Frank Hille

Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte - Band 2


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die herablassende Art der anderen Schüler mit ihr umzugehen, die genervten Lehrer, die bei ihr keinerlei Fortschritte erzielen konnten. Sie müsste nur noch zwei Jahre durchhalten, dann würde sie nach acht Jahren von der Schule abgehen und das erschien ihr eigentlich als nicht als sonderlich schlimm. Obwohl sie keinerlei Vorstellungen hatte was sie später einmal tun würde war sie davon überzeugt, dass es eine Arbeit sein musste, bei der sie nicht viel nachdenken musste. Sie konnte sich ganz gut vorstellen, als Näherin oder Köchin zu arbeiten, Hauswirtschaft war das einzige Fach bei dem sie Geschick bewies. Auch deswegen ging sie ihrer Mutter im Haushalt gern zur Hand und Gerda Becker war klug genug, sie auf dieser Strecke zu fördern. Als Hanna das erste Mal ein Mittagessen für die Familie zubereitete, ihre Mutter hatte Spinat und Rührei geplant, gab selbst ihr Vater keinen hämischen Kommentar ab sondern aß ohne eine Bemerkung auf. Seitdem bürgerte es sich ein, dass Hanna einmal im Monat für die Mahlzeit zuständig war und wenn sie in der Küche stand und das Essen nach dem Kochbuch zubereitete fühlte sie sich wohl. In dieser Zeit entwickelte sie ein ganz bestimmtes Gefühl für das Verhältnis der Zutaten, denn die Angaben in den Kochbüchern zu den Mengen und Gewichten verwirrten sie eher. Dass sie über ausgeprägte sensorische Fähigkeiten verfügte war ihr selbstredend nicht bewusst, aber bald kochte sie besser als ihre Mutter und hatte auch den Mut, bisher noch nie auf dem Speiseplan der Familie stehende Gerichte auf den Tisch zu bringen.

      „Hör zu Peter“ sagte Gerda zu ihrem Mann „das Mädchen wird nie einen Abschluss schaffen so wie du dir es vorstellst, ist das eigentlich so schlimm? Für mich nicht, schau‘ sie dir an, sie quält sich mit der Schule nur herum, aber wenn sie kochen kann blüht sie richtig auf. Dann wird sie eben irgendwo in einem Betrieb oder einer Gaststätte arbeiten, auch dort kann man sein Geld verdienen.“

      „Sicher“ erwiderte der Mann mürrisch „jeden Tag Soßen anrühren, Kartoffeln schälen, Gemüse putzen, sehr anspruchsvoll diese Arbeiten.“

      „Na und, du gehst auf Arbeit wohl nicht bei euch in der Kantine essen?“

      „Doch, aber die kochen so, dass es nicht gerade ein Genuss ist.“

      „Na bitte, Hanna kann das besser, jetzt schon, und wenn sie noch dazulernt wird sie richtig gut werden. Zwinge sie zu nichts mehr, was weder ihr etwas bringt und dich unzufrieden macht.“

      Peter Becker wusste, dass seine Frau Recht hatte. Dennoch konnte er sich nur schlecht damit abfinden vor anderen Leuten zugeben zu müssen, dass seine Tochter so gar nicht nach ihm kam und nur mit einem schlechten Abschluss von der Schule abgehen würde. Aber mittlerweile hatte er verstanden, dass jegliche Art von Druckausübung auf sie keinen Erfolg haben würde. Außerdem hatte er wichtigere Dinge im Kopf.

      Zu seinem fünfzigsten Geburtstag hatte sich allerlei Prominenz eingefunden, Peter Becker war im Ministerium in der Reihe der Abteilungsleiter angekommen und seine Wichtigkeit zeigte auch die Gästeliste. Er hatte beschlossen die Feier in ihrem Grundstück auszurichten, und bald drängten sich dort gut dreißig Leute aus allen möglichen Bereichen des Ministeriums, die Männer und Frauen kannten sich seit Jahren aus der gemeinsamen Arbeit. Ihr Umgang miteinander war eine Mischung aus Vertrauen aber auch Vorsicht, zwar war es möglich sich kritisch zu bestimmten Dingen zu äußern, aber es blieb immer ein Risiko sich nicht im Sinne der Staatsführung zu artikulieren. Dabei waren gerade sie es, die den besten Überblick über die wirtschaftliche Situation im Land hatten. Es gab Vorzeigbares, aber auf der anderen Seite auch erhebliche Probleme, die die Unzufriedenheit der Leute noch weiter anstachelten. Die Betriebe wurden auf Verschleiß gefahren und die Jagd nach Konsumgütern oder Baumaterialien beschäftigte die Menschen tagein tagaus. Dass das Land immer grauer wurde und die Umwelt schonungslos der Planerfüllung geopfert wurde schien in Berlin nicht bekannt, oder man wollte es schlichtweg nicht wissen. Mehr und mehr entstand in der hektischen Hauptstadt eine Scheinwelt, die für den Rest des Landes nicht typisch war.

      „Liebe Freunde“ begann Peter Becker seine Rede „ich freue mich, dass ihr, Sie, meiner Einladung gefolgt seid, ich danke euch, Ihnen, dafür. Fünfzig Jahre alt zu werden ist im Leben eines Mannes Grund zurück zu schauen, aber auch den Blick nach vorn zu richten. Heute bin ich Abteilungsleiter, das hätte ich mir als Bauernjunge niemals träumen lassen, aber es war auch unser Staat, der mir ein Studium ermöglicht hat, dafür bin ich dankbar. Wir haben viel geschafft, es geht uns gut, aber es gibt noch viel zu tun, das wissen wir alle. Der Wind in der Weltwirtschaft wird rauer, wir verlieren Marktanteile, aber lassen wir das, heute soll gefeiert werden, bitte bedient euch.“

      Das Buffet hatte ein Fleischer hergerichtet bei dem Gerda wöchentlich nur einen Bestellzettel abgeben musste, diskret erhielt sie das Paket nicht im Laden, sondern im Kühlhaus, Peter Becker hatte dem Fleischer vor einiger Zeit eine Cutter Maschine organisiert, seitdem stand er auf der Liste der besonderen Kunden. Ab und an brachte er noch einen Kasten Radeberger Bier vorbei, den er wiederum von einem Mitarbeiter in seinem Ministerium bekam, dieser Naturalhandel funktionierte für ihn bestens. Auch das begehrte Bier stand in ausreichender Menge zur Verfügung, für die Frauen hatte er Wein aus dem Delikat Laden besorgt. Dazu kam noch ein ausgesuchtes Sortiment an Schnäpsen, Südfrüchten, Fisch und anderen Dingen, er konnte es sich leisten. Seit Ende der siebziger Jahre waren die Delikat Läden flächendeckend im Land vorhanden, schickere Verpackungen ließen auf ein besseres Produkt schließen, und die Preise lagen deutlich über denen der üblichen Waren. Für die Raucher lagen Lucky Strike, Marlboro und andere Sorten bereit.

      Die Leute standen in Gruppen zusammen und plauderten, Peter Becker beteiligte sich hier und dort an den Gesprächen. Diesmal verfolgte er kein bestimmtes Ziel wenn er sich mit den anderen unterhielt, er war sich ziemlich sicher, dass ihm die anderen keineswegs nützlich sein könnten, um noch weiter voranzukommen. Das war auch sein eigentliches Problem, sein rasanter Aufstieg hatte sich verlangsamt. Insgeheim träumte er davon in die Nähe des Ministers vorrücken zu können, dessen Büroleiter stand vier Jahre vor der Rente und er konnte erahnen, welche Machtfülle auf diesem Posten konzentriert war. Mit Mitte fünfzig dort anzukommen wäre für ihn höchstwahrscheinlich die Krönung seiner beruflichen Laufbahn, er würde dafür weiter hart arbeiten.

      Die Stimmung in der Klasse war gut, Dieter Becker fühlte sich wohl und erstmalig auch ohne viele Abstriche anerkannt, keiner nahm an seinen schwachen sportlichen Leistungen Anstoß, vielleicht auch deswegen, weil mit Fred ein Rollstuhlfahrer dabei war, der körperlich noch schlechter dastand als er. So, als ob sich zwei Schwache verbündet hätten, hatten sich die beiden angefreundet, ihr Schulweg war gleich, denn Fred wohnte nicht weit weg von ihm und Dieter schlüpfte in die Rolle seines Helfers weil es schon eine mühselige Sache war, den anderen Jungen mit seinem Rollstuhl in die Straßenbahn zu bugsieren. Da er dies nicht alleine bewerkstelligen konnte musste er immer andere Leute an den Haltestellen oder in der Bahn um Mithilfe bitten und auf diesem Weg wurde er selbstbewusster. Wenn jemand so tat, als ob er die Bitte um Hilfe überhörte konnte er energisch werden. In den vergangenen Jahren war er kräftig gewachsen, ein leichter schwarzer Flaum zierte seine Wangen und seit einem Jahr musste er sich rasieren. Der Stimmbruch hatte ihm einen Bass beschert und die lockigen blonden Haare fielen bis auf den Jackenkragen, mehr ließ sein Vater nicht zu.

      Er war gut, dass wusste er, und die Anforderungen des Abiturs waren für ihn keinesfalls sonderlich hoch. Da er relativ wenig Zeit für die Hausaufgaben aufwenden musste wurde er Mitglied des Literaturzirkels. Der eigentliche Grund für dieses Interesse hieß aber nicht etwa Goethe oder Schiller sondern Gabi. Um nicht unbedarft dazustehen war er zum Dauergast in einer Bibliothek geworden und las in jeder freien Minute querbeet. Er war nicht wählerisch, und dank seinem guten Gedächtnis blieben viele Passagen hängen, so dass er seinen Wortschatz deutlich erweiterte. Der Leiter des Zirkels, ein Lehrer von einer anderen Schule, gab oft ein Thema vor das die Mitglieder bearbeiten sollten, diesmal war es die Beschreibung einer Berglandschaft. Im vorigen Jahr war Dieter mit zwei Jungen aus seiner Klasse in der Tatra zelten und wandern gewesen, das Geld dafür hatte er sich selbst in den Ferien in einer Wäscherei verdient, etwas anderes wäre mit seinem Vater nicht möglich gewesen.

      Der Blick in den Arbeitsalltag