Frank Hille

Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte - Band 2


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Frenzels Todesanzeige würde auf eine kurze und heimtückische Krankheit verweisen. Seine Leiche wurde nachts unbemerkt in die Leichenschauhalle gebracht, wo ihn seine Eltern noch identifizieren mussten. Natürlich wussten Frieder und Berta Frenzel dass es Gerüchte geben würde, aber nach einiger Zeit wäre die Angelegenheit ausgestanden. Dass sie den Tod ihres Sohnes fast wie geschäftsmäßig abwickelten war dem Schock über das Geschehene geschuldet. Beide realisierten erst nach Tagen, dass sie ihn von jetzt an nur noch auf dem Friedhof besuchen konnten.

      Das Mädchen hatte sich daran gewöhnt dass die anderen sie manchmal verwundert anschauten, wenn sie die einfachsten Aufgaben wieder einmal nicht begriff, es machte ihr nichts mehr aus. Sie hatte verinnerlicht, dass die Lehrer bei ihr ein Auge zukniffen und ihr wenigsten eine vier zubilligten, selbst mit ihren zehn Jahren verstand sie schon, dass die Qualen die das Lernen ihr bereiteten, irgendwann vorbei sein würden. Längst hatte sie es aufgegeben darauf zu hoffen, dass sie durch ständiges Üben besser werden könnte, das Ergebnis war jedes Mal enttäuschend. Wenigstens ihre Klassenleiterin stellte sich schützend vor sie wenn die anderen sie wieder einmal hänselten und als blöde Gans bezeichneten oder sich sonst abfällig äußerten. Freunde fand sie keine, nur mit Karla, die ähnlich lernschwach wie sie war, schwatzte sie in den Pausen manchmal. Zu Hause setzte sie sich dann wie pflichtschuldig an ihren Schreibtisch um die Aufgaben zu erledigen, oft war ihr schon die Aufgabenstellung unverständlich und mehr um zu zeigen, dass sie sich wenigstens damit beschäftigt hatte, schrieb sie etwas auf, was sie nach ein paar Minuten selbst nicht mehr hätte erklären können. Ihr Bruder Dieter war zwar von seinem Vater beauftragt worden ihr zu helfen aber nahm diese Aufgabe mehr als halbherzig wahr, denn Hanna konnte seinen Erklärungsversuchen nicht folgen, und wenn sie sein spöttisches Lächeln sah, verflog auch jeder Ansatz einer Anstrengung bei ihr ihn zu verstehen.

      Hanna Becker versuchte instinktiv ihre schlechten Leistungen in der Schule durch Hilfe im Haushalt wettzumachen. Lob bekam sie nur von ihrer Mutter, Peter Becker nahm ihre Anstrengungen zwar zur Kenntnis, aber mehr auch nicht. Für ihn war das Verhalten seiner Tochter Ausdruck eines vollständigen Versagens. Er selbst hatte sich mit Disziplin hochgearbeitet und diese Eigenschaft trieb ihn immer noch ständig an. Peter Becker wusste selbst nicht, dass er auf eine bestimmte Art neurotisch war. Hätte ihn ein Psychologe über sein Leben befragt wäre schnell klar geworden, dass die verstörenden Erlebnisse in seiner Kindheit und Jugendzeit ihn in eine Richtung gelenkt hatten, die Ruhelosigkeit und Anerkennungsstreben mit sich brachten.

      Peter Becker dirigierte den LKW die schmale Straße entlang. Links und rechts säumten Hecken den Weg und der Fahrer hatte Mühe diese nicht zu beschädigen, aber als der See sichtbar wurde war der schwierigste Teil geschafft, die Einfahrt zum Grundstück war noch nicht fertig gestellt und damit konnte der Laster ohne Mühe dort einbiegen. Am Ufer waren die Konturen eines Hauses zu erkennen, das sich beim Näherkommen als großzügiger eingeschossiger Bungalow zeigte, von dessen Terrasse aus man direkt einen Steg betreten konnte. Die großzügige Verglasung ließ viel Licht in das Haus hinein und da der Bau zum Teil noch unverputzt war sah man auch, dass alles solide ausgeführt worden war. Zwei Männer standen vor einem Betonmischer und wiesen den Fahrer ein, als er heran war kippte er die Ladung Kies ab und sofort schaufelten die Arbeiter diesen in den Mischer und gaben Zement und Wasser dazu. Peter Becker ging zum LKW und drückte dem Fahrer zwanzig Mark in die Hand, mit einem „Danke“ stieg dieser ein und fuhr davon.

      „Wie viel schafft ihr heute“ fragte er einen der Männer.

      „Ganz werden wir nicht fertig, den Rest erledigen wir morgen“ antwortete dieser.

      „Gut“ entgegnete Peter „wir sehen uns morgen gegen vierzehn Uhr hier, dann ist Abnahme und ihr bekommt das Geld, in Ordnung?“

      Die beiden nickten und Peter Becker ging zu seinem Lada, den er im vorderen Teil des Grundstücks geparkt hatte. Die Männer waren ihm von Seidel, einem Kollegen, empfohlen worden, sie würden schnell und ordentlich arbeiten und auch ihre Stundensätze wären nicht überzogen. Vor einem Jahr hatte Peter Becker angefangen sich mit dem Projekt Wochenende, wie er es nannte, zu beschäftigen. Im Ministerium hatte er sich erwartungsgemäß schnell eingearbeitet und stellte bald fest, dass viele der dort Beschäftigten ein Wochenendgrundstück in der Nähe der Stadt besaßen und erhebliche Zeit während der Arbeit aufwendeten, diverse Dinge zu organisieren. Am Schwierigsten war es gewesen ein geeignetes Grundstück zu finden, und er sah sich einige Objekte an die ihm allesamt nicht zusagten. Erst am Kalksee würde er fündig, und während der Preisverhandlung mit dem Verkäufer war er nahe dran, diesem eine Anzeige anzudrohen, da dieser einen durchaus üblichen Preis in den Vertrag aufnehmen wollte, aber nebenbei noch 20.000 Mark forderte, die in bar zu zahlen seien. Als Becker schon kehrt machen wollte wurde ihm bewusst, dass er Grundeigentum erwerben konnte. Nach der üblichen Auffassung war das im Land immer mit Schwierigkeiten verbunden, aber in diesem Falle würde der Boden ihm gehören, und diesmal würde er für sein Geld einen echten Gegenwert erhalten, zumal das Grundstück direkt am See lag und damit für einen eventuellen Weiterverkauf immer attraktiv bleiben sollte.

      Obwohl er Tag für Tag Bilanzpositionen hin und her schob um die Betriebe am Laufen zu halten hatte sich für ihn manifestiert, dass etliche Luftbuchungen eine künstliche Balance aufrechterhielten, die noch eine Weile funktionieren würde. Je mehr er aber Einblick in die Gesamtsituation gewinnen konnte desto deutlicher wurde ihm klar, dass das System ohne einschneidende Veränderungen irgendwann an seine Grenzen geraten würde. Ob das in fünf oder zehn Jahren sein würde konnte er nicht vorhersagen, aber durch seine Arbeit sah er, dass besonders die Exporte in den Westen zu Preisen erfolgten, die die Aufwendungen nicht im Geringsten deckten. Darüber hinaus wurde der Ersatzbedarf im eigenen Land immer mehr vernachlässigt und eine Produktivitätssteigerung damit ausgeschlossen. Er war sich sicher, dass er eines Tages einen ordentlichen Kontostand haben würde, aber sich nichts Entsprechendes dafür kaufen könnte, deshalb stimmte er dem Grundstückskauf zähneknirschend zu.

      Alle weiteren Beschaffungsmaßnahmen von Ziegeln, Zement, Holz, Installationsmaterial und vielen anderen Dingen überließ er seiner Frau, die in einem Großhandelsbetrieb sozusagen an der Quelle saß. Da nicht alles zur gleichen Zeit verfügbar war organisierte er eine Garage, in der die Sachen zwischengelagert werden konnten bis sie benötigt wurden. Die Maurer waren für ihre Branche ehrliche Leute, bei ihnen kostete die Arbeitsstunde fünfzehn Mark und ihr Arbeitstempo nach Feierabend war beachtlich, manchmal fragte er sich, ob sie werktags auch so schnell waren.

      Bei der Abnahme hatte er nichts zu beanstanden. Die Männer bekamen das Geld, wuchteten den Mischer auf einen Hänger, koppelten diesen an einen Trabant Kombi an und fuhren los. Peter Becker setzte sich auf einen alten Stuhl, den die Arbeiter als Pausenmöbel genutzt hatten und betrachtete das Haus. Es unterschied sich schon durch seine Größe von den kleinen Lauben die in der Sparte standen und war im Gegensatz zu den Holzhäusern massiv ausgeführt, für den Architekten, der es entworfen hatte, war der Reiz weniger gewesen zusätzliches Geld zu verdienen, als ein Objekt zu projektieren, das sich von den Einheitsbauten abhob. Das war zweifellos gelungen, denn die elegante Linienführung gab dem Bau Charakter und die große Terrasse, die mit Holz beplankt war, und genug Platz für Sitzmöbel aufwies, ließ das Haus trotz seiner Größe nicht wuchtig erscheinen. Im Inneren bot es Platz für zwei Schlafzimmer, einen großen Wohnraum, die Küche und ein Bad. Nächste Woche würden die Elektriker alle Kabel verlegen und dann wäre es an ihm und Gerda, die Wände zu tapezieren. Die Inneneinrichtung musste zunächst schlicht ausfallen, nach und nach sollte das Haus komplettiert werden aber bei der Knappheit des Angebots rechnete er damit, dass bis dahin noch einige Zeit vergehen würde, zumindest konnten sie in absehbarer Zeit aber schon dort wohnen. Für die Außenanlagen plante er den Großteil der Fläche mit Rasen zu begrünen und nur in einer entfernten Ecke einen kleinen Gemüsegarten anzulegen.

      Dieser Ort sollte ihm ausschließlich dazu dienen wieder Kraft zu tanken, wenn Gerda wollte könnte sie sich im Gemüsegarten betätigen und so vielleicht auch etwas Erntefrisches auf den Tisch bringen.