Frank Hille

Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte - Band 2


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mit schon schleppender Stimme und nahm einen kräftigen Schluck aus der Bierflasche, „dein Häuschen gefällt mir und hier lässt es sich gut feiern. Das muss dich ja einige Lauferei gekostet haben hier alles ran zu bringen, aber du bist ja als Organisationstalent bekannt. Wo hast du überhaupt den Whisky her?“

      „Aus Ungarn. Voriges Jahr war ich drei Tage zu einer Beratung dort und habe ordentlich eingekauft, die Zollerklärungen für den Geldumtausch habe ich dem Schlafwagenschaffner abgekauft. Der hatte die in Massen und auf dem Heimweg habe ich die Sachen in seinem Abteil deponiert, der wusste, dass er nicht kontrolliert wird. Hat mich noch mal ein paar Märker gekostet aber das war mir egal, solche Sachen gibt es bei uns ja nicht und um im Intershop einzukaufen fehlt mir das Westgeld.“

      Sein Abteilungsleiter nickte, die D-Mark war längst zu einem begehrten Zahlungsmittel geworden, allerdings war der Wechselkurs enorm hoch und nicht allzu viele konnten es sich leisten für eine D-Mark zehn Ostmark hinzulegen. Dies blieb einer Gruppe vorbehalten, die sich von der breiten Masse abhob: Handwerker, Gewerbetreibende, Ärzte. Es war keineswegs so, dass das Unternehmertum vollständig verschwunden war. In ihrem Nischendasein bedienten Blumenläden, Fleischereien, Autowerkstätten und andere eine große Nachfrage, die letztlich nicht ausreichend befriedigt werden konnte, weil auch diesen kleinen Betrieben fortlaufend Güter fehlten. Dennoch zählten diese Leute zu denen, die zwar über größere Mengen Bargeld verfügten, aber auch wenig Zugang zu den knappen Konsumgütern hatten, allerdings öffneten diverse Produkte oder Dienstleistungen manche Tür.

      „Ja“ sagte er jetzt „es ist schon manchmal schizophren, dass wir hochwertige Konsumgüter für wenig Geld in den Westen verramschen und die Leute hier rennen sich die Haken ab, um eine Schrankwand oder einen Fernseher zu bekommen, von den Autos will ich gar nicht erst reden. Als Honecker angetreten war dachte ich, dass wir eine Liberalisierung bekommen, und neben dem staatlichen Sektor mehr Freiraum für das Gewerbe entsteht, leider Fehlanzeige. Ewig können wir nicht so weitermachen, der Westen hängt uns immer mehr ab.“

      Peter Becker war über diese Offenheit nicht verwundert. Es lag auch keineswegs daran dass der Mann angetrunken war, selbst im Ministerium mehrten sich kritische Stimmen, dass der Staat über seine Verhältnisse lebte. Die Mitarbeiter sahen bei ihrer täglichen Arbeit, dass in bestimmte Bereiche der Wirtschaft oder des Staates enorme Mittel investiert wurden die das kleine Land eigentlich für andere Zwecke benötigte. Er wurde des Öfteren mit Bedarfsanforderungen von Betrieben konfrontiert, die Objekte für die Landesverteidigung errichten sollten, nach seiner Meinung eine riesige Geldverschwendung, denn im Falle einer militärischen Auseinandersetzung würde kein Stein auf dem anderen bleiben und selbst ein atomwaffensicherer Bunker ohne Sinn sein. Da er aber eine Prioritätenliste abarbeiten musste wurden diese Forderungen mit allen möglichen Klimmzügen erfüllt, zu Lasten anderer dringender Vorhaben. Um der Lage der Anforderungen einigermaßen Herr zu werden gab es Vorrangbedarfe, an erster Stelle die Landesverteidigung, und dann die NSW-Importablösung. Über diesen sperrigen Begriff, Nicht Sozialistisches Wirtschaftsgebiet, wurden auch im Ministerium Witze gemacht.

      Es war ihm klar, dass das Land wie ein Kieselstein zwischen den beiden großen politischen Blöcken lag und immer der Gefahr ausgesetzt war, in den ab und an aufflammenden Konflikten im Handumdrehen zerrieben zu werden. Zweifellos gab es Fortschritte, den Leuten ging es im Vergleich zu den anderen Ländern im Osten gut und mit dem bescheidenen Wohlstand ließ es sich nicht schlecht leben, es sei denn, man war mit dem politischen System nicht zufrieden. Immer mehr Leute sprachen auf den Behörden vor um einen Ausreiseantrag zu stellen und das Land verlassen zu können. Es war wahrscheinlich weniger die Unzufriedenheit über ihre materielle Lebenssituation, eher der Drang, nicht ständig von einem Staat gegängelt zu werden, der seinen Bürgern viele Entscheidungen abnahm und für sie entscheiden wollte, was gut für sie wäre, der sie, kurz gesagt, nicht als mündig und für sich selbst verantwortlich ansah. Natürlich trug der Blick in den Westen dazu bei Vergleiche zu ziehen, und dass der eigene Staat in manchen Belangen nicht sonderlich gut dastand wusste er wohl, höher schätzte er allerdings eine gewisse soziale Sicherheit. Hier in Berlin stellte sich die Versorgungslage als deutlich besser dar als in den anderen Teilen des Landes, und die Dienstreisenden von dort nutzten die Gelegenheit, gleichzeitig eine Einkaufstour zu absolvieren. Diese ungesunde Bevorzugung der Stadt hielt er für schädlich, obwohl er selbst davon profitierte.

      „Ich denke, wir hängen viel zu sehr am Tropf der Sowjetunion“ erwiderte er „deren Anforderungen an unsere Produkte sind zwar auch nicht gering, aber wir sehen doch selbst welche Mühe wir haben unsere Erzeugnisse auf den westlichen Märkten zu verkaufen, weil sie nicht unbedingt dem Weltstand entsprechen. Natürlich weiß ich, dass wir keine Rohstoffe haben und zum Export gezwungen sind, aber eigentlich baden wir es aus, dass unsere Produktivität so gering ist. Wenn ich vor Ort durch die Betriebe gehe ist mir manchmal unklar, wie die Leute überhaupt noch Qualität produzieren können, so heruntergekommen sind die Anlagen.“

      „Ach lass mal gut sein für heute“ sagte sein Abteilungsleiter „wir werden das heute nicht mehr lösen. Machen wir uns einen schönen Abend und ärgern uns ab Montag wieder mit unseren Bilanzen herum.“

      Peter Becker feuerte den Grill an, holte zwei Biere aus dem Kühlschrank und brachte die Whiskyflasche mit, die Männer setzten sich auf die Terrasse, genossen den Blick auf den See und tranken. Ihre Frauen schwatzten in der Küche und wenn das Holzkohlefeuer kräftig genug wäre würde er die Bratwürste auflegen. In dieser Abendstimmung war er eigentlich trotz der Gedanken die sie vorhin gewälzt hatten zufrieden. Wenn er seine Situation betrachtete gab es wenig Grund für ihn für Pessimismus, seine berufliche Entwicklung war ohne Brüche erfolgt, mit seiner Frau verband ihn eine jahrelange Partnerschaft die ihm viel bedeutete, ohne dass er es so zum Ausdruck brachte, die Kinder machten wenig Sorgen, der Lebensstandard ihrer Familie wuchs langsam aber kontinuierlich, was wollte er mehr. In drei Jahren würde der Abteilungsleiter in Rente gehen, auf seine Nachfolge machte er sich durchaus Hoffnungen.

      Die Frauen hantierten in der Küche und nach dem Abendbrot tranken sie noch etwas zusammen, dann fuhr der Abteilungsleiter mit seiner Frau nach Hause, er selbst würde mit Gerda das erste Mal in ihrem Haus übernachten. Er fühlte sich schläfrig, das gute Essen und der Alkohol zeigten ihre Wirkung. Peter Becker war innerhalb von 5 Minuten eingeschlafen.

      Die Geschwister nervten sich gegenseitig. Dieter Becker büffelte jede freie Minute, denn das Zeugnis der achten Klasse würde darüber entscheiden, ob er auf die Erweiterte Oberschule gehen konnte und er wollte mindestens einen Notendurchschnitt von 1,5 erreichen. In Physik musste er noch einiges tun und Biologie stand ebenfalls noch auf der Verbesserungsliste, mit allen anderen Noten lag er in seinem persönlichen Plan. Hanna war mit Mühe und Not in die fünfte Klasse gekommen, eigentlich verdankte sie es ihrem Vater der mehrfach mit ihrer Klassenleiterin gesprochen hatte und ihr erklärt hatte, dass bei dem Mädchen der Knoten doch schon noch platzen würde. Sie zählte zu den leistungsschwächsten Schülern in der Klasse und ihr Vater hatte ihr ein strenges Übungsprogramm vorgegeben, doch das Kind war nicht in der Lage mehr als zehn Minuten konzentriert an einer Aufgabe zu sitzen. Dementsprechend sprunghaft ging sie vor und die Ergebnisse waren schlicht und ergreifend katastrophal, denn es gab kaum eine Aufgabe, die sie komplett fertig stellte. Vielmehr hatte sie es sich angewöhnt bei anderen abzuschreiben, aber in den Leistungskontrollen und Arbeiten kontrollierten die Lehrer gründlicher, und über eine vier kam sie nicht hinaus.

      Peter Becker war mit seinen Kindern unzufrieden. Bei seinem Sohn störte ihn diese Schlappheit wie er es für sich nannte, seine Tochter hielt er ganz klar für einen hoffnungslosen Fall und bei ihr sollte es nur darauf ankommen, dass sie die Schule bis zur zehnten Klasse schaffte, möglicherweise würde sie nur bis zur achten kommen. Dieter würde der Sprung auf die Erweiterte Oberschule gelingen, die Chancen für das Mädchen sah Peter nur in einer mechanischen Arbeit, etwa der einer Bandarbeiterin. Wie so oft fragte er sich, warum seine Gene bei den beiden nicht durchschlugen, sie waren so ganz anders als er, unentschlossen, verweichlicht und nicht zielstrebig. So sah er es jedenfalls.

      Das