Urs Rauscher

Das Multikat


Скачать книгу

mussten. Also griff ich nach einem weiteren Blatt, doch mit diesem verhielt es sich genauso wie mit dem ersten. Je mehr Seiten ich mir durchsah, desto blasser wurde ich. Immer schneller griff ich nach den Blättern und immer schneller ließ ich sie fallen, weil ich feststellte, dass sie nichts als ein einziges großes Panorama der Sinnlosigkeit entwarfen. Das Entsetzen über meine Worte führte dazu, dass ich schließlich den gesamten Haufen vom Tisch wischte, aufhob und in den Ofen steckte. Erst jetzt ging mir auf, wie besoffen ich gewesen war, wie besoffen ich all die Tage, all die Abende gewesen war. Ich war ein Schriftsteller und hatte einen solchen Unsinn produziert. Beschämend. Das konnte ich mir selbst nicht durchgehen lassen. Aus diesem Grund musste ich mich nicht zum Schwur durchringen, dass ich von nun an keinen Tropfen Alkohol mehr zu mir nehmen würde. Nein, ich leistete ihn mit dem Gefühl der Erlösung. Jetzt musste nur noch Janine von ihrem Irrweg abgebracht werden. Auch wenn dies bisher nicht angewandte Methoden erforderte. Unmoralische Methoden.

      Und dann war da Kim. Es fiel mir schwer, mich zu erinnern, wann ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. War es am Vorabend gewesen? Hatte er sich zu uns gesellt? Oder war dieses Bild, das ich von ihm hatte, auf dem er sich neben uns im Schneidersitz niederlässt und Reisschnaps kippt wie ein Alkoholiker Klosterfrau Melissengeist, nur eine Art Blaupause, die ich auf jeden Abend legen konnte, ohne ihn maßgeblich zu verfälschen? Es konnte auch durchaus sein, dass er seit zwei Wochen nicht mehr mit uns gesprochen hatte. Ich verwarf den Gedanken; all dies spielte keine Rolle. In meinem Kopf schlug ein winziger tibetischer Mönch wie wild mit einem Hammer gegen die Schädeldecke wie gegen einen Gong, so als wollte er mich daran erinnern, dass ich ein ernsthaftes Wort mit Kim sprechen musste.

      Nach circa einer halben Stunde setzte ich mich, noch immer in den Vorhang eingewickelt, vor meine Hütte und ließ die Sonne mein Gesicht kitzeln. Ich döste sogar noch einmal ein, bis mich schließlich die Warmluft weckte, die sich unter dem Stoff angestaut hatte. Es kostete mich einige Überwindung, mich zu duschen, wie jeden Morgen. Ich konnte mich einfach nicht an das zwei Grad warme Wasser gewöhnen, das meine Haut wie fallende Eiszapfen zu durchbohren schien. Immerhin war ich danach hellwach und tatendurstig.

      Ich ging hinunter in den Ort und ließ mir im Café ein Frühstück zubereiten. Weng, der junge Kellner, begrüßte mich routiniert und stellte ein gefülltes Schnapsglas vor mich hin, noch bevor er einen Saft und einen Becher vergorene Yakmilch brachte. Ich widerstand der Versuchung und schob den Schnaps von mir weg. Als Weng wiederkam, sah er mich mit schief gelegtem Haupt und ungläubigen Augen an, und fragte mich, ob es mir gut gehe. Ich sagte, alles sei gut, aber heute wolle ich keinen Schnaps. Mit missfälligem Grunzen nahm er das Glas und stürzte es.

      Die Yakmilch war ohne vorherigen Schnapskonsum kaum herunterzubringen, ich zwang sie am Schluckmuskel vorbei und goss sie mit Saft die Speiseröhre hinab. Dann aß ich mein Porridge und bezahlte. Als ich schon auf der Straße stand, besann ich mich und ging noch einmal zurück zu Weng. Auf meine Frage, ob er Janine gesehen habe, sagte er, sie sei kurz nach dem morgendlichen Öffnen aufgekreuzt und habe zwei Schnaps getrunken. Dann sei sie mit seltsam abgedrehtem Blick hinausgegangen, habe eine Weile auf der Straße gestanden und sei in Zeitlupe auf jenem Weg davongegangen. Weng zeigte in Richtung ihrer Wohnung.

      Die irrlichternde Janine. In mir wogte der Kampf zwischen dem Alkoholteufel und dem Abstinenzengel. Der Engel gewann durch unwiderstehliche Versprechungen: Alles würde gut werden. Ich würde mein Buch schreiben, meine Million einkassieren, Beate wiedersehen. Und zur Feier all dessen würde ich einen Bourbon trinken und einen Eid ablegen, dass nie wieder ein Tropfen Reisschnaps meine Lippen passieren würde.

      Ich war der ungeliebte Missionar, der einem Alkoholiker den Schluckdämon austreibt und ihm die heilige Schrift der Entsagung bringt. Und so konnte ich mir gut vorstellen, dass ich, ähnlich einem jesuitischen Bekehrer bei den gottlosen Buddhamenschen der tibetischen Hochebene, bei Janine auf Ohren stoßen würde, die mit dem Schmalz des Glaubenseifers versiegelt waren. Ähnlich wie solch ein waghalsiger Diener des Herrn lief ich Gefahr, einen Märtyrertod zu sterben. Zumindest würde sie ihrerseits versuchen, ihren Heidenkult um das Feuerwasser einem abgefallenen Sünder wieder näher zu bringen.

      Genau so war es. Ich klopfte an ihrer Tür. Ich klopfte und klopfte. Niemand öffnete mir. Also wartete ich eine Stunde, auf dem Boden des Hausflurs. Noch eine Stunde. Schließlich hörte ich, wie der Riegel zurückgeschoben und das Schloss herumgedreht wurde. Sie erschrak, als sie mich so vor sich sitzen sah. Ihre Augen waren mit einem Film überzogen, der ihr den Anschein von Entrückung verlieh, aber ihre Bewegungen waren zielstrebig. Ohne mich auf den Vorabend anzusprechen, sagte sie: „Komm, wir gehen was trinken.“ Ihr Atem war eine Mischung aus Zahnpastageruch und dem ätzenden Odem von Gebranntem.

      „Ich gehe nichts trinken. Und du auch nicht“, sagte ich, stand auf und klopfte den Schmutz von meiner Hose.

      „Was?“ Sie tat so, als hätte sie mich akustisch nicht verstanden.

      „Du hast schon richtig gehört.“

      „Was ist denn mit dir los?“ Sie sah mich verärgert an.

      „Das muss alles aufhören, Janine.“

      Wegwerfend wischte sie mit der Hand durch die Luft. „Ich weiß, was aufhören muss. Du musst aufhören, so prüde zu sein. Du musst aufhören, deine Natur zu verleugnen.“

      „Ach was. Unsinn. Wir dürfen nichts mehr trinken. Gar nichts. Nicht einmal einen Schluck. Das macht uns alle noch verrückt. Wenn du wieder bei Besinnung bist, hört vielleicht auch deine fixe Idee auf, dass ich mit dir schlafen soll.“

      „Das ist keine fixe Idee, Philipp. Das ist mein größter Wunsch. Du bist... du bist... du bist sexy. Ja, du bist attraktiv!“ Sie machte einen Schmollmund.

      „Ich bin vor allem verheiratet. Und ich möchte jetzt endlich meine Arbeit machen.“

      „Arbeit? Was soll denn deine Arbeit sein?“

      Ich stockte. War ich mit zu viel herausgerückt? „Das sage ich dir, wenn du aufgehört hast, diesen Müll in dich rein zu kippen.“

      Sie verlor den Halt und stützte sich an der Wand ab. „Das ist kein Müll. Das ist ein Lebenselixier. Ja, das ist es!“

      „Hast du noch davon?“

      „Ja, klar. Du kannst gleich ein Glas haben, wenn du willst...“

      „Wo?“

      „Auf der Anrichte. Es ist meine letzte Flasche, deswegen...“

      Ich stürzte an ihr vorbei durch die Türe und hörte sie sogleich in meinem Rücken das Wettrennen mit mir aufnehmen. Doch ich war nüchterner und deshalb schneller. Ich packte die Flasche am Hals, sprang damit zum Fenster, das ich aufriss, und kippte den Inhalt auf die Straße. Unten hörte ich Überraschungsrufe.

      Janine ergriff meinen Unterarm, und für eine Weile wogte der Kampf um den letzten Schluck, der sich noch in der Flasche befand. Dann ließ ich die Flasche los und blickte in fassungslose Augen. Sie löste den Griff um meinen Arm und scheuerte mir mit der freigewordenen Hand eine. Ich konnte mir ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen. „Du Arsch!“, keifte sie.

      „Damit ist jetzt Schluss“, bekräftigte ich noch einmal.

      Unten hatte sich die Überraschung in Aufregung verwandelt.

      Janine sah besorgt hinunter. „Sieh mal, was du getan hast!“

      „Ist mir schnurz. Ich habe gemacht, was ich machen musste.“

      Sie wandte die aufgerissenen Augen nicht von der Straße ab. Bedenklich runzelte sie die Stirn. „Wie sollen wir so noch auf die Straße gehen?“

      „Wir gehen nicht auf die Straße. Du bleibst jetzt hier, bis du nüchtern bist.“

      Meine Worte beeindruckten sie weiterhin nicht. Immer noch blickte sie wie gebannt hinunter.

      Allmählich glaubte auch ich, dass mein Flaschenwurf ernsthafte Folgen gezeitigt hatte. Beklemmung beschlich mich, noch bevor ich den Kopf aus dem Fenster steckte. Doch als ich schließlich hinuntersah, musste ich vor Erleichterung beinahe auflachen. Unten hatte sich eine Menschentraube gebildet, genauer gesagt, die