der Schuh herunter bevor der Fuß dick wird“ sagte er entschlossen und zog ihr den Wanderschuh aus und tastete den Fuß ab.

      „Hm, nichts Ernstes, das ist eine eins a Zerrung, das kenne ich vom Sport. Du wirst jetzt keine zehn Meter mehr laufen können, jedenfalls in den nächsten Stunden nicht.“

      „Was machen wir jetzt, wir sind hier weit weg vom Schuss.“

      „Es gibt nur eine Lösung, wir sind vielleicht zwei Kilometer von der Gaststätte entfernt. Ich werde dich tragen, etwas anderes bleibt und nicht übrig. Kuck nicht so komisch, es gibt keine andere Möglichkeit. Natürlich kann ich dorthin gehen und die Bergwacht alarmieren, die würden uns aber auslachen und mächtig sauer sein, dass wir sie wegen so einer Lappalie rufen.“

      „Ich versuche mich auf dich zu stützen, vielleicht geht’s es auch so.“

      „Glaube ich nicht, aber bitte, probier‘s.“

      Er hatte Recht, schließlich ließ sie es zu, dass er sie anhob, das passierte scheinbar mühelos und während er sie trug sagte er ohne außer Atem zu kommen:

      „Das dürften so knapp sechzig Kilo sein, stimmt‘s?“

      „Gut geschätzt“ erwiderte sie „achtundfünfzig, geht das mit dem Tragen?“

      „Klar, ich habe früher ein bisschen Gewichtheben gemacht, da hab ich andere Lasten bewegt.“

      Nach einigen hundert Metern setzte er sie vorsichtig ab, sie trat vorsichtig auf aber der Schmerz kam sofort wieder, er nahm sie wieder hoch und als sie die nächste Biegung erreichten sahen sie die Gaststätte, sie war noch ungefähr dreihundert Meter entfernt. Er verschnaufte kurz, dann legten sie die letzten Meter zurück und die Gäste die im Biergarten saßen starrten sie ungläubig an. Er ließ sie vorsichtig auf einem Stuhl nieder und ging sofort in die Gaststube, wenig später kam er zurück.

      „Der Wirt ruft uns ein Taxi wenn wir uns etwas erholt haben, ich trinke jetzt erst einmal ein Bier und Hunger habe ich auch.“

      Er zeigte keinerlei Anzeichen von Erschöpfung und bestellte sich ein Schnitzel, sie nahm ein Bauernfrühstück. Das Essen kam dampfend auf den Tisch und war schmackhaft, aus den Augenwinkeln sah sie, wie er kräftig zulangte und jetzt musterte sie ihn gründlicher. Dass der Mann sie über die recht weite Strecke scheinbar mühelos getragen hatte war erstaunlich, doch seine Statur sprach dafür, dass er sehr kräftig war. Sein offenes Gesicht zeigte erste Falten um die Augen herum als auch auf der Stirn und die runde Brille gab ihm einen intellektuellen Anstrich, der durch die schon spärlich werdenden Haare noch verstärkt wurde. Irgendwie strahlte er Ruhe aus und sie konnte sich gut vorstellen, dass er auch in brenzligen Situationen die Nerven behalten würde, er schien ähnlich